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VORWÄRTS/918: "Die Patrons haben den 'sozialen Frieden' schon lange aufgegeben"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.15/16 vom 26. April 2013

"Die Patrons haben den 'sozialen Frieden' schon lange aufgegeben"

Von Maurizio Coppola



Soziale Auseinandersetzungen und Kämpfe haben sich in den letzten fünf Jahren in den Krankenhäusern der Schweiz gehäuft. Meist ging es um die Verteidigung der Arbeits- und Lohnbedingungen. Inwiefern diese Kämpfe über die unmittelbaren Forderungen hinausweisen, haben wir David Andenmatten vom Universitätskrankenhaus Genf gefragt.


vorwärts: Ende 2011 haben vier Berufsgruppen des Universitätskrankenhauses in Genf (HUG) gestreikt. Was waren die Gründe für diese Streiks?

David Andenmatten: Die Beschäftigten des Patiententransports, die PflegerInnen, das Reinigungspersonal und die TechnikerInnen biomedizinischer Analysen fühlten sich von der Kantonsregierung und von der Direktion des Krankenhauses gering geschätzt. Sie forderten, dass ihre Berufe durch eine Neupositionierung in den Lohnklassen aufgewertet und anerkannt werden, nachdem dies viele Jahre nicht mehr geschehen war. Aber die Antwort war stets negativ und die Missachtung eindeutig. Gleichzeitig wurden aber von der Rechten Lohnerhöhungen für die hohen Kaderstellen gesprochen. Die Beschäftigten glaubten nicht mehr an "friedliche" Forderungen, so wurden die Streiks eingeleitet, um die legitimen Ansprüche der Beschäftigten geltend zu machen.


vorwärts: Die Streiks in den Krankenhäusern haben sich in den letzten Jahren intensiviert. Im Universitätskrankenhaus Lausanne (CHUV), bei der Providence in Neuchâtel oder im Kantonskrankenhaus in Fribourg wurden Konflikte manifest. Haben wir es mit einem neuen Zyklus von Arbeitskämpfen im Krankenhaussektor zu tun?

David Andenmatten: Diese Streiks waren entweder offensiv, wie die beim HUG, eine Folge verlängerter Geringschätzung der unterschiedlichen Berufsgruppen oder dann defensiv im Sinne einer Reaktion auf die gewaltigen Angriffe auf die Arbeitsbedingungen des Krankenhauspersonals. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Streiks als neuer Kampfzyklus im Krankenhaussektor bezeichnet werden können. Sie stellen vielmehr eine Antwort auf die gewaltigen Angriffe im Sektor dar.


vorwärts: Wie sind die Kämpfe verbunden? Gibt es mehr oder weniger permanente Strukturen, die die Beschäftigten der unterschiedlichen Krankenhäuser verbinden?

David Andenmatten: Die Kämpfe beeinflussen sich gegenseitig, aber leider sind sie nicht weiter miteinander verbunden. Es gibt gegenseitige Unterstützung und Solidarität, aber zum jetzigen Zeitpunkt kann nicht von permanenten Strukturen zwischen den unterschiedlichen gewerkschaftlichen Gruppen gesprochen werden, auch wenn einige zur gleichen Gewerkschaft, nämlich dem Verein des Personals des öffentlichen Dienstes (VPOD), gehören, der in allen Krankenhäusern anwesend ist.


vorwärts: Welche Rolle spielen die Gewerkschaften in der Selbstorganisation der Beschäftigten im Krankenhaus in Genf?

David Andenmatten: Die Rolle der Gewerkschaften ist zentral. Ohne die Gewerkschaften organisieren sich die Beschäftigten nicht von alleine, weil die Unterdrückung, der alltägliche Druck und die ständigen Drohungen massiv sind. Ohne ein minimales Vertrauen, die Kämpfe auch tatsächlich gewinnen zu können, würden die Beschäftigten nicht in solch harte Auseinandersetzungen ziehen. Zur Erinnerung: Im Krankenhaus in Genf hat der Streik des Reinigungspersonals 29 Tage, derjenige des technisch-biomedizinischen Personals 35 Tage gedauert.


vorwärts: Kann man von einem "neuen Subjekt" sprechen, das in und durch diese Kämpfe erscheint, das heisst einer Fraktion der ArbeiterInnenklasse, die nicht dem klassischen Arbeiter der Fabriken entspricht, sondern Merkmale aufweist, die bis heute ignoriert wurden oder unbekannt bleiben?

David Andenmatten: Da bin ich mir nicht sicher. Angesichts der Angriffe und der Bestrebungen der Rechten, die öffentliche Gesundheit zu privatisieren, haben solche Kämpfe meist defensiven Charakter. Es geht um den Erhalt der öffentlichen Gesundheit und um die Arbeitsbedingungen, die ständig degradieren. In diesem Sinne gleichen diese Kämpfe denjenigen, die etwa auch in Frankreich, Spanien oder Portugal geführt wurden. Doch sie gehen - bis jetzt - nicht darüber hinaus.


vorwärts: Was kann man aus diesen Kämpfen für die Klassenkämpfe in der Schweiz lernen?

David Andenmatten: Die Patrons haben den "sozialen Frieden" schon lange aufgegeben. Sie führen einen Kampf, um neue Profitbereiche zu erobern, und dieser Kampf wird immer gewalttätiger. Der Gesundheitsbereich erscheint in der Perspektive der Patrons einzig und allein als ein zu rentabilisierender Sektor. Es ist genau diese Gewalt der Patrons, die zur Reaktion der Lohnabhängigen führt. Es besteht also die Möglichkeit, dass das Klassenbewusstsein aller Beschäftigten in diesen Kämpfen "geweckt" wird.


vorwärts: Welche Bilanz ziehst du aus den Erfahrungen dieser Streiks?

David Andenmatten: Im Grossen und Ganzen können wir eine positive Bilanz aus den Streiks ziehen. Die Streiks waren ein ausgezeichneter Moment des Kampfes, der die Beschäftigten aufgerüttelt hat. Aus den Kämpfen sind betriebliche AktivistInnen hervorgekommen und die gewerkschaftliche Organisation der Beschäftigten im Betrieb konnte verbessert werden. Trotzdem gibt es weiterhin Aspekte, die weniger positiv sind. Diese müssen analysiert werden, um daraus zu lernen. Denn auch die Patrons haben aus den Kämpfen gelernt. Heute führen sie eine harte Politik der Spaltung der Belegschaft. Für die zukünftigen Mobilisierungen müssen wir diese Strategien identifizieren und ihnen etwas entgegnen können.


vorwärts: Was sind die Perspektiven der Beschäftigten des HUG, sowohl auf der beruflichen Ebene wie auch auf der Ebene des sozialen Konflikts und der möglichen Kämpfe in der Zukunft?

David Andenmatten: Angesichts der patronalen Offensiven gegen die öffentliche Gesundheit sind die Perspektiven für das Gesundheitspersonal nicht sehr gut. Die Angriffe zielen auf die Löhne und die Arbeitsbedingungen. Dies hat negative Folgen für die Qualität der Leistungen. Zudem erkennen wir eine starke Tendenz zur Privatisierung der Krankenhäuser und zur Entwicklung einer "Kaste" hoher Kader mit überdimensionaler Macht. Das Verhältnis von Kadern und Beschäftigten ist zum Beispiel im HUG eins zu drei. Die Auswüchse sind eindeutig. Die Beschäftigten sind also hohem Druck ausgesetzt, sie müssen stets in Alarmbereitschaft stehen und bereit sein, sich zu verteidigen. Der soziale Konflikt wird sich in Zukunft zuspitzen. Die Wahrscheinlichkeit neuer Kämpfe ist also sehr gross.


David Andenmatten ist Angestellter am Hug, hat im Oktober 2011 35 Tage gestreikt und ist Mitglied und Vizepräsident des VPOD Region Genf.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 15/16 - 69. Jahrgang - 26. April 2013, S. 11
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Mai 2013