Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

VORWÄRTS/893: "Eine schreckliche Alltäglichkeit"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 03/04 vom 1. Februar 2013

"Eine schreckliche Alltäglichkeit"



Redaktion. Wer von Afrika nach Europa flüchten will, landet oft auf Lampedusa, der kleinen, italienischen Insel im Mittelmeer. Ein Interview mit Giuseppina Maria Nicolini, Bürgermeisterin von Lampedusa. Das Interview wurde kurz nachdem das Meer 80 Leichen von Kindern, Frauen und Männern ans Land gespült hatte, durchgeführt.


Frage: Wären irgendwo anders in Italien, unter anderen Umständen, nicht an die achtzig sondern acht Menschen gestorben, wüsste das Land Trauer und Verzweiflung in Szene zu setzen. Diese Tode scheinen jedoch fast nichts zu zählen.

Giuseppina Maria Nicolini: Ja, es ist wahr, die Toten im Meer sieht man nicht. Es gibt keine Sargreihen, um die Toten zu beklagen. Italien ist mittlerweile ein übles Land, geprägt von Jahren einer falschen Politik, nicht nur gegenüber den AfrikanerInnen. Es herrscht ein Gefühl des Argwohns gegen alle Menschen, die wie auch immer als anders empfunden werden, gegen die Homosexuellen, gegen die Roma... Ich glaube, dass all diese Jahre der Rhetorik der "Lega Nord" (rechtspopulistische, rassistische Partei) schwer wiegen. Dies auf politischer und auch auf kultureller Ebene, doch die Verantwortung trägt nicht nur die "Lega)).

Frage: Sie sagen, dass sich die Situation auf der Insel betreffend der Aufnahme der Flüchtlinge sehr verbessert hat. Wie ist das zu verstehen?

Giuseppina Maria Nicolini: Im Jahr 2011, einem schrecklichen Jahr, war die Verzweiflung auf der Insel enorm. Die Regierung von Berlusconi war drauf und dran, aus Lampedusa ein Konzentrationslager unter freiem Himmel zu machen. Jetzt werden die Zeiten der Umsiedlungen im Aufnahmezentrum respektiert, sie betragen bekanntlich nicht mehr als 96 Stunden. Die MigrantInnen sind gut begleitet. Aber der Punkt ist, dass die Politik der Ausweisungen von der Zerstörung des Aufnahmenetzes im ganzen Land begleitet wurde. Und meiner Meinung nach sind "Cie" (Zentren zur Identifizierung und Ausschaffung) verfassungswidrig.

Frage: Dauern die Schifflandungen an?

Giuseppina Maria Nicolini: Die Schifflandungen gab es schon immer. Es kommen kleine Gruppen an. Man spricht weniger davon, weil die Aufnahme funktioniert und es macht keine Schlagzeilen. Lampedusa wird bis in die Ewigkeit mit diesem Typ von Durchgang zusammenleben. Wir müssen uns deshalb ausrüsten, solidarisch zu sein und zusammen das zarte Gleichgewicht unserer kleinen Gemeinschaft gewährleisten. Wir auf Lampedusa sind schon immer solidarisch gewesen. Oft stehen die Menschen hier unverhofft morgens früh um fünf auf, Fischer, Taucher, einfache BürgerInnen, und nehmen die Boote, um den MigrantInnen zu Hilfe zu eilen.

Frage: Was für Spuren hinterlässt dieser wiederholte vom Meer her kommende Tod?

Giuseppina Maria Nicolini: Schwere. Das Meer, welches das Leben eines menschlichen Wesens verschlingt, der Schiffbruch, sind Universalkonzepte, die Zeichen im Herzen hinterlassen.

Frage: Jedoch sind diese keine natürlichen Tode. Diese Massaker werden provoziert von der kriminellen Politik des Schengen-Europas.

Giuseppina Maria Nicolini: Die Verantwortung ist diejenige Europas, welches Afrika die Türen verschliesst. Mit dem Aufziehen von Mauern sind diese Toten nicht zu vermeiden, es geschieht genau das Gegenteil! Wir kommen aus dieser Situation nicht ohne einen radikalen Wechsel der Migrationspolitik raus. Wir dürfen nicht fortfahren, die Augen vor dieser schrecklichen Alltäglichkeit zu verschliessen.

Frage: Die Touristen sehen die MigrantInnen nicht. Aber in der Nähe des Hafens liegt ein "Friedhof" der schiffbrüchigen Boote. Ein beeindruckendes "Bild". Wieso nicht eine Art "Mahnmal" daraus machen? Einige Minuten der Besinnung beenden den Urlaub der TouristInnen sicherlich nicht.

Giuseppina Maria Nicolini: Daran habe ich gedacht. Diese kaputten Boote erzählen fürchterliche Geschichten. Etwas in diese Richtung zu tun, haben wir im Kopf.



Quelle: www.ilmanifesto.ch
Übersetzung auf deutsch: Mischa Müller

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 03/04/2013 - 69. Jahrgang - 1. Februar 2013 , S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Februar 2013