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VORWÄRTS/1285: Gegen Hierarchien und Ausschluss


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 15/16 vom 12. Mai 2017

Gegen Hierarchien und Ausschluss

von Sabine Hunziker


Momentan tut sich viel in der Frauen- und der Queerbewegung. Neue Begriffe tauchen auf und werden wild diskutiert. Queere Frauen und Transmenschen organisieren sich unabhängig von Cis-Männern, um einen Schutzraum vor verbaler und physischer Gewalt sowie jeglicher Form von Homophobie und Transphobie zu schaffen.

"Queerfeministischer Nachtspaziergang". Der Aufruf hing in Berns Strassen, an Busstationshäuschen und an Stromkästen. Irgendwo beim Plakat fand sich eine kleine Notiz: "Wilder, wütender und selbstbestimmter Spaziergang - FLTIQ-Menschen (keine Cis-Männer)". FLTIQ? Mit der Abkürzung sind Frauen, Lesben, Transmenschen, Intermenschen und Queers gemeint. Organisiert hat dies alles eine basisdemokratische Gruppe aus "weissen jungen Cis-Frauen ohne Migrationshintergrund" mit dem wichtigen Anliegen, emanzipatorische Kämpfe mitzutragen, sie zu verbinden und FLTIQs mit verschiedenen Hintergründen zu vereinen. Cis oder Cisgender bezeichnet Personen, deren Geschlechteridentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt, als Gegenpart zu Transgender. Kritisch reflektieren die Organisatorinnen ihre "Privilegien der Herkunft" und möchten sie dekonstruieren. Alle zusammen kämpfen gegen die gesellschaftliche Unterdrückung und Diskriminierung aufgrund Herkunft, ökonomische Verwertbarkeit, Aussehen, Fähigkeit und Alter.

Schutzräume vor Stereotypen

Unterdrückung fängt ja bekanntlich schon im kleinen Alltag an: "Auf unsere Getränke aufpassen zu müssen, weil wir sonst Gefahr laufen, ungewollt Substanzen einzunehmen", "dass unser Leben entweder als Mutter und Hausfrau und/oder in einer Karriere enden soll" oder "die Tabuisierung von Selbstbefriedigung" nervt die QueerfeministInnen.

Der Forderungskatalog in ihrem Flyer ist dementsprechend lang und das ist auch gut so. Die AktivistInnen versuchen, sich grossräumig zu verlinken, die Kämpfe zu verbinden, sich mit Texten von queeren Feministinnen zu bilden und darüber zu diskutieren. Ein schweizweiter Mailverteiler soll auf die Beine gestellt werden, und in verschiedenen Lokalen finden Veranstaltungsreihen statt.

FLTIQ-Veranstaltungen sind notwendig, weil öffentlich bezeichnete Räume nicht frei von Machtverhältnissen, Hierarchien und damit verbundenen Ausschlüssen sind. Unterdrückung ist aber zum Teil nur schwer erkennbar, sagen die AktivistInnen. Deshalb müssen Räume ausserhalb eines Cis-Männer dominierenden Alltags, einen Schutzraum vor sexistischen, heteronormativen Stereotypen, sexuellen und sexistischen Übergriffen, verbaler und physischer Gewalt, sowie jeglicher Form von Homophohie und Transphobie geschaffen werden. Plätze, um sich selbst zu reflektieren, eigene Unterdrückungsmuster zu hinterfragen und zu bekämpfen. Auch Cis-Männer sind - nach anfänglichen Beschwerden und sehr viel Stunk - in der Berner Bewegung mit dabei: Sei es mit der Kocharbeit für die Vokü nach der Demo oder bei kritischen Auseinandersetzungen wie einer "Diskussion über Rollenbilder und Mackertum in der linken Szene" oder im "Workshop: Kritische Männlich*keiten".

Ohne Schwule

Interessanterweise sind beim Konzept FLTIQ - anders als bei LGBT (Lesben, Schwule, Bissexuelle und Transgender) - schwule und bissexuelle Männer nicht mit dabei. Als einer der Gründe für den Nicht-Miteinbezug wird der teilweise vorhandene "schwule Sexismus" angegeben. Es gebe einen Widerspruch, wenn "unterdrückte Minderheiten" für Gleichstellung und Anerkennung in der Gesellschaft kämpfen. Sie versuchen, sich ins herrschende System einzuordnen, nehmen die Unterdrückungsmechanismen an und solidarisieren sich kaum mehr mit anderen.

Es ist so, dass in der FLTIQ-Bewegung mehrheitlich noch weisse, gebildete Cis-Frauen sind. Doch das ist nicht die einzige Kritik. Wenn man sich umhört, sagen manche, dass hier die normale Hierarchie, wo Cis-Männer an der Spitze stehen, einfach umgedreht wird und Räume geschaffen werden, wo ebenfalls Ausschluss vorherrscht. Bei dieser Identitätspolitik mit wieder aufgenommenen biologischen Kategorien Frau/Mann stellen Kollektive Konstrukte auf, wo bestimmte "Identitäten" teilnehmen dürfen und andere nicht. Bisher logische "Verwandte" wurden ausgeladen, weil sie innerhalb der Bewegung dominante Positionen eingenommen, aber ausserhalb der Bewegung trotzdem heute noch eine schwierige Position haben.

Die Entwicklung in Bern, in der Schweiz und anderswo ist schlussendlich eine Neuorientierung der Szene - mit anderen Schwerpunkten. Heutige AktivistInnen haben sich dafür entschieden, diesen Weg zu gehen: "Wild, wütend und selbstbestimmt!"

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 15/16/2017 - 73. Jahrgang - 12. Mai 2017, S. 10
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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vorwärts erscheint 14-täglich,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juli 2017

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