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VORWÄRTS/888: "Sie waren nie weg, wir auch nicht"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.01/02 vom 25. Januar 2013

"Sie waren nie weg, wir auch nicht"

Von Thomas Zapf



Kurz vor dem 19. Jahrestag des bewaffneten Aufstands der "Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiungsbewegung (EZLN) am Neujahrstag 1994 im südmexikanischen Chiapas hat sich die rebellische Bewegung am 30. Dezember 2012 mit einem Kommuniqué zurückgemeldet. Wenige Tage zuvor hatte die Bewegung eindrucksvoll fünf Kreisstädte in Chiapas "eingenommen."


In der Mitteilung, die vom Sprecher und militärischen Chef, Subcomandante Insurgente Marcos, im Namen des Geheimen Revolutionären Indigenen Komitees der EZLN unterzeichnet ist, bekräftigt diese ihre Distanz zu den politischen Institutionen und Parteien Mexikos. In Bezug auf die seit dem 1. Dezember 2012 erneut regierende Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) heisst es im Kommuniqué "dass wenn sie nie weg waren, waren wir es auch nie." Zudem erklärt die Bewegung, Kontakt zu anderen sozialen Bewegungen des Landes aufnehmen zu wollen, und kündigt die Bekanntgabe von zivilen, gewaltfreien Initiativen für die nächsten Tage an.

In dem Schreiben, das als jüngste Verortung der ZapatistInnen in der aktuellen politischen Konstellation in Mexiko verstanden werden kann, bestätigen sie ihre Zugehörigkeit zum "Nationalen Indigenen Kongress" (CNI), den sie 1996 mit ins Leben gerufen hatte, und dem verschiedene indigene Organisationen aus ganz Mexiko angehören. Des weiteren wollen sie sich wieder mit den AnhängerInnen der "Sechsten Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald" in Mexiko und weltweit verbinden. Die "Sexta", wie sie unter den SympathisantInnen der Zapatistas genannt wird, war die bisher letzte "Grundsatzerklärung" der EZLN, mit der sie sich erstmals explizit antikapitalistisch positionierte und mit der sie dazu aufrief, eine neue Verfassung für Mexiko zu erarbeiten.


Der grösste Aufmarsch der EZLN

Erst am 21. Dezember 2012 hatten sich die ZapatistInnen eindrucksvoll der mexikanischen Öffentlichkeit in Erinnerung gerufen. Die in den letzten Jahren von den Medien totgesagte Bewegung hatte an jenem Tag fünf Kreisstädte in Chiapas mit Schweigemärschen "eingenommen", an denen laut mexikanischen Medienberichten um die 40.000 ZapatistInnen beteiligt waren. Dabei handelte es sich um den grössten Aufmarsch der EZLN seit dem Aufstand vom 1. Januar 1994, diesmal jedoch ohne Waffen, nur mit den "pasamontañas" genannten Skimasken, die sie weltweit berühmt gemacht haben.

Sowohl die mexikanische Bundesregierung als auch die chiapanekische Landesregierung reagierten in der Presse auf den zapatistischen Schweigemarsch. Der mexikanische Innenminister Miguel Osorio Chong (PRI) bat die ZapatistInnen am 24. Dezember um Geduld: "Ihr kennt uns noch nicht, seid nicht voreilig. (...) Präsident Peña Nieto kennt die Probleme der indigenen Bevölkerung des Landes und fühlt sich ihnen verpflichtet". Der Gouverneur von Chiapas, Manuel Velasco Coello, liess mitteilen, die Polizei kaserniert zu haben, um einen reibungslosen Ablauf der Mobilisierung zu ermöglichen. Er forderte zudem in einer späteren Mitteilung die mexikanische Bundesregierung und das Bundesparlament dazu auf, sich der Forderungen der rebellischen Bewegung anzunehmen und "realistische Vorschläge" zur Lösung des Konflikts zu machen und diesen auch "Taten folgen zu lassen".

Auch die Gemeinsame Kommission aus Senat und Abgeordnetenhaus meldete sich zu Wort. Verschiedene Mitglieder des parlamentarischen Gremiums erklärten, es sei notwendig, den Dialog mit den ZapatistInnen zu suchen und die Abkommen von San Andrés umzusetzen. Diese 1996 zwischen der EZLN und der mexikanischen Bundesregierung geschlossene Vereinbarung sieht die Anerkennung der Rechte und Kultur der indigenen Bevölkerung Mexikos in der Verfassung vor, wurde jedoch von der Regierung nicht wie vereinbart umgesetzt. Die ZapatistInnen begannen nach der 2001 verabschiedeten, stark verwässerten Verfassungsreform, die sie als "Verrat" bezeichneten, mit dem Aufbau eigener regionaler Autonomiestrukturen in Form von fünf Regionalregierungen, ohne auf eine gesetzliche Grundlage zu warten.


"Wir kennen euch nicht?"

Neben dem Kommuniqué wurden am 30. Dezember auch zwei offene Briefe veröffentlicht, die von Marcos unterzeichnet wurden. Der eine mit dem rhetorischen Titel "Wir kennen euch nicht?", ohne Adressat, ist eine Antwort auf die erwähnten Erklärungen des Innenministers. In diesem führt er verschiedene Details der Lebensläufe von mehreren aktuellen Regierungsfunktionären, einschliesslich des Präsidenten an, die entweder mit deren Verantwortung in früheren Ämtern bei Repressionen gegen soziale Bewegungen oder mit möglichen Verbindungen zur Organisierten Kriminalität zu tun haben. In einem der vier Postdata des Briefes gibt Marcos eine ironische Entschuldigung seines von früheren Texten bereits bekannten spitzen Schreibstils: "Oh, ich weiss, Ihr habt etwas Seriöseres und Formelleres erwartet. Aber ist der Stil und Ton dieses Schreibens nicht ein besseres 'Lebenszeichen' als ein Foto oder Video oder gar die Unterschrift?" Der zweite Brief ist an Luis H. Álvarez gerichtet, der unter anderem unter Präsident Felipe Calderón (2006-2012) der "Nationalen Kommission für die Entwicklung der Indigenen Völker" vorstand. Auf den 21. Dezember verweisend, erklärt Marcos, dass die Schwächung der EZLN durch den "Kauf" von ZapatistInnen seitens der Regierung gescheitert sei. Und stellt, Kontakt zwischen der Regierung und den RebellInnen dementierend, fest: "Die einzige Annäherung, die Ihre Regierung mit 'VertreterInnen und AnführerInnen der EZLN' hatte, geschah durch ihre Armee, Polizei, RichterInnen und Paramilitärs."


Alles andere als tot

Die Schweigemärsche der EZLN vom 21. Dezember machen deutlich, dass die Bewegung auch 19 Jahre nach dem Aufstand noch eine beeindruckende Stärke und Mobilisierungsfähigkeit hat. 2012 hatten die fünf zapatistischen regionalen "Räte der Guten Regierung" so viele Beschwerden wie schon seit Jahren nicht mehr veröffentlicht. Die Mehrheit der Konflikte, meist mit AnhängerInnen politischer Parteien oder anderen Organisationen, drehte sich um Land, die wichtigste Ressource der zum Grossteil von Subsistenzwirtschaft lebenden kleinbäuerlichen, indigenen Bevölkerung von Chiapas. Für Beunruhigung unter lokalen Menschenrechtsorganisationen sorgte die ansteigende Gewalt in diesen Konflikten und die Tatsache, dass die chiapanekische Regierung entweder tatenlos zusah oder die Aggressoren schützte, wie im Fall der Neuen Siedlung "Comandante Abel" im Norden von Chiapas. Dass mit den ZapatistInnen aber weiterhin zu rechnen ist, machten die Demonstrationen vom 21. Dezember sowie die kürzlich erschienenen Wortmeldungen deutlich.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 01/02/2013 - 69. Jahrgang - 25. Januar 2013, S. 7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Januar 2013