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VORWÄRTS/1205: Spanien - Ohne Zukunft


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 23/24 vom 17. Juni 2016

Ohne Zukunft

Von Andreas Boueke


Wenn man die ökonomischen Statistiken betrachtet, scheint es langsam bergauf zu gehen mit der spanischen Wirtschaft. 2015 ist das Bruttoinlandsprodukt um drei Prozent gestiegen und auch die Prognosen für 2916 sind vielversprechend. Doch die bedürftigsten Opfer der Wirtschaftskrise spüren davon wenig. Einer von ihnen ist Juan, eine Attraktion für TouristInnen in Barcelona.


Der Mittfünfziger Juan war jahrelang obdachlos. Jetzt verdient er sich ein paar Euro mit alternativen Stadtführungen. "Heute kommt eine Schulgruppe mit sechzehn-, siebzehnjährigen Mädchen. Mit denen mache ich gerne Tour", erklärt er. Treffpunkt ist der Platz vor der Kathedrale im gothischen Viertel der Altstadt. Die Schülerin Larissa ist gespannt, auf die etwas andere Stadtführung: "Wir sind ein Kunstleistungskurs. Bisher haben wir uns vor allem die Architektur Barcelonas angeschaut. Da ist es spannend, auch mal etwas mehr über die Menschen zu erfahren, die hier auf der Strasse leben."


Hidden City Tours

Die Klasse lernt Juan kennen, den ehemaligen Obdachlosen, der einen Neuanfang geschafft hat, als Touristenführer. Er spricht deutsch, weil er in Pforzheim aufgewachsen ist, wo seine spanischen Eltern noch heute leben. Zuerst stellt er das Projekt vor: "Wir nennen uns Hidden City Tour. Meine Chefin ist Engländerin. Sie heisst Lisa Grace. Sie hatte mal einen guten Arbeitsplatz. Aber dann ist sie schwanger geworden, mit Zwillingen. Und wenn man hier schwanger wird, dann wird einem gekündigt."

Lisa Grace wohnt seit 14 Jahren in Barcelona. Ihre Arbeitslosigkeit hat sie als Chance gesehen, etwas ganz Neues anzufangen: "Ich habe an einer der schlimmsten Strassen des historischen Zentrums von Barcelona gelebt. Da waren jeden Tag Dutzende Obdachlose. Wenn ich morgens runter ging, sah ich immer dieselben Leute. Sie hatten die Nacht auf der Strasse verbracht. Mit der Zeit wurden sie sowas wie Nachbarn für mich. Die Armut war offensichtlich."

Juan ist einer der populärsten Führer von Hidden City Tours. Die deutschen Schülerinnen erfahren erst einiges über seine persönliche Lebensgeschichte. "Ich bin in Deutschland aufgewachsen, war dort in der Schule, hatte deutsche Freunde." Bald nach der Schule hat Juan geheiratet. "1999 ist meine Tochter zur Welt gekommen. Aber dann ist sie gestorben. Danach habe ich mich nicht mehr mit meiner Frau verstanden. Ich bin zu meinen Eltern gezogen und habe mit Drogen angefangen." Im Jahr 2000 hat Juan drei Kilo Haschisch aus Holland nach Deutschland gebracht. Doch schon im Zug wurde er von der Grenzpolizei erwischt. Er wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt und nach der Haft direkt nach Spanien abgeschoben, weil er dort geboren ist. "Die kamen eines Abends und sagten mir: 'Morgen geht dein Flieger.' Und am nächsten Tag, Flughafen, Flugzeug und Tschüss nach Barcelona."


"Überleben, so nennt sich das"

Die Gruppe biegt in eine enge, dunkle Gasse. An einer Ecke hat gerade ein neues Café mit schicken Möbeln in Neonfarben eröffnet. Auf der anderen Strassenseite blättert der Putz von den Wänden und es riecht nach Urin. Juan öffnet eine gammelige Holztür und erzählt: "In diesem kleinen Raum haben zwei Frauen geschlafen. Dann sind ein paar reiche Jugendliche aus den schicken Gegenden der Stadt gekommen. Sie hatten eine Flasche Benzin dabei und ein Serviertablett. Sie haben die Flasche angezündet, hier reingeschmissen und die Tür zugemacht. Das Tablett haben sie so unter die Tür geschoben, dass man von innen nicht mehr aufmachen kann. Beide Frauen sind geestorben." Die Schülerinnen aus Deutschland sind schockiert. Eine fragt: "Hattest du nie Angst, dass es auch dich treffen könnte?" "Doch natürlich", antwortet Juan, "ich habe voll Schiss gehabt, immer Angst um mein Leben."

Die Tour geht weiter, vorbei an ein paar jungen Frauen, die auf dem Bürgersteig stehen. Prostitution ist in Barcelona verboten. Trotzdem bemühen sich die Frauen nicht, ihr Angebot zu verbergen. Elisabeth ist 22 Jahre jung. "Zurzeit lebe ich in einer besetzten Wohnung, so wie alle Welt das macht. Entweder hast du Geld für das Essen oder für die Miete. Für beides reicht es nicht. Ich bin mit einem Tritt reingekommen. Die Tür war ziemlich morsch. Ich habe das Schloss ausgewechselt und jetzt bleibe ich in der Wohnung, bis ich wieder rausgeworfen werde. Dann suche ich mir was anderes. Überleben, so nennt sich das."


Die Drogen sind Schuld

Plötzlich deutet Juan mit seinem Zeigefinger auf die oberen Stockwerke eines verwahrlosten Gebäudes. "Dort oben wohne ich, im vierten Stock." Juan teilt sich seine Wohnung mit einem Freund und mit seiner Lebensgefährtin Mari. "Ich heisse Mari Dolores Lupianos Marti. Ich lebe hier in Barcelona. Seit 2006 bin ich die Freundin von Juan. Momentan arbeite ich nicht. Ich bin arbeitslos." Mari ist dünn, geradezu dürr. "Ich möchte nicht erzählen, wie ich auf der Strasse gelandet bin. Obwohl, warum sollte ich nicht sagen, dass es die Drogen waren. Die sind Schuld. Aber darüber zu reden, macht mich müde. Das mit Juan war Liebe auf den ersten Blick. Pure Chemie. Aber als ich ihn dann besser kennengelernt habe, hat er mir noch mehr gefallen. Das Beste an Juan ist sein Charakter, seine Persönlichkeit. Er ist der beste Mensch der Welt."


" ... dann würde ich nicht hier stehen!"

Während der Tour trifft Juan immer wieder auf alte Bekannte aus dem Milieu: "Das da drüben ist ein fauler Sack, sonst nix. Er hat zwei hübsche Töchter. Ist ein Nachbar von uns. Der heult immer und schimpft, dass es ihm so schlecht geht. Ich sag dann: 'Junge, du hast zwei Töchter, du hast eine Frau, und du heulst, weil du keine Arbeit hast. Irgendwas machst du falsch.'"

Die Tour geht zu Ende. Die Schülerinnen sind begeistert. Viele stellen noch Fragen: "Du hast so viele Erfahrungen auf der Strasse gemacht. Was meinst du, wäre eine Lösung, um Menschen aus dieser Situation rauszuholen?" Juan überlegt nicht lange: "Diese Frage hast du dem Falschen gestellt. Es gibt Leute in der Regierung, die verdienen viel Geld. Die müssen sich darüber den Kopf zerbrechen, nicht ich. Ich lebe hier mitten drin. Wenn ich das reparieren könnte, dann würde ich nicht hier stehen, dann wäre das alles hier ganz anders."

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 23/24 - 72. Jahrgang - 17. Juni 2016, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juli 2016

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