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VORWÄRTS/1041: Endstation Calais


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 31/32 vom 19. Sept. 2014

Endstation Calais

Von Michi Stegmaier



In Calais spielt sich eine menschliche Tragödie ab. Hunderte versuchen tagtäglich irgendwie über den Ärmelkanal zu kommen, Rechtsextreme mobilisieren gegen Flüchtlinge, Zeltlager werden geräumt und Grossbritannien schenkt der Hafenstadt die Absperrungen vom NATO-Gipfel.


Mehrere hundert Rechtsextreme des Vereins "Sauvons Calais" (Rettet Calais) demonstrierten am 7. September vor dem Rathaus der französischen Hafenstadt. "Sie verdrecken die Stadt" oder "Werfen wir sie raus", steht auf Transparenten. Schon seit Jahren versuchen in Calais Flüchtlinge ins 30 Kilometer entfernte Dover zu gelangen, wo sie auf Arbeit und Aufnahme hoffen. Seit mehreren Wochen spitzt sich die Situation dramatisch zu. Rund 1000 Flüchtlinge sitzen in Calais fest. Täglich werden es mehr. Es sind vor allem Bürgerkriegsflüchtlinge aus Ostafrika, dem Irak und Afghanistan, die in Calais gestrandet sind, wobei in den letzten Wochen auch immer mehr SyrerInnen angekommen sind. Antirassistische Organisationen und Bürgerinitiativen versuchen die Flüchtlinge zu unterstützen und das Elend zu lindern. Längst gehören die oft jungen Männer zum Stadtbild, viele solidarisieren sich und sind vom Elend berührt. Manchmal werden Flüchtlinge privat aufgenommen. Und nirgendwo zeigen sich die Absurdität und das Scheitern der europäischen Asylpolitik so sehr wie in Calais. "Sie wirken erschöpft und müde, aber nie aggressiv", erzählt der Wirt eines Bistros im französischen Fernsehen. Hierhin kommen die Flüchtlinge, um ihre Handys aufzuladen, um wenigstens so noch Kontakt in die Aussenwelt zu haben, bis eines Tages die Reise mit dem Ziel London weitergeht. "England gewährt den Flüchtlingen Asyl, bildet sie aus und es gibt Arbeit", erzählt Asim, einer der Sprecher der lose organisierten Flüchtlinge. Viele haben schon Verwandte in Grossbritannien, die ihnen bei einem Neuanfang helfen würden. Und alle wollen vor allem eins; weg aus Frankreich. Ein Land mit einer schwierigen Sprache und aggressiver Polizei.

Der "Dschungel" - so nennt sich das grösste Camp, welches für rund 1000 Flüchtlinge derzeit die einzige Bleibe darstellt. Eigentlich ein ehemaliges Fussballfeld sowie ein paar heruntergekommene Fabrikhallen in der Nähe, wo sich die Flüchtlinge notdürftig einquartiert haben. Gerüchte machen die Runde, dass die Flics bald auch den "Dschungel" räumen werden. Bereits am 2. Juli wurde eines der grössten Camps sowie die Essensausgabe, die Ehrenamtliche und karitative Organisationen aufgebaut hatten, im Zentrum von Calais um sechs Uhr morgens von der Gendarmerie "aus hygienischen Gründen" geräumt und über sechshundert Flüchtlinge vorübergehend in Gewahrsam genommen. Ein erster Termin anfangs September für die Räumung des "Dschungels" ist verstrichen.


Recycling und Humanismus auf europäisch

Bereits 2002 wurde die Schliessung des Lagers in Sangatte, zwölf Kilometer von Calais entfernt, veranlasst. Dort hatte das Rote Kreuz eine Notunterkunft eingerichtet, die für 800 Personen vorgesehen war, jedoch am Ende mit fast 2000 Personen belegt war. Seither existieren keine offiziellen Strukturen mehr und es entstehen wilde Lager, welche nicht mehr von Hilfsorganisationen betreut werden, von sanitären Einrichtungen ganz zu schweigen. Oft werden diese Camps nach einer gewissen Zeit von der Gendarmerie wieder gewaltsam geräumt. Und nicht immer ist das Zusammenleben unter den Flüchtlingen friedlich. Im Sommer kam es im "Dschungel" zu wüsten Schlägereien, die landesweit für Schlagzeilen in den französischen Medien sorgten. Vorausgegangen waren Streitigkeiten, welche Nation die besten Standplätze haben kann - für den Front National, der bei den Wahlen im Mai in Calais über 30 Prozent der Stimmen holte, ein gefundenes Fressen.

Vor ein paar Jahren noch hätten die Lastwagenchauffeure oft ein Auge zugedrückt oder nicht so genau kontrolliert, ob sich jemand im oder unter dem LWK versteckt. Heute drohen den Chauffeuren saftige Bussen von 2500 Euro, wenn sie mit einem "Illegalen" an Bord erwischt werden. Früher schafften es jede Nacht etwa zwei Dutzend Flüchtlinge auf eine Fähre und ins gelobte Britannien. Etwa so viele, wie tagtäglich in Calais ankommen. Seit noch mehr Zäune und Überwachungskameras installiert wurden, sind es jedoch nur noch eine Handvoll, denen die Kanalüberquerung gelingt. Nachdem es immer schwieriger wird, den Ärmelkanal zu überqueren und das Gerücht um eine baldige Räumung die Runde machte, entlud sich die Spannung am 6. September, als hundert Flüchtlinge erstmals "en masse" die Zollstation am Hafen überrannten und versuchten, auf eine Fähre zu gelangen.

Pro Woche kommen bis zu zweihundert weitere Flüchtlinge in Calais an. Offizielle Notschlafstellen oder soziale Einrichtungen existieren seit 2002 nicht mehr und sind auch nicht erwünscht. Ein junger Flüchtling aus dem Sudan, der durch die Sahara nach Libyen und von dort weiter nach Lampedusa reiste, erzählt gegenüber Euronews frustriert, wie er an der italienischen Grenze ohne Registrierung quasi durchgewunken wurde, mit dem Ratschlag, es in Grossbritannien zu versuchen. "Dort bekommst Du Unterkunft und Verpflegung", empfahl ihm ein italienischer Carabinieri. Grossbritannien hat unterdessen angekündigt, Frankreich die Absperrung vom NATO-Gipfel in Wales zu schenken, damit diese in Calais zur Bekämpfung der Migration eingesetzt werden könne. Recycling und Humanismus der europäischen Art. Dass genau der Zaun vom NATO-Treffen, wo grosse Reden gegen den Dschihadismus geschwungen wurden, nun gegen die Menschen angewendet wird, die vor eben dieser Barbarei geflohen sind, bewirkt im Europa des Jahres 2014 höchstens noch ein müdes, ironisches Lächeln.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 31/32 - 70. Jahrgang - 19. Sept. 2014, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Oktober 2014