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VORWÄRTS/1035: Wankende Festung Europa


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.27/28 vom 18. Juli 2014

Wankende Festung Europa

Von Michi Stegmaier



Die Festung Europa wankt. Italien setzt im Umgang mit der Europäischen Union auf staatlichen Ungehorsam. Die Lust Nordafrikas, weiterhin Hilfspolizist für den reichen Norden zu spielen, schwindet und nach der ukrainischen Revolution sieht es auch für das Bollwerk im Osten nicht rosig aus.


Zwischen 2007 und 2013 hat die Europäische Union fast zweieinhalb Milliarden Franken für den Bau von Zäunen, hochentwickelten Überwachungssystemen und Grenzkontrollen ausgegeben. Im Gegensatz dazu wurden nur 850 Millionen Franken bereitgestellt, um die Situation von Flüchtlingen zu verbessern. Und das, obwohl seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie so viele Menschen auf der Flucht waren wie aktuell. Kaum ein Tag vergeht, an dem die Medien nicht über Protestaktionen von Flüchtlingen berichten: Seien es der tagtägliche Grenzsturm auf die beiden spanischen Enklaven in Marokko oder Mütter, die mit Selbstmord drohen, um ihre Kinder vor einer Ausschaffung zu schützen. Und während die westlichen Regierungen überfordert sind und fürchten, für jedes Lippenbekenntnis zu etwas mehr Menschlichkeit spätestens bei der nächsten Wahl vom eigenen "Volk" abgestraft zu werden, wächst die Entschlossenheit der Flüchtlinge, sich ein würdevolles Leben zu erkämpfen.


Repressive Wohlstandssicherung

Für Europa ist die Grenzsicherung essentieller als die Rettung von Leben. In die Abschottungspolitik und die Sicherung der Aussengrenzen investiert die EU Milliarden von Franken. Ein aktuelles Beispiel ist der zwanzig Kilometer lange Stacheldrahtzaun zwischen Bulgarien und der Türkei, der im Auftrag von Frontex auch von Schweizer GrenzwächterInnen gesichert wird. Im von Amnesty International am 7. Juli 2014 veröffentlichten Bericht "Festung Europa auf Kosten der Menschlichkeit" geisselt die Menschenrechtsorganisation in ungewohnt scharfen Worten die europäische Migrationspolitik. "Die EU-Regierungen bezahlen die Nachbarländer dafür, dass sie die EU-Aussengrenzen für sie bewachen. Das Problem ist aber, dass in vielen dieser Transitländer Menschenrechte verletzt werden, besonders jene von MigrantInnen und Flüchtlingen", so John Dalhuisen, der bei Amnesty International zuständige Programmleiter für Europa und Zentralasien. Flüchtlinge und MigrantInnen, die es dennoch bis nach Europa schaffen, riskieren sogenannte Push-Backs, das heisst, sie werden einfach zurückgebracht, oft unter Anwendung von brachialer Gewalt. Amnesty International hat solche illegalen Praktiken im aktuellen Bericht dokumentiert. Push-Backs verstossen gegen internationales Recht, weil Menschen damit das Recht auf Asyl verweigert wird.


Genug Tote im Mittelmeer

Die Hindernisse der Flüchtlinge auf dem Landweg erscheinen jedoch gering im Vergleich zu den Risiken der Menschen, die in Booten über das Mittelmeer nach Europa kommen. Nach der Tragödie vor Lampedusa am 3. Oktober 2013, bei der 366 Menschen ums Leben kamen, hat Italien das Rettungsprogramm "Operation Mare Nostrum" gestartet. So wurden seit dem Start im Oktober 2013 über 74.000 Menschen gerettet, die in Seenot geraten waren. Und das italienische Innenministerium setzt im Umgang mit der EU auf Ungehorsam, was SVP-Guru Blocher schon seit langem empört und zur Weissglut treibt. So werden Ankommende auf Anweisung des italienischen Innenministeriums nicht mehr registriert, um so eine Identifizierung und Rückschaffung nach Italien zu verhindern. Am Mailänder Bahnhof wurde gar eigens ein Schalter für syrische Bürgerkriegsflüchtlinge eingerichtet, um ihnen bei der Weiterreise in ein anderes Land behilflich zu sein. Chapeau!


Radikale Kehrtwende gefordert

Selbst Amnesty International fordert eine radikale Kehrtwende in der europäischen Flüchtlingspolitik: "Alle Länder Europas, auch die Schweiz, müssen mehr Verantwortung übernehmen. Es müssen gefahrenfreie Fluchtwege nach Europa geschaffen werden, vor allem durch die aktive Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Ausland." Doch die Menschen in Europa haben längst gesprochen. Wohlstandssicherung um jeden Preis, heisst die Parole. Die aktuelle humanitäre Katastrophe ist nicht nur eine Schande für ein Europa, das so gerne von Freiheit und Menschenrechten spricht, sondern ebenso für all jene, die selbst mal in einem Asylverfahren waren, nun schweigen und sich durch Jobs, Bildung und Aufstiegschancen innerhalb eines kapitalistischen Systems korrumpieren lassen. Letztendlich ist es der wohlstandchauvinistische Konsens in unseren Köpfen, auf dem die Festung Europa gebaut ist, denn das Elend der anderen ermöglicht unseren Wohlstand. Sei es durch die Ausbeutung von Menschen, die am Anfang der globalen Produktionskette stehen und nur einen Bruchteil dessen bekommen, was sie durch ihre Arbeit an Mehrwert generieren; oder sei es durch die immer engere Verflechtung und finanzielle Abhängigkeit von Staaten, die auf Blut und Unterdrückung gebaut sind.

Und während die europäische Politik darüber sinniert, wie viel tausend Flüchtlinge der eigenen Bevölkerung zuzumuten sind, haben alleine der Libanon, die Türkei und Jordanien bis jetzt 2,5 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen. Zwar gleicht die Festung Europa immer mehr einem Emmentaler Käse. An den unsichtbaren Mauern und der repressiven Asylpolitik im Innern wird sich trotzdem nichts ändern, weil die extreme Rechte längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, während die emanzipatorische Linke höchstens noch durch ihre utopisch-revolutionären Luftschlösser glänzt und sich lieber in der eigenen Kompromisslosigkeit suhlt, statt sich aufs realpolitisch-widerständische Schlachtfeld zu begeben.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 27/28 - 70. Jahrgang - 18. Juli 2014, S. 1
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juli 2014