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VORWÄRTS/873: Wirtschaftsnachrichten - Zwischen Kristallkugel und Ratlosigkeit


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.43/44 vom 23. November 2012

Zwischen Kristallkugel und Ratlosigkeit

Von Thomas Schwendener



In den hiesigen Wirtschaftsnachrichten geht einiges durcheinander. Kaum eine Prognose, die länger als ein paar Wochen der Realität standhält. Kaum Faktenauslegungen, deren Gegenteil nicht auch irgendwie richtig wäre. Doch woran liegen die unterschiedlichen Einschätzungen und Analysen?


Es ist eine Krux mit der Krise: Der nationale Wirtschaftsstandort und seine Vor- und Nachdenker pendeln permanent zwischen zweckgerichteter Zuversicht und dunklem Realitätssinn. Die Bandbreite der medialen Analysen erstreckt sich ins beinahe Beliebige: Nicht nur Prognosen missraten, selbst mit Fakten wird höchst originell umgegangen. Am 18. Oktober titelte der "Tagi": "Schweizer Stellenmarkt trotzt europäischer Krise" und rechnete vor, dass ständig neue Arbeitsplätze geschaffen werden und alles wunderbar funktioniere. Keine zwei Wochen darauf wusste es die NZZ besser und erklärte im Wirtschaftsteil: "Die Arbeitslosenzahlen weisen seit Mitte 2011 eine leicht steigende Tendenz auf, und in den vergangenen Monaten wurden auch weniger offene Stellen registriert". Anfang November dann der grosse Paukenschlag in der Sonntagszeitung: "Die angekündigten Abbaupläne sind nur der Anfang - Arbeitsämter registrieren viele Anfragen zu Massenentlassungen". Alleine im Oktober seien 5000 Stellen in der Schweiz gestrichen worden. Die Interpretation des Verlaufs der Arbeitslosigkeit ist nur ein Beispiel unter vielen. Was JournalistInnen und ExpertInnen zu wirtschaftlichen Entwicklungen zu Papier bringen, zeigt in grösster Klarheit, dass da vor allem eines produziert wird: Ideologie.


Journalistische Objektivität

Es gibt in der Medienwelt ein vielbeschworenes und hoch angesehenes Credo: Objektivität. Das mag bei einem Auffahrunfall nicht allzu schwierig sein. Man interviewt die Involvierten, lässt alle ein bisschen zu Wort kommen, zitiert aus dem Polizeiprotokoll und schiesst ein paar Fotos. Doch wo die Fakten komplexer und die Zusammenhänge undurchsichtiger werden, da wird die viel gepriesene Objektivität - die in gesellschaftlichen Belangen ohnehin die Objektivität des Bestehenden ist - immer wackliger. Die Einordnung der Fakten wird zur Auslegungssache und vom Schein der bürgerlichen Gesellschaft lässt man sich gerne in jene Irre führen, die man ohnehin politisch bevorzugt. Das führt häufig dazu, dass sich jeder nach seinem Gusto eine Tendenz zusammenbastelt, zu der er nur noch die passenden Fakten in der verzwickten Realität suchen muss. Die KeynesianerInnen werden ebenso Zahlen für ihre hoffnungslose Idee der Nachfrageinduktion finden wie die Neoliberalen Argumentationshilfen für ihre Vorstellungen in irgendeiner Statistik aufspüren können. So offenherzig wie der Nachfrageapostel Philipp Löpfe oder der Freie-Markt-Fetischist Roger Köppel muss man dabei nicht vorgehen. Es reicht, wenn man durch eine bestimmte Schule gegangen ist, um die Fakten entsprechend auszulegen und auf die richtigen Statistiken zurückzugreifen.


An der bunten Oberfläche

Die verschiedenen Ideologie-Fraktionen profitieren nicht nur vom schlechten Gedächtnis des bürgerlichen Subjekts, ihre Fehlschlüsse werden auch durch die Erscheinung der wirtschaftlichen Entwicklung gedeckt. Die Krise zeigt eben nicht einfach stetig nach unten, sondern ist Wellenbewegungen unterworfen und hat ihre Gestalt immer wieder verändert. So erscheint an der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft nicht nur alles verkehrt, es schillert auch noch in allen möglichen Farben. Davon kann man sich dann je nach Bedarf bedienen. Eine Kristallkugel könnte uns ebenso zuverlässig Auskunft über die weitere Entwicklung geben wie die mit allerhand Fakten abgestützten Prognosen der verschiedenen ExpertInnen. Wahrscheinlich ist man besser bedient, wenn man auf jene Theoriebaustelle zurückgreift, die uns Marx Mitte des 19. Jahrhunderts hinterlassen hat, der immerhin die Wiederkehr der Krisen vorausgesagt hat. Auch jene Theorie ist nicht unfehlbar, aber sie ist die einzige, die das aktuelle Schlamassel als Krise der kapitalistischen Akkumulation fassbar macht und sich nicht in der schieren Unendlichkeit der Oberflächenerscheinungen verliert.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 43/44/2012 - 68. Jahrgang - 23. November 2012, S. 4
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Dezember 2012