Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


VORWÄRTS/1245: Kindeswohl ist der Schweiz egal


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 43/44 vom 2. Dezember 2016

Kindeswohl ist der Schweiz egal

von Juliette Müller


Familien werden getrennt. Kinder werden zwangsweise ausgeschafft: Ein Bericht der Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht kritisiert den Umgang der Schweizer Behörden mit minderjährigen Flüchtlingen und fordert, dass man sich endlich an die UN-Mindeststandards hält.

Es ist nicht angenehm, minderjährig und MigrantIn zu sein in der Schweiz. Vor Kurzem wurde in der Presse die Situation in einem Waadtländer Heim für minderjährige Asylsuchende, die unbegleitet sind, bekannt: Ihre Betreuung blieb vernachlässigt, sieben haben Selbstmordversuche begangen. Vorletzte Woche hat sich das Collectif R, das für die Rechte von Asylsuchenden im Kanton Waadt einsteht, für eine junge Eritreerin starkgemacht, die vor der Ausschaffung nach Italien stand. Das Amt für Migration des Kantons hatte sich geweigert, die Nothilfe von 9,50 Franken pro Tag für ihren sechsjährigen Sohn zu zahlen. Weil dieser nicht anwesend gewesen sei, als die kümmerliche Finanzhilfe eingefordert wurde, sondern von FreundInnen der Asylsuchenden gehütet wurde, haben die Behörden ihn als "abwesend" eingestuft und der Mutter die Unterstützung verweigert, die sie dringend für den Lebensunterhalt ihres Kindes benötigt. Es war eine Situation, die laut Collectif R "jedes zumutbare Mass überschritten" hat. Das sechsjährige Kind, das sich durch den Druck einer drohenden Rückschaffung bereits in psychologischer Behandlung befindet, hat für zwei Wochen in der Schule gefehlt aus Angst, dass es verhaftet würde, wenn es das Haus verliesse. Es hatte Angst, dass es zwangsweise in ein Land deportiert wird, in dem seine Mutter "nicht Asyl beantragt hat und wo die beiden bloss zehn Tage in öffentlichen Parks übernachtet haben", erklärt das Kollektiv.


Blosse Nothilfe

Wie als eine Art Echo auf diese Situation hat die Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht (SBAA) der Westschweiz kürzlich ihren neuesten Bericht veröffentlicht, worin die Schweiz angeklagt wird, eine schlechte Schülerin in der Achtung der Recht von Kindern zu sein, "Die Praxis einer restriktiven Politik wird oft auf Kosten des Wohlergehens und der Rechte der Kinder von MigrantInnen ausgetragen", mahnt der Bericht. In der Einleitung wird geradezu akkurat die Situation der erwähnten Flüchtlingsfamilie beschrieben: "Die Rückschaffung von verletzlichen Personen, besonders Familien mit kleinen Kindern, werden unter dem Dubliner Übereinkommen fortgesetzt. Die Flüchtlinge sind schwierigen Lebensbedingungen unterworfen, wobei ihre individuelle Situation nicht genügend berücksichtigt wird. Familien mit minderjährigen Kindern müssen beispielsweise für längere Zeitabschnitte mit blosser Nothilfe auskommen."

Die SBAA erinnert ausserdem daran, dass die Schweiz unlängst vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gerügt wurde, weil sie bei einem Familiennachzug nicht die Interessen des Kindes in den Mittelpunkt gestellt hat. Fälle, in denen Familien getrennt werden zum Leidwesen der Kinder, kommen zu oft vor. Exemplarisch ist der Fall von Awat, der nach Italien deportiert wurde, während seine Ehefrau, die im dritten Monat schwanger war, und ihre zwei gemeinsamen Kinder in der Schweiz vorläufig aufgenommen wurden: "Für das Bundesverwaltungsgericht ist die Anwesenheit von Awat nicht notwendig für das Wohlergehen seiner Kinder und sein Besuchsrecht aus Italien hält es für ausreichend."

Amosa, ein Vater von zwei Jungen im Alter von sieben und neun Jahren, lebte seit elf Jahren in der Schweiz, trotzdem haben die Behörden seine Rückschaffung angeordnet. Das Staatssekretariat für Migration machte geltend, dass "starke ökonomische Bindungen" fehlen würden. Es ignorierte natürlich alle emotionalen Bindungen.


Antrag zurückgewiesen

Die SBAA stellt fest, dass in solchen Fällen das Interesse des Kindes, mit seinen Eltern zu leben, praktisch nie als massgebender Faktor eingestuft wird. Dies steht im Widerspruch zu dem, was die UN-Konvention über die Rechte des Kindes vorschreibt. In der Praxis wird auch dann so vorgegangen, wenn sich die Eltern keinerlei Straftaten schuldig gemacht haben, gut integriert sind und eine enge Beziehung zum Kind haben. "Derartige Entscheidungen sind besonders problematisch, wenn die Entfernung des einen Elternteils zu einem höheren Armutsrisiko für das andere Elternteil und damit den Kindern führt", glaubt die Beobachtungsstelle. Ferner zeigt ihr Bericht, dass Jugendlichen ohne Aufenthaltsbewilligung oft die Regularisierung verweigert wird, wenn sie nicht ihr ganzes Leben in der Schweiz verbracht haben. Ein Beispiel dafür ist Toni, der 17 Jahre alt ist: Sein Antrag wurde zurückgewiesen wegen der finanziellen Situation seiner Mutter. Nun könnte er nach Mazedonien ausgeschafft werden, in ein Land, das er kaum kennt. Vom Migrationsamt heisst es, dass Tonis schulische Laufbahn nicht "aussergewöhnlich" gewesen ist und dass er und seine Mutter "sich nicht besonders stark am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben beteiligt" haben.


Empfehlungen der UN

Die SBAA erinnert daran, dass "minderjährige Asylsuchende noch immer zu oft in erster Linie als Asylsuchende betrachtet werden, statt als Kinder" und dass dies entsprechend berücksichtigt werden muss. Der UN-Kinderrechtsausschuss hat der Schweiz diesbezüglich Empfehlungen entgegengebracht und ruft sie insbesondere dazu auf, Mindeststandards bei den Empfangsbedingungen durchzusetzen. Bereits letzten August hat er die Schweiz wegen Verletzung der Kinderrechte öffentlich angeklagt, als sie Minderjährige abgewiesen hat, die schliesslich im Bahnhof von Como ausharren mussten.

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 43-44/2016 - 72. Jahrgang - 2. Dezember 2016, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Dezember 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang