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VORWÄRTS/1365: Politisches Erdbeben in Italien


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 09/10 vom 15. März 2018

Politisches Erdbeben in Italien

von Siro Torresan


Die Wahlen gewonnen hat das Mitterechtsbündnis, das nun von der rassistischen Lega angeführt wird. Die Siegerin ist aber die 5-Sterne-Bewegung. Beide verfügen nicht über eine Mehrheit im Parlament. Die bisher regierenden SozialdemokratInnen landen auf dem Schrotthaufen, die radikale Linke in der Bedeutungslosigkeit. Quo vadis, bella Italia?


"Der Amoklauf eines Rassisten in Macerata, der während Stunden durch die Stadt fuhr und auf Schwarze schoss, hat bewirkt, dass vor allem über die Bootsmigranten gestritten wurde, in schrillen Tönen", erinnert die "NZZ" am 5. März in ihrem Kommentar zu den italienischen Wahlen. Mehr noch: Der Vorfall, der sich während der Wahlkampagne ereignete, löste eine Welle der Solidarität mit dem Täter aus. Dies war so quasi der Vorbote des Wahlergebnisses.

Der Sieger der Wahlen heisst Matteo Salvini, unangefochtener Führer der ultrarechten, populistischen Lega. Zum Vorfall in Macerata gab er zu Protokoll: "Schuld sind jene, die unser Land mit Illegalen vollstopfen." Eine der ersten GratulantInnen war Marie Le Pen aus Frankreich, die sich riesig über den Sieg "meines Freundes Matteo" freute.

Landesweit kam die Partei von Salvini auf 17,53 Prozent und ist somit die stärkste Partei innerhalb des Mitterechtsbündnisses, das mit genau 37 Prozent Stimmanteile als stärkste Kraft aus den Wahlen hervorgeht. Vor fünf Jahren hatte die Lega, damals als Lega Nord angetreten, einen nationalen Stimmenanteil von gerade mal 4,02 Prozent. Sie war "nur" im Norden präsent, wo sie aber seit Jahren sehr gut in den lokalen Realitäten verankert ist. Ihr Krebsgeschwür hat sie nun aufs ganze Land ausgeweitet. Die Lega hat Forza Italia (FI), die Partei des Multimillionärs Silvio Berlusconi, überholt. FI wurde im Vergleich zum Wahlresultat von 2013 halbiert und sackte auf 14,52 Prozent ab. Es ist für Berlusconi eine bittere Niederlage. Berlusconi ist wohl Geschichte, endlich! Salvini hingegen erhebt laut polternd den Anspruch, die neue Regierung zu bilden und anzuführen.


Die Gewinnerin und der Verlierer

Salvini ist zwar der Sieger der Wahlen, aber nicht der Gewinner. Denn gewonnen hat mit 32,68 Prozent (!) der Stimmen die Movimento 5-Stelle (M5S), die 5-Sterne-Bewegung. Vor allem im wirtschaftlich schwachen Süden der Halbinsel hat die Bewegung der sogenannten ProtestwählerInnen alles abgeräumt. Die M5S bezeichnet sich weder als links noch als rechts, verspricht ein Grundeinkommen und die Lösung des Migrationsproblems. Wie sie es anstellen will, bleibt nebulös. Angeführt wird M5S von einem Mann namens Luigi Di Maio, geboren im Jahr 1986 in Avellino in der südlichen Region Kampagnen. Bis 2013 kannte ihn niemand ausserhalb seines Familien- und FreundInnenkreises. Dann wurde er ins nationale Parlament gewählt, wohlverstanden ohne irgendwelche politische Erfahrung. Fünf Jahre später stellt er jetzt als Wahlsieger den Anspruch, das Land zu regieren. Ob das gut kommen würde?

Eine historische Niederlage hat das Mittelinksbündnis erlitten. Ja, es ist eine Bankrotterklärung, die seinesgleichen in der Geschichte Italiens sucht: Noch nie sank die parlamentarische Linke in Italien so tief! Die von Matteo Renzi angeführte sozialdemokratische Regierungspartei der letzten fünf Jahren, der Partito Democratico (PD), erzielte gerade mal 18,72 Prozent. Das vom PD angeführte Mittelinksbündnis auf 22,85 Prozent. Renzi ist der grosse Verlierer der Wahlen. Er, der als "Verschrotter" angetreten war, ist jetzt selber da gelandet, wo sich die ganze parlamentarische und sozialdemokratische Linke wiederfindet: Auf dem Schrotthaufen!

Die linke Abspaltung vom PD, die Liste Liberi e Uguali (Frei und Gleich), schaffte als billigen Abklatsch des PD und mit 3,26 Prozent knapp den Sprung ins Parlament. In der Bedeutungslosigkeit mit 0,32 Prozent landete der im Juli 2009 gegründete Partito Comunista, eine Abspaltung der Abspaltung von Rifondazione Comunista.


Das Phänomen unterschätzt

Was sind die Gründe des massiven Zuwachses bei Lega und M5S? Spricht man mit Bekannten und FreundInnen in Italien, heisst es oft: Die Menschen sind müde, müde, müde und wütend. Müde von der erfolgslosen Jobsuche oder vom Job, wenn jeder Cent dreimal umgedreht werden muss und es bis Ende Monat dann doch nicht reicht. Müde davon, von ihren Eltern leben zu müssen. Müde vom Studium, das keine Perspektiven bietet, von der Korruption, den leeren Versprechen, der Bürokratie, vom Blick auf die Tausenden Arbeitslosen, BettlerInnen und Obdachlosen. Sie haben jene Parteien abgewatscht, die sie dafür für verantwortlich halten und jenen die Stimmen gegeben, die versprochen haben, dass alles anders und viel besser wird. So verschieden Lega und M5S sind, etwas haben sie gemeinsam: Sie haben es geschafft, sich als das Neue, das Unbefleckte und als einzige, glaubhafte Zukunftshoffnung zu verkaufen. Sie haben den müden und wütenden Menschen den Traum einer besseren Zukunft versprochen. Und das Träumen ist etwas von den wenigen Sachen, das sich alle ItalienerInnen noch leisten können.

"Wir haben das Phänomen M5S total unterschätzt. Wir dachten, der M5S hätte ihren Höhepunkt erreicht, und dass ein 'linker Raum' geöffnet wurde, auch weil links vom PD nichts Wahres entstanden ist. Der politische Raum, den wir als 'leer' interpretierten und mit unseren Inhalten füllen wollten, liegt heute beim M5S", erklärt Maurizo Coppola, Aktivist von Potere al Popolo (PaP) aus Neapel und ehemaliger Redaktor des vorwärts, auf Anfrage. Er fügt hinzu: "Umso erstaunlicher ist das Phänomen M5S, weil die Bewegung auf dem sozialen Terrain kaum anwesend ist: Kaum Plakate zu sehen, keine Platzkundgebungen, keine Demos, nix! Umso mehr muss die M5S also als eine 'Proteststimme' interpretiert werden."


Die "soziale Partei" aufbauen

PaP ist eine politische Basisbewegung, die im November 2017 ins Leben gerufen wurde. Sie hat an den Wahlen teilgenommen, auch wenn ihr Selbstverständnis weit über die Wahlen hinausreicht (siehe vorwärts Nr. 5/6). PaP wurde von rund 370.000 ItalienerInnen gewählt, was 1,13 Prozent entspricht. "Nach drei Monaten intensivster Basisarbeit sind wir natürlich enttäuscht über das Resultat, wir haben mehr erwartet, so um die 2 bis 2,5 Prozent", erläutert Genosse Coppola. In der kurzen Zeit, welche der Bewegung für die Kampagne zur Verfügung stand, gelang es ihr nicht, über ihre eigenen Kreise Stimmen zu gewinnen. Coppola: "Die Unentschiedenen oder diejenigen, die sich in Vergangenheit der Stimme enthielten, haben wir nicht überzeugen können." Wie es nun für die Bewegung weitergehen soll, ist für den Aktivisten klar: "Wir müssen dort weitermachen, wo wir vor den Wahlen aufgehört haben. Das heisst konkret beim Aufbau eines Netzes von GenossInnen, die auf dem sozialen Terrain intervenieren mit sogenannten Mutualismus-Projekten: Zum Beispiel medizinische Ambulatorien, ArbeiterInnenkammern, Auskunftsbüros für MigrantInnen etc. Wir müssen den 'Partito sociale', die 'soziale Partei', aufbauen."

Wie es mit Italien weiter gehen wird, weiss niemand. Weder Salvini mit seiner Lega noch Di Maio und seine M5S haben die nötigen Mehrheiten, weder im Parlament noch im Senat. Eine Regierungsbildung wäre nur mit den Stimmen der Abgeordneten des PD möglich, was Salvini und Di Maio kategorisch ausschliessen - zumindest noch im Moment. Italien ist nach den Wahlen unregierbar, was wenig verwundert.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 09/10 - 74. Jahrgang - 15. März 2018, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. März 2018

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