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VORWÄRTS/1075: Geschichte eines Krawalls


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 1/2 vom 16. Januar 2015

Geschichte eines Krawalls

Von Jonas Komposch



Die Frontenbewegung blies in den 1930er Jahren zum Angriff auf Ihren Hauptfeind, die politische Linke. Ein bedrohliches Manöver spielte sich in Winterthur-Töss ab. Dort provozierte die Nationale Front mit einer Versammlung militanten Widerstand der Bevölkerung. Wie von den Frontisten beabsichtigt, antwortete der Staat mit Repression gegen die Arbeiterbewegung. Doch Töss blieb rot.


Vor achtzig Jahren, am Mittwochnachmittag, dem 16. Januar 1935, im Stadtkern von Winterthur: Das rege Treiben auf dem Neumarkt wird plötzlich mit lautem Gesang ergänzt. "Vorwärts und nicht vergessen!", erschallt es laut vor dem Bezirksgefängnis. Wem gilt das "Solidaritätslied? Wer hört die Signale? Das rote Halstuch, das ein Gefangener durch das Fenstergitter schwenkt, schafft Klarheit. Es ist eine sozialistische Jugendgruppe, die gekommen ist, um ihrem inhaftierten Genossen eine kleine Aufmunterung zu singen. Dort im Neumarkt-Knast sitzt ein junger Sozialist seine Haftstrafe ab. Er hatte sich im "Tössemer Krawall" vom 25. Januar 1934 den Faschisten der Partei "Nationale Front" widersetzt und deren Autobusse mit Pflastersteinen demoliert. Mit der Verbüssung dieser Strafe gehört der Jugendliche zu jenen drei Arbeitern, die im Zuge des Krawalls zu Haftstrafen verurteilt wurden. Die Repression traf indes nicht nur Einzelne, sie galt der gesamten Bewegung. FaschistInnen und reaktionäre Teile des Bürgertums lancierten eine mediale Hetzkampagne gegen die organisierte Arbeiterschaft Mit Provokationen und gewalttätigen Eskalationen versuchten sie, ein zunehmend repressives Klima gegen links zu erzeugen. Besonders die Kommunistische Partei, aber auch die formell noch klassenkämpferische Sozialdemokratie, sollte zerschlagen und befriedet werden. Die Verurteilung von antifaschistischen Demonstranten, die in der "Genfer Blutnacht" vom 9. November 1932 von Rekruten unter Beschuss genommen worden waren, sowie die darauf folgende Inhaftierung von politischen Grössen wie etwa dem sozialistischen Grossrat Léon Nicole, gaben dem Plan der FaschistInnen mächtig Aufwind.


Wie auf die Provokation antworten?

Die Absicht der Nationalen Front, im Töss eine öffentliche Versammlung durchzuführen, ist erst spät zur Arbeiterbewegung durchgedrungen. Umso stärker beschäftigte sie das bevorstehende Ereignis. Wie sollte man sich dazu verhalten? Die Sozialdemokratische Partei, welche in der Bewegung federführend war, diskutierte ausgiebig über ihre Haltung und Strategie in dieser Frage. Man war sich einig, dass die "Fröntler" mit dieser Veranstaltung nicht primär Propaganda betreiben wollten. Gewichtiger erschien der Effekt einer Machtdemonstration im traditionell linken Stadtteil. Zudem vermutete man eine Strategie der Eskalation und der nachfolgenden Repressionsspirale, ganz nach den deutschen und österreichischen Vorbildern. Im Parteivorstand gab es vorerst aber keine Einigkeit. Vor allem die Sozialistische Jugend drängte auf eine Aktion hin. Albert Bachofner, SP-Bezirksrichter und Sekretär der Winterthurer Arbeiterunion, erinnerte sich später: "Besonnene Genossen rieten dringend davon ab, auf die Provokation einzugehen und eine Gegenaktion vorzubereiten. Ihre Argumente hatten viel für sich, denn die Saal- und Strassenschlachten in Deutschland hatten Hitler genützt, weil der Polizeiapparat fast immer zu ihren Gunsten eingriff."


ArbeiterInnen fordern Aktion

Dass die Veranstaltung der Fröntler ausgerechnet im Restaurant "Freihof" stattfinden sollte, verstörte die TössemerInnen. Der "Freihof" gehörte quasi zur Infrastruktur des armen Arbeiterquartiers. Zudem erzürnte viele die "unflätige Sprache" des faschistischen Flugblatts und die Verbalattacke gegen die Linke. Viele ArbeiterInnen wurden sogar auf dem SP-Sekretariat vorstellig und forderten eine entschiedene antifaschistische Aktion. Das Votum der Basis vereinfachte der SP-Führung die Entscheidungsfindung. Um glaubwürdig zu bleiben, musste etwas geschehen. So instruierte der Vorstand die Mitglieder per Mund-zu-Mund-Propaganda und mit einem Inserat in der "Arbeiterzeitung". Doch, wie dieselbe Zeitung später meldete, machte die Kunde ohnehin längst die Runde: "Jedermann fragte sich, was die Nationale Front in dem Arbeiterviertel Töss zu suchen habe, und jedem roten Tössemer war ohne weiteres klar, dass er auch dabei sein wollte." Schliesslich einigte sich die Parteileitung doch noch auf einen Plan.

Man würde an der Versammlung teilnehmen und vorsprechen. "Unser Kampf sei ein Geisteskampf, den wir mit der Nationalen Front ruhig aufnehmen dürfen", hiess es. Dies war eine bewährte Praxis. In der Arbeiterbewegung pflegte man wortgewandte VertreterInnen systematisch an die öffentlichen faschistischen Versammlungen zu delegieren, um die dort versammelte Zuhörerschaft mit sozialistischen und antifaschistischen Argumenten aufzuklären. Im Falle der Tössemer Versammlung ging es jedoch um mehr. Hier im: Viertel der krisengebeutelten und klassenbewussten Industrieproleten drohte die gewaltige Eskalation. Den "Krach" verhindern könne nur die aktive Teilnahme an der Versammlung, hielt der SP-Vorstand protokollarisch fest. Hierfür erliess er auch folgende Weisung an die mobilisierten "Arbeiter von Töss und den übrigen Stadtteilen": "Restlos marschieren wir um 19 Uhr auf! Den Anordnungen der sozialdemokratischen Ordner ist bei strengster Disziplin strikte Folge zu leisten." Und intern hiess es: "Den Leuten ist zu sagen, dass keine Waffen oder anderen Gegenstände mitgenommen werden dürfen."


Stahlruten gegen Giesserfäuste

Ob tatsächlich alle der 2000 versammelten AntifaschistInnen unbewaffnet waren, lässt sich nicht prüfen. Sekretär Bachofner jedenfalls gab später an, für den schlimmsten Fall mit einer "kleinen Browning" ausgestattet gewesen zu sein. Ohnehin verlief kaum etwas nach Plan: Ein von Zürich angereister studentischer "Harst", so hiessen die faschistischen Kampfformationen, besetzte schon um 16.30 Uhr den Freihof, obwohl der Beginn erst um 20.15 Uhr angekündigt war. Schnell sprach sich diese Nachricht im Quartier und in den Betrieben herum, so dass die Zürcherstrasse spontan von AntifaschistInnen besetzt und der Freihof umzingelt wurde. Für die noch nicht eingetroffenen Frontleute war ein Durchkommen unmöglich. Die Nachzügler mussten im nahegelegenen Restaurant "Hirschen" untertauchen. Nun forderten die Delegierten der Arbeiterbewegung Einlass in die öffentliche Veranstaltung. Doch sie wurden, so die "Arbeiterzeitung", "abgewiesen und mit Schlägen traktiert, wobei Stahlruten, Gummischläuche und Bambusrohre zur Anwendung, kamen. Das liessen sich die Tössemer nicht bieten. Soweit möglich wurden den Herrchen die Schlagwaffen weggerissen, und nun hatten sie selber ihre Anwendung zu spüren. Einige Frontenbrüder wurden ganz jämmerlich verprügelt, wobei es eine ganze Anzahl zerschlagener Köpfe gegeben haben soll." Auch der Winterthurer Frontenführer Dr. Ganzoni und der Referent Rüegsegger kriegten die "nicht untätigen Tössemer Giesserfäuste" zu spüren und mussten gemäss der faschistischen Zeitung "Die Front" im Spital verarztet werden.

In Verhandlungen beschloss man schliesslich, die umzingelten Faschisten abziehen zu lassen. Aber wie! Hierzu wieder "Die Front": "Die Frontisten mussten in Einerkolonne das Haus verlassen. Dabei wurden sie von allen Seiten angespuckt, einzelne Kameraden herausgegriffen und misshandelt, (...) einer der Hochschulgruppe wurde an den Füssen gepackt, fortgeschleppt und schwer verletzt in einen Strassengraben geworfen." Die Frontisten organisierten nun Verstärkung. Aus Zürich kamen einige Autobusse angefahren, welche aber sogleich mit Steinhagel in Empfang genommen und ebenso verabschiedet wurden. Restlos überfordert waren auch die wenigen Polizisten. Erst um 23 Uhr konnte ein mit Karabinern bewaffnetes und "mit Pfui-Rufen und wildem Gejohle" begrüsstes Kontingent aus Zürich den Abzug der restlichen Faschisten gewährleisten.


Repression und erneute Aufmärsche

Die "Tössemer Ereignisse" boten landesweit Stoff für einen wochenlangen medialen Schlagabtausch. Die linken Zeitungen verteidigten ausnahmslos den Widerstand der ArbeiterInnen. Obwohl genau jener "Krach" eingetreten ist, den die Parteioberen vermeiden wollten, erkannte man den bestärkten antifaschistischen Abwehrwillen in der Arbeiterschaft. Diesen hatte die parteiliche Avantgarde nun öffentlich zu verteidigen. Der liberale "Landbote" verurteilte den "politischen Strassenkampf" beider Seiten. Die rechtsbürgerliche Presse hingegen beklagte die "marxistische Gewalt" und schoss gegen die Sozialdemokratie. Arbeitersekretär Bachofner wurde vom freisinnigen "Winterthurer Tagblatt" aufs Schärfste angegriffen, da er es versäumt hätte, die ArbeiterInnen auf das Versammlungsrecht hinzuweisen. Und auch die NZZ nahm die Nationale Front - schliesslich war diese im Zürcher Bürgerblock von 1933 Bündnispartnerin der FDP - durchwegs in Schutz. Die Rede war vom "bedrohlichen Charakter der sozialdemokratischen Demonstranten", die "gleich einer zu jeder Vernichtungstat bereiten Lawine wälzte." Die faschistischen Medien wiederum glaubten, "kommunistische Agitatoren mit fernöstlichem Spracheinschlag" erkannt zu haben.

Auch der Gemeinderat debattierte hitzig über den 25. Januar 1934. Hans Sulzer, Boss der gleichnamigen Maschinenfabrik, schimpfte gegen die Polizei, sie habe zu wenige Rote verhaftet. Tatsächlich erwischte die Polizei nur gerade fünf, vier wurden verurteilt, davon drei weggesperrt. Doch der zuständige Bezirksanwalt war rechtsfreisinnig eingestellt, manche vermuteten gar eine Mitgliedschaft bei den Fröntlern. Dementsprechend drakonisch fielen die Urteile aus. Erst ein Obergerichtsentscheid reduzierte die erstinstanzliche Verurteilung zu je einem Jahr Arbeitshaus auf einen Monat Gefängnis. Zum Vergleich: Nicht ein Frontist wurde belangt. Dafür wurde ein faschistischer Attentäter, der 1933 eine Bombe vor einem sozialdemokratischen Redaktionsgebäude zündete, zu einer Busse von unglaublichen 60 Franken verknurrt.

Die Auseinandersetzungen zwischen der Tössemer Arbeiterbewegung und der Nationalen Front waren mit dem Krawall keinesfalls zu Ende. Schon am nächsten Tag folgte die nächste Schlägerei und bereits im November marschierten 2000 FaschistInnen durch Winterthur - aber nicht durch Töss. Noch nicht. Erst im März 1935 gelang ihnen ein Marsch durch das proletarische Quartier.

Derart gekämpft wie an jenem Januartag 1934 hat die Tössemer Bevölkerung jedoch nie mehr. Trotzdem reichte es 1937 immerhin noch für eine Entschuldigung des Bundesrates an Nazideutschland: "Schuld" waren wieder einmal die Tössemer ArbeiterInnen. Am 2. Mai schlug Deutschland die Schweiz im Fussball-Länderspiel im alten Hardturm mit 1:0. Die über Töss heimfahrenden deutschen Fans schwenkten Hakenkreuzfahnen und reckten die Arme zum Hitlergruss. Und wieder flogen Steine und "Giesserfäuste" blieben nicht untätig.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 1/2 - 71. Jahrgang - 16. Januar 2015, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Januar 2015


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