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VORWÄRTS/1067: Zur Lage in Kurdistan


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 43/43 vom 12. Dezember 2014

Zur Lage in Kurdistan

Von Michi Stegmaier



Jeden Tag lesen und hören wir vom Widerstand der KurdInnen in Kobane. Anlässlich eines Podiums "zur Lage in Kurdistan" wurde über die aktuelle Situation informiert und diskutiert, was getan werden kann, um den Widerstand In Rojava zu unterstützen.


Im brechend vollen weissen Saal im Zürcher Volkshaus fand am 4. Dezember eine von der SP des Kantons Zürich organisierte Podiumsdiskussion zur Lage in Kurdistan statt. Zu Beginn wurde an die tragische Geschichte und an die Aufteilung Kurdistans durch die imperialistischen Kräfte vor 94 Jahren erinnert. Ervin Mustafa von der syrisch-kurdischen Partei PYD (Partei der demokratischen Union) erzählt, wie 1922 der Vertrag von Sèrves, in dem die Siegermächte den KurdInnen Autonomie garantierten. gekippt wurde und wie über Nacht aus der Bevölkerung in den kurdischen Gebieten plötzlich Syrer, Iraker, Iraner und Türken wurden. Selbst Verwandte hatten am nächsten Tag verschiedene Nationalitäten.


Erschütternde Schicksale

Es war der Beginn einer langen Leidensgeschichte, die bis heute geprägt ist von Aufständen der kurdischen Bevölkerung gegen autokratische, religiös-fundamentalistische und nationalistische Regime und oft in Massaker an der Zivilbevölkerung mündeten. Sei es der Dersim-Aufstand, der 1938 von der türkischen Armee brutal niedergeschlagen wurde und über 50.000 Opfer forderte oder in der jüngeren Geschichte der Giftgasangriff auf die Stadt Halabja und die autonome Kurdenregion durch das irakische Baath-Regime von Saddam Hussein.

Besonders bewegend und erschütternd sind die Erzählungen von Felenkas Uca, jesidische Kurdin, Aktivistin und ehemalige Europaabgeordnete für die deutsche Linkspartei. Sie lebt heute in Diyarbakir, wo sie im Krisenstab für die syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge unter anderem Hilfslieferungen koordiniert. Sie berichtet, wie 200.000 jesidische KurdInnen vor dem IS aus dem Shingal-Gebirge fliehen mussten und während Tagen bei widrigsten Bedingungen ohne Wasser und Lebensmittel zu Fuss durch die Wüste ins sichere Rojava flüchteten. Sie erzählt von brutalen Übergriffen auf die Zivilbevölkerung durch den IS, von verschleppten Frauen, Vergewaltigungen und wie die jungen Frauen auf dem Basar wie Vieh an den Meistbietenden verkauft werden. Und Felenkas Uca erzählt vom traurigen Schicksal einer 17-Jährigen, die in einem Dorf lebte, welches vom IS eingekesselt wurde. Wie sie sie in einem Telefongespräch vom Freitod abhalten wollte, doch die junge Frau lieber den Tod wählte, als in Gefangenschaft zu gehen.


Erdogans Propagandalügen

Scharf kritisierte Felenkas Uca den Umgang der türkischen Regierung mit den syrischen Flüchtlingen. Während Ministerpräsident Erdogan von der türkischen Gastfreundschaft schwärmt und erzählt, dass die Flüchtlinge in der Türkei mit offenen Armen empfangen würden, zeichnet sich vor Ort ein gänzlich anderes Bild ab. Tatsächlich versanden Hilfsgüter und Spenden, die auf den offiziellen Kanälen an die türkische Regierung übergeben werden, entweder im Nirgendwo oder kommen nur einer sehr beschränkten Anzahl Flüchtlingen zu Gute.

Im zweiten Teil des Abends stellten sich Jacqueline Fehr und Martin Naef, beide für die SP im Nationalrat und Mitglied in der Aussenpolitischen Kommission, dem Publikum. Rasch wurde klar, dass die offizielle Schweiz nur einen sehr bescheidenen Einfluss auf die Türkei und die Geschehnisse in Nordsyrien hat. Das Podium hinterlässt schliesslich mehr Fragen als Antworten. Widersprüche wurden völlig ausgeblendet und blieben unthematisiert. Zurück bleibt Ohnmacht über das Leid der kurdischen Bevölkerung und eine grosse Ratlosigkeit.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 43/44 - 70. Jahrgang - 12. Dezember 2014, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Dezember 2014


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