Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


VORWÄRTS/1213: Spanien schützt Folterer


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 29/30 vom 26. August 2016

Spanien schützt Folterer

Von Patricia D'Incau


Nach der Verhaftung von Nekane Txapartegi: Ein neuer Bericht dokumentiert rund 4000 Fälle von Folter in spanischen Gefängnissen. Dennoch droht Nekane die Abschiebung.


Fast fünf Monate ist es her, seit Nekane Txapartegi am 6. April 2016 in Zürich festgenommen wurde. Nach wie vor droht der 43-jährigen Baskin die Auslieferung nach Spanien, wo sie eine langjährige Haftstrafe erwartet.

0Nekane, die bis Ende der 90er-Jahre auf Gemeindeebene politisiert hatte, wurde 2007 im Rahmen eines Massenprozesses beschuldigt, die baskische Untergrundorganisation ETA unterstützt zu haben. Während ihrer Inhaftierung im Jahr 1999 hatte sie ein entsprechendes Geständnis abgelegt. Nicht freiwillig, sondern, wie Dokumente und Zeugenaussagen aus jener Zeit belegen, durch Folter und Vergewaltigung.

Obwohl die Gefangene das Geständnis noch vor ihrer vorläufigen Freilassung Ende 1999 wiederrufen und ihre Peiniger - die paramilitärische "Guardia Civil" - angezeigt hat: Genugtuung erfuhr Nekane nie. Im Gegenteil. Während sie zusammen mit 42 weiteren Angeklagten vom Sondergerichtshof für politische Delikte in Madrid pauschal wegen Kollaboration mit einer "Terrororganisation" verurteilt wurde, hatte sich die "Guardia Civil" zu keiner Zeit für die ihr zugeschriebene Folter zu verantworten.


Bericht belegt Folter

Nekanes Geschichte ist exemplarisch. Immer wieder kritisieren Organisationen wie Amnesty International, das Europäische Komitee zur Verhütung der Folter (CPT) und selbst die UNO, dass Foltervorwürfe in Spanien ohne gründliche und unabhängige Untersuchung ad acta gelegt werden. Bereits sieben Mal verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht (EGMR) Madrid, weil Foltervorwürfen nicht nachgegangen und Beschuldigte nicht angeklagt wurden. Ende Mai 2016 befand der EGMR den spanischen Staat zudem erstmals ganz explizit der Folter von baskischen Gefangenen für schuldig.

In welchem Ausmass in Spanien in den vergangenen Jahren gefoltert wurde, zeigt der kürzlich erschiene Bericht einer baskischen Untersuchungskommission: Rund 4000 Fälle von Folter, die sich zwischen 1960 und 2013 in Spanien ereignet haben, wurden von den ExpertInnen zusammengetragen und stichprobenweise ausgewertet. Von 202 Fällen, die unter Anwendung der UNO-Standards zur Untersuchung und Dokumentation von Folter eingehend geprüft wurden, beurteilte die Kommission 11 Prozent der Foltervorwürfe als "absolut" erwiesen, während 87 Prozent der Fälle als "sehr zuverlässig" oder "zuverlässig" eingestuft wurden. Das Resultat belegt: In Europa ist Folter eine Realität - selbst wenn darüber lieber geschwiegen wird.


Schweizer Behörden im Zwiespalt

Die Schweizer Behörden sehen sich nun jedoch gezwungen, in Madrid nachzuhaken: In einem offiziellen Schreiben verlangte das Bundesamt für Justiz Ende Juni zu wissen, wie die spanische Justiz mit Nekanes Folterklage umgegangen sei. Die Antwort liegt nun dem "vorwärts" vor: Darin ist zu lesen, dass es ich bei Folterklagen seitens politischer Gefangenen um eine "Strategie der ETA" handle; bei der Untersuchung von Nekanes Klage habe man "keine Hinweise auf ein Verbrechen" finden können, heisst es knapp. Daneben verstrickt sich Madrid in Ungenauigkeiten und Widersprüche. So ist etwa an einer Stelle des Schreibens zu lesen, Nekane habe die Folter erst nach ihrer Freilassung im Dezember 1999 angezeigt, während die Behörden andernorts schreiben, die Klage sei am 21. Juni 1999 eingegangen.

Wie das Bundesamt für Justiz damit umgeht, ist noch offen. Die Situation ist unangenehm: Wenn die Schweiz Nekane ausliefert, könnte sie wegen Verletzung der Menschenrechts- und Anti-Folter-Konvention verklagt werden; sollte die Schweiz nicht ausliefern, erkennt sie Spanien indirekt als Folterstaat an und gefährdet damit die diplomatischen Beziehungen. Das wiederum käme ungelegen, da sich die Schweiz im Zusammenhang mit der Umsetzung der "Masseneinwanderungsinitative" die Unterstützung Spaniens erhofft: Am 6. Juli war Simonetta Sommaruga in Madrid zu Besuch, um für das Anliegen zu werben, die "Zuwanderung" in die Schweiz künftig eigenständig zu steuern und gleichzeitig die bilateralen Verträge zu erhalten. Hierfür ist die Schweiz auf das Wohlwollen der EU-Mitglieder, wie etwa Spanien, angewiesen.

Bei der Behandlung von Nekanes Auslieferungsgesuch könnten hiernach auch politische Aspekte eine Rolle spielen. Wann mit einem Entscheid zu rechnen ist, ist zurzeit nicht absehbar. Um die Abschiebung zu verhindern, ruft das Komitee "Freiheit für Nekane" nach wie vor zu Solidaritätsaktionen auf.

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 29/30 - 72. Jahrgang - 26. August 2016, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. September 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang