Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

VORWÄRTS/1061: Genf steht still


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 41/42 vom 28. November 2014

Genf steht still

Von Siro Torresan



Die Genfer Regierung will im kantonalen öffentlichen Verkehr 131 Stellen abbauen und dabei 63 Kündigungen aussprechen, um 20 Millionen zu sparen. Die Antwort der Angestellten war ein 24-stündiger Streik, der ein voller Erfolg wurde. Ein Streik, der in einen gesellschaftspolitischen Zusammenhang gestellt werden muss, denn in Genf ist der klassische Klassenkampf von oben im Gange.


Streik! Nichts geht mehr am Mittwoch, 19. November, in Genf. Die Busse und Trams blieben in den Depots. Die rund 1900 Angestellten des öffentlichen Verkehrs des Kanton Genf (Transports publics genevois, TPG) haben ihre Arbeit niedergelegt. Die entschlossen durchgeführte Streikaktion zeigt ihre Wirkung: Genf versinkt zeitweise in einem Verkehrschaos, und die Wochenzeitung der Partei der Arbeit "Gauchebdo" titelt auf der Frontseite ihrer Ausgabe vom 20. November: "Ein voller Erfolg auf der ganzen Linie."

Der 24-stündige Arbeitskampf der TPG-Angestellten ist die richtige Antwort auf den von der Genfer Regierung geplanten Abbau von 131 Stellen, davon 63 durch Entlassungen, die im neuen Leistungsvertrag zwischen dem Kanton und dem TPG festgehalten werden soll. Pikant ist der Grund für diese geplante Abbaumassnahme: Im Mai dieses Jahres hatten die GenferInnen die von der AVIVO lancierte Initiative "Stopp der Preiserhöhung bei den Genfer Öffentlichen Verkehrsmitteln!" mit 53,8 Prozent JA-Stimmen angenommen. Dies führt zum Ausfall von geplanten Mehreinnahmen von 16 Millionen Franken. Dieser Volksentscheid soll nun durch den Stellenabbau und weitere Abstriche im Leistungsvertrag durch die ArbeiterInnen im öffentlichen Verkehr "bezahlt" werden. Eine absurde Auslegung der Demokratie. Doch anscheinend sind nicht nur die Wege Gottes, sondern auch jene der bürgerlichen Demokratie unergründlich.


Das komplette Gegenteil des Volkswillens

Der Stellenabbau zielt völlig an der Realität und den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbei. So schreibt der SEV in seiner Medienmitteilung: "Der Leitplan für den öffentlichen Verkehr rechnet damit, dass die Nachfrage nach ÖV-Angeboten um 7 Prozent steigt, davon allein 3 Prozent bei den TPG." Als "Alternative" hatte der Verwaltungsrat der TPG vorgeschlagen, in den nächsten vier Jahren 100 Stellen durch "natürliche Abgänge" abzubauen und die Löhne einzufrieren. Dazu die Gewerkschaft: "Für die SEV-Sektion TPG kommen vier Jahre Lohnstopp nach bereits zwei Jahren ohne Teuerungsausgleich nicht in Frage, und auch kein Personalabbau. Denn nach SEV-Einschätzung fehlen den TPG zurzeit rund 130 Chauffeure, um die aktuellen Leistungen zu fahren, ohne die vereinbarten Roulements zu verletzen und dem Personal viele Überstunden zuzumuten." Die Arroganz der Genfer Regierung und die Marionettenfunktion des Verwaltungsrats zeigen sich auch deutlich bei einer anderen Sparmassnahme. Die Regierung hat beschlossen (und der Verwaltungsrat hat geschluckt), dass die TPG-Pensionierten ab nächstem Jahr auf den 50-fränkigen Beitrag an ihre monatliche Krankenkassenprämie verzichten sollen, wie auch auf ihr bisheriges Gratis-Abo für das TPG-Netz: Dafür sollen sie künftig 150 Franken bezahlen. Diesen traditionellen Dank an die Pensionierten wollen die TPG nur beibehalten, wenn sich das TPG-Personal mit 0,2 Prozent ihres Lohns daran beteiligen.

Zurück zum Streiktag selber. "Mit der Annahme der Avivo-Initiative haben sich die GenferInnen für eine Verbesserung des öffentlichen Verkehrs entschieden und nicht für den Abbau der Leistungen. Die Regierung macht das komplette Gegenteil des Volkswillens", erklärt Valérie Solano, SEV-Sekretärin, gegenüber "Gauchebdo". Sie fügt hinzu: "Die ArbeiterInnen haben schon genug bezahlt. So wurde mit der Leistungsvereinbarung 2010-2013 der Arbeitsrhythmus erhöht. Das heisst konkret, dass die Kadenz durch den Einsatz von mehr Fahrzeugen gesteigert wurde." Diese Verschlechterung der Arbeitsbedingungen hat einen direkten Einfluss auf die Gesundheit der TPG-Angestellten. "Wir stellen einen markanten Anstieg der krankheitsbedingten Ausfälle fest und zwar als Folge des stark zugenommenen Stresses an der Arbeit", gibt Solano zu Protokoll. Die Ausfälle müssen durch das bestehende Personal kompensiert werden. Dies führt zu Überstunden, eine stärkere Belastung und somit zu erneuten Ausfällen wegen Krankheit. Ein Teufelskreis entsteht, bei dem die ArbeiterInnen die Leidtragenden sind.


Eine Milliarde Steuergeschenke

Im Gegensatz zu den beiden anderen Gewerkschaften Transfair und ASIP, die erst in letzter Sekunde den Streik mitgetragen haben, macht sich die Sektion TPG des SEV keine Illusionen und Hoffnungen, dass der von der Regierung vorgeschlagene Leistungsvertrag Mitte Dezember vom Parlament gekippt wird. Denn dies würde bedeuten, dass die VolksvertreterInnen die 20 Millionen, die im öffentlichen Verkehr eingespart werden sollen, auf einem anderen Weg finden müssten. Möglich wäre es, durchaus: Genf ist ein ziemlich reicher Kanton, verschiedene Multis, die Milliarden von Franken Gewinn verbuchen, haben dort ihren Sitz, gut zehn Prozent der 300 reichsten Personen der Schweiz wohnen im Kanton Genf. Geld ist also vorhanden, mehr als genug sogar. Doch es fehlt am politischen Willen es dort zu nehmen, wo es auch wirklich liegt. Statt die Gewinne und das Grosskapital etwas mehr zu besteuern, schmeisst man lieber 63 Angestellte auf die Strasse und streicht den pensionierten TPG-Angestellten das Gratis-Abo. Aber eben, wie das TPG-Personal schon festgestellt hat, macht das Hoffen auf das Parlament wenig Sinn. Und dies beweist, wie wichtig der Widerstand der Basis ist. Umso mehr, weil der Abbau im öffentlichen Verkehr nur eine der von der Kantonsregierung im Budget 2015 geplanten linearen Kürzungen der finanziellen Mittel in allen Bereichen ist. In den nächsten vier Jahren will die Regierung sogar eine Milliarde Franken sparen. Dies vor allem auch im Hinblick auf die Steuerausfälle, die wegen der geplanten Unternehmenssteuerreform III des Bundes zu erwarten sind. Und spätestens nach dieser Information sollte klar sein, dass der Arbeitskampf in Genf nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern in einen gesellschaftspolitischen Zusammenhang gestellt werden muss. Denn was sich in Genf abspielt, ist der klassische neoliberale Klassenkampf von oben. Der Abbau des Personals und der Leistungen im öffentlichen Dienst erfolgt, um die Gewinne der Unternehmen zu steigern. Zur Erinnerung: Die Unternehmenssteuerreform II spülte den Unternehmen durch Steuereinsparungen gut 10 Milliarden Franken in die Kasse. Vor der Abstimmung behauptete der Bundesrat, die Reform würde zu 84 Millionen Franken Steuerausfälle für den Bund und 850 Millionen Franken für die Kantone führen. Genf ist keine Ausnahme. Wacht auf, Verdammte dieser Erde!

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 41/42 - 70. Jahrgang - 28. November 2014, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Dezember 2014


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang