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VORWÄRTS/1342: Ein Staatsfeind in der Schweiz


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 41/42 vom 7. Dezember 2017

Ein Staatsfeind in der Schweiz

von Tai Idri


Langsam gelangt auch Baluchistan ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. In Genf waren "Free Baluchistan"-Plakate zu sehen. Es wurden Fälle bekannt, in denen die Schweiz hiesigen Baluchinnen die politischen Aktivitäten einschränkte. Als Vorwand dienen Verbindungen zu angeblichen Terrorgruppen.


Katalonien ist in aller Munde. Aus Kurdistan gibt es täglich News. Tibet kennt jedeR. Aber Baluchistan? Dass es auch in Pakistan, im südwestlichen Teil, in dem das Volk der BaluchInnen eine knappe Bevölkerungsmehrheit bildet, eine Unabhängigkeitsbewegung gibt, dürfte noch den wenigsten bekannt sein. Im September versuchten aber baluchische AktivistInnen offenbar, in der Schweiz für mehr Bewusstsein für ihr Anliegen zu sorgen: In Genf war im Rahmen einer politischen Werbekampagne auf Bussen und auf Plakaten die Aufschrift "Free Baluchistan" (Freiheit für Baluchistan) zu lesen. Die Kampagne führte zu Spannungen zwischen der Schweiz und Pakistan. Die pakistanischen Behörden forderten vom Bund die Entfernung der Plakate (wozu Letzterer allerdings nicht die Befugnis hat). Laut Pakistan sei die Gruppe hinter der Werbeaktion mit der Befreiungsarmee von Baluchistan verbunden, die bewaffnet für die Unabhängigkeit der Provinz kämpft und deshalb offiziell als Terrorgruppe eingestuft wird. Ähnlich wie im Falle der baskischen oder der kurdischen Unabhängigkeitsbewegung werden auch bei den BaluchInnen jeder separatistischen oder nationalistischen Gruppe automatisch Verbindungen zu den bewaffneten Kräften angedichtet.


Unerbittliche Härte

Schon seit der Unabhängigkeit Pakistans im Jahre 1947 gibt es Konflikte zwischen der zentralen Regierung und dem baluchischen Volk. Die Forderungen der BaluchInnen laufen von mehr politischer Autonomie hin zur vollständigen Lostrennung von Pakistan. Die Provinz Baluchistan ist sehr dünn besiedelt. Sie ist die grösste und ärmste Provinz Pakistans, gleichzeitig Hauptlieferantin von Gas, wobei sie am Gewinn kaum beteiligt wird. Als grösste Provinz erhält sie nur den kleinsten Anteil an der Verteilung des Staatsbudgets. Die wirtschaftliche Lage der BaluchInnen ist schlecht. Über 50 Prozent leben unter der Armutsgrenze. In der Provinz Baluchistan und Sindh kommt es zur Hälfte aller Anschläge gegen staatliche Sicherheitskräfte, wohl auch durch IslamistInnen. Ihre Bewegung leidet allerdings darunter, nicht geeint zu sein aufgrund von Stammeskonflikten. Auch geht die pakistanische Staatsmacht mit unerbittlicher Härte gegen die SeparatistInnen vor, es wird von einem Krieg gegen die BaluchInnen gesprochen. Gemäss der Menschenrechtsorganisation Voice for Baloch Missing Persons kommt es in Baluchistan zum Verschwindenlassen von AktivistInnen, zu Vertreibungen von Populationen und zu extralegalen Hinrichtungen. Tausende BaluchInnen wurden entführt und viele von ihnen sind in Gewahrsam des pakistanischen Staates getötet worden. Die Baloch Human Rights Organization berichtet von über 400 getöteten und etwa 2000 verschwundenen AktivistInnen im Jahr 2016.

Pakistan beschuldigt gerne Indien, die baluchischen SeparatistInnen zu unterstützen. Durch die ewige Rivalität zwischen den Ländern ist der Vorwurf sicher nicht ganz abwegig. Der Westen hat sich in seiner Heuchelei bei diesem Konflikt bisher zurückgehalten. Die RebellInnen werden im Fall Baluchistans nicht unterstützt, weil Pakistan eine verbündete Nation ist. Die USA pumpen Milliarden an Militärunterstützung ins Land und versorgen die pakistanische Regierung mit tonnenweise Waffen.


Bewusste Verzögerung

Ende November hat ein zweiter Vorfall Baluchistan für eine knappe Sekunde ins öffentliche Bewusstsein der Schweiz befördert. Der Anführer der Baloch Republican Party, Brahamdagh Khan ßugti, lebt seit sieben Jahren in der Schweiz. In Pakistan gilt er als Staatsfeind Nummer eins. Seiner Frau und seinen Kindern wurde bereits politisches Asyl gewährt, er selber wartet noch immer auf einen Entscheid. Angeblich wird der Entscheid von den Schweizer Behörden bewusst verzögert, um die pakistanische Regierung ruhigzustellen. Der "Tagesanzeiger" machte nun bekannt, dass bei Bugti eine Massnahme angewandt wurde, die noch nie zuvor gebraucht wurde: Bugti wurde mit einem politischen Tätigkeitsverbot belegt. Als Grund werden - in Übereinstimmung mit Pakistan - Verbindungen zur Befreiungsarmee Baluchistans vorgebracht. Bugti selber bestreitet den Vorwurf; er habe mit dem bewaffneten Widerstand nichts zu tun.


Friedliches Referendum

Eine Woche zuvor war der Schwager von Bugti an der Einreise in die Schweiz gehindert worden, weil er "eine Gefahr für die internationalen Beziehungen" darstellte. Auch der Schwager engagiert sich für die Unabhängigkeit Baluchistans und wollte in Genf an einer Konferenz teilnehmen. Bugti. erklärt in einem Interview mit "Swissinfo", dass es ein Fehler war, in die Schweiz zu flüchten. Er möchte "Bewusstsein über die Situation in Baluchistan schaffen", was er hier nicht könne. Bugti, der nach eigenen Angaben aus einer der reichsten Familien Baluchistans stammt, sieht sich nicht als Terrorist. "Für die vergangenen 50 Jahre hat Pakistan unsere Ressourcen ausgebeutet, unser Land geraubt und unsere Leute getötet", erzählt Bugti und fragt: "Sind das keine terroristischen Aktivitäten?" Er fordert ein friedliches Referendum in Baluchistan darüber, ob die Menschen mit Pakistan leben wollen oder nicht.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 41/40 - 73. Jahrgang - 7. Dezember 2017, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Dezember 2017

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