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VORWÄRTS/1186: Die Aufrechten der Nacht


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 15/16 vom 26. April 2016

Die Aufrechten der Nacht

Von Bernard Schmid


Es begann als Mobilisierung gegen die Arbeitsmarktreform. Inzwischen ist es weitaus mehr als das und in Frankreich hat sich mit "Nuit debout" eine neue Bewegung formiert, die mittlerweile in über sechzig Städten Plätze besetzt und das Land in Atem hält.


In Frankreich schrieben am vorletzten Wochenende viele Menschen den 48. und 49. März. Doch doch, diese Menschen sind der Kalenderrechnung mächtig. Ihre spielerische Datumsangabe deutet jedoch einerseits daraufhin, dass die Kraft der sozialen Bewegung manche sozialen Normen und Konventionen zeitweilig ausser Kraft zu setzen und zu verändern vermag. Andererseits widerspiegelt und versinnbildlicht sie die Tatsache, dass die Platzbesetzerbewegung, die inzwischen auch internationalen Widerhall erhält, in einem Kontinuum seit dem 31. März dieses Jahres anhält und bis heute andauert.


Beginnt mit dem 31. März eine neue Zeitrechnung?

Ursprünglich hatte die Aneignung des öffentlichen Raums in Gestalt der Besetzung von Plätzen, zunächst der Pariser "Place de la République", am Abend des 31. März begonnen. Dem voraus gingen die Demonstrationen vom Tage, an denen in Paris über 50.000 und in Frankreich rund eine Million Menschen teilgenommen hatten. Die Protestzüge richteten sich gegen die durch die Regierung geplante, regressive "Reform" der Arbeitsgesetzgebung. Die Parlamentsdebatte zu dem Gesetzentwurf wird nun am 3. Mai dieses Jahres in der französischen Nationalversammlung und am 11. Juni im Senat - dem "Oberhaus" des Parlaments - beginnen. Die ersten Demonstrationen von Gewerkschaften, Studierenden und Jugendverbänden dagegen hatten am 9. März stattgefunden, die bislang stärksten am 31. des Monats. Weitere sind geplant, mit einem nächsten Höhepunkt am 28. April. Dabei war es aber auch immer wieder zu einer Reihe von Zwischenfällen mit der Polizei und Repressionserfahrungen gekommen. Im westfranzösischen Rennes wurde ein sechzigjähriger Gewerkschafter, am Boden liegend, durch polizeiliche Schläger verprügelt. In Marseille starteten OberschülerInnen eine Petition gegen Polizeigewalt. Und im ostfranzösischen Chambéry wurden neun Schüler aus einem Internat ausgeschlossen, weil sie an einer Demonstration teilgenommen hatten. Inzwischen gibt es einen neuen, aufsehenerregenden Fall: Am 14. April wurde eine junge Frau, die selbst gar nicht Demonstrationsteilnehmerin war, sondern auf einer Café-Terrasse in Paris für ihr Studium lernen wollte und sich plötzlich in einem Polizeikessel wiederfand, durch einen Bereitschaftspolizisten heftig gegen die Hüfte getreten und zog sich Verletzungen zu.

Im Anschluss an den Demonstrationstag vom 31. März also wurde in Paris die Platzbesetzung begonnen. Diese Aktion sollte verhindern, dass die Dynamik der Bewegung - im Warten auf den nächsten "Aktionstag" der etablierten Gewerkschaften - einbricht oder zurückgeht. Inzwischen verfügt sie auch über ihr eigenes Erkennungszeichen im Internet und bei den sozialen Medien, nämlich "Nuit debout". Also sinngemäss "wache Nacht"; die in deutschsprachigen Medien bisweilen zu findende Wortlautübersetzung "Nacht im Stehen" ist irreführend, da die Mehrzahl der TeilnehmerInnen ihre Abende und Nächte eher sitzend zubringt. Bei Vollversammlungen auf der "Place de la République" nehmen regelmässig rund 2.000 Personen teil.


Die Basis der Bewegung verbreitern

Auf diversen sozialen Medien und Apps folgen zahlreiche Menschen inzwischen der Mobilisierung, etwa bei den Diensten für Smartphones "Telegramm" und "Periscope" - in der ersten Aprilwoche brach der Service bei Periscope gar vorübergehend zusammen, weil an einem Abend rund 100.000 Menschen gleichzeitig den Livebericht über die Pariser Platzbesetzung verfolgten.

Aber wie steht es um die soziale Zusammensetzung? Manche bürgerlichen Medien versuchen der Protestbewegung zu schaden, indem sie diese als eine Angelegenheit von eher Mittelschichtsangehörigen, Yuppies und Intellektuellen behandeln, und gegenüber der lohnabhängigen Bevölkerung eher als eine Art Luxushobby darstellen. Die "convergence des luttes", also das Zusammengehen der Kämpfe in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, wird unterdessen von vielen RednerInnen am offenen Mikrophon der Platzbesetzerbewegung immer wieder beschworen. Der linke Wirtschaftswissenschaftler Frédéric Lordon, einer der prominenten Köpfe in einer Bewegung, die keine Chefs haben möchte, beschwor die Versammelten schon in den ersten Tagen, auf diverse andere soziale Milieus zuzugehen, um die Bewegung tunlichst zu verbreitern.

Ein stärkerer Brückenschlag als bislang sei auch zu den Gewerkschaften und Lohnabhängigen nötig, betonen viele. Für viele abhängig Beschäftigte ist es dc facto relativ schwierig, an allen Ereignissen teilzunehmen, wenn die einzelnen Kommissionen der Platzbesetzung - "Aktion", "Kommunikation", "internationale Kontakte", "Logistik" und andere - schon inmitten des Nachmittags zu arbeiten beginnen und die Vollversammlungen bis Mitternacht dauern. Deswegen setzt sich die Mehrzahl der Teilnehmenden tatsächlich aus Studierenden, prekär Beschäftigten sowie Intellektuellen zusammen; ihre Erfahrungshintergründe, sofern sie zuvor gesellschaftlich engagiert waren, bringen sie oft aus der Ökologie- und Anti-Atomkraft-Bewegung mit, oder aber aus der MigrantInnen-Solidarität und dem antirassistischen Spektrum.


Die Proteste weiten sich aus

Mohammed etwa ist Mathematiklehrer, Stéphane ist Jurastudent und will sich auf Arbeitsrecht zur Verteidigung der Beschäftigten spezialisieren. Dennoch finden sich auch gewerkschaftlich aktive Beschäftigte. Zu ihnen gesellen sich auf dem Pariser Platz Hunderte der "intermittents du spectacle" genannten Prekären der Kulturindustrie, die in Frankreich nicht festangestellt werden, aber in auftrittslosen Zeiten Ansprüche auf Überbrückungsgelder aus einer gesonderten Arbeitslosenkasse haben. Wie alle zwei Jahre, müssen diese Künstlerinnen, FilmemacherInnen oder FernsehtechnikerInnen auch in diesem Frühjahr darum kämpfen, dass ihr sozialer Sonderstatus nicht beseitigt oder stark eingeschränkt wird. Der Arbeitgeberverband MEDEF und der rechtssozialdemokratische Gewerkschaftsverband CFDT einigten sich soeben auf eine Einschränkung ihrer Ansprüche.

Doch jenseits des "Boulevard périphérique" - der Ringbauautobahn, die um das 1860 definierte Pariser Stadtgebiet herum geht und das eigentliche Paris von den Vor- oder Trabantenstädten trennt - beginnt nochmals eine andere Welt. So sehen es jedenfalls viele EinwohnerInnen der Pariser Kernstadt, vor allem aus bürgerlichen Milieus. Umso wichtiger ist es, sich zu fragen, ob eine in Paris entstandene soziale Bewegung auch den Sprung in die umliegenden Banlieues schafft.

Von Anfang an war in den Redebeiträgen auf der Pariser "Place de la République" immer wieder gefordert worden, auch in andere Städte und insbesondere in die Banlieues auszustrahlen. Aufgegriffen worden ist der Impuls inzwischen in über sechzig französischen Städten, wo mindestens in einer Nacht eine Platzbesetzung stattfand. Im südwestfranzösischen Toulouse ist die Bewegung seit nunmehr einer Woche ebenfalls permanent, auf dem dortigen Kapitol-Platz nahmen bis zu 800 Menschen an Vollversammlungen teil. Selbst kleinere Städte wie Saint-Aubin-du-Cormier mit 3000 EinwohnerInnen sind mittlerweile berührt, nach den Regionalmetropolen Marseille, Lyon oder Lille.


Das Misstrauen der Trabantenstädte

Es blieb die Frage nach dem Übergreifen auf die Banlieues, denn neben der geographischen Distanz kommt hier eine handfeste soziale Spaltung hinzu. Am 13. April wurde der Sprung dorthin unternommen. Am Vormittag besetzten in Saint-Denis, der alten Königsstadt in der nördlichen Pariser Vorstadtzone, erzürnte Eltern insgesamt 200 Schulen. Sie protestieren gegen Einsparungen in ihrem krisengeprägten Département, gegen zahllose Unterrichtsausfälle mangels Ersetzung fehlender Lehrkräfte, und gegen die systematische Vernachlässigung des ärmsten Verwaltungsbezirks Frankreichs im Allgemeinen. Am Spätnachmittag dann riefen sie zu einem öffentlichen Sit-in auf. 400 Menschen kamen bei einer Vollversammlung unter freiem Himmel zum Debattieren zusammen, was kein schlechter Anfang ist.

Anderswo hatte es bereits Anläufe zur Organisierung von Vollversammlungen in den Vorstädten gegeben, seit dem 8. April etwa in Montreuil östlich von Paris. Diese Stadt befindet sich jedoch bereits mitten in der Gentrifizierungsphase. An anderen Orten bleibt es schwierig. Aus Noisy-les-Champs berichten TeilnehmerInnen sowie die bürgerliche Presse, es seien nur 30 bis 40 Menschen gekommen, und die linksliberale Zeitung Le Monde zitiert einen schwarzen Passanten: "Wen wollt Ihr denn repräsentieren, es sind keine Afrikaner, Araber oder Asiaten unter Euch." Die durch die Zeitung selbst publizierten oder im Internet kursierenden Bilder der Bewegung widerlegen diese Aussage zwar, dennoch bleibt es eine Tatsache, dass viele EinwohnerInnen aus sozialen Unterklassen und mit Migrationshintergrund - aufgrund bisheriger gesellschaftlicher Erfahrung - politischer Repräsentation eher grundsätzlich skeptisch gegenüber stehen. Bislang schlägt dieses Misstrauen in den Trabantenstädten zum Teil auch der Platzbesetzerbewegung entgegen.

In Paris hingegen ist es eher die Staatsmacht, die ihr zu schaffen macht. Seit Tagen häufen sich polizeiliche Provokationen. Am 11. April schüttete die Bereitschaftspolizei CRS etwa einen Riesentopf mit Suppe aus der Essenausgabestelle - der "Kantine" - einfach in die Gosse. Am 12. April fiel die Strassenbeleuchtung auf dem und rund um den Platz zeitweilig völlig aus; das Pariser Rathaus behauptet allerdings, die Verdunkelung gehe auf eine Panne zurück. Die Staatsmacht möchte vor allem festere Aufbauten auf dem Platz, wie die "Kantine", die Krankenstation oder die Lautsprecheranlage, verhindern oder vertreiben. Der Parteichef der regierenden Sozialdemokratie, Jean-Christophe Cambadélis, erklärte, "um einen Rahmen zu wahren", brauche es "CRS debout", also wachende BereitschaftspolizistInnen.

Die BesetzerInnen wollen dem widerstehen. Aber sie werden nur Erfolg haben, wenn die Ausweitung auf unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte gelingt, und sie für das ursprüngliche Hauptziel - die Verhinderung der "Reform" der Arbeitsgesetzgebung, die bei manchen eher partylustigen Platzgästen bisweilen etwas aus dem Blick gerät - zu bündeln vermögen.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 15/16 - 72. Jahrgang - 26. April 2016, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Mai 2016

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