vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 23/24 vom 28. Juni 2018
Soziologie des Krankenhauses
von Sabine Hunziker
In den 70er Jahren versuchten Zürcher Medizinerinnen, im Dienste der Arbeiterinnen zu wirken und Alternativen zur bürgerlichen Medizin zu schaffen. Man diskutierte die Rolle zwischen Patientinnen und Pflegenden und hinterfragte den Reproduktionszweck des Krankenhauses. Zweiter Teil.
Die Basisgruppe Medizin organisierte in den 1970er Jahren
Arbeitskräfte und StudentInnen aus dem medizinischen
Dienstleistungsbereich und angrenzenden Bereichen, um spezifische
Probleme im Interesse der ArbeiterInnenklasse zu bearbeiten. Bekannt
wurde die Gruppe in Zürich auch durch ihre Transparente mit Hammer und
Sichel, wobei sich eine Schlange um den Griff des Hammers ringelt.
Diese Darstellung sollte sich auf den Äskulapstab beziehen, ein
Attribut des Asklepios, des Gottes der Heilkunde in der griechischen
Mythologie. Der Gruppe ging es bei ihren Arbeitstreffen und
gemeinsamen Aktionen darum, Alternativen zur bürgerlichen Medizin zu
schaffen. Dafür musste aber erst Verständnis dafür entstehen, was der
humanitär-ideologische Überbau überhaupt beinhaltete, um dann eine
kritische Haltung gegenüber dem Kosmos rund um das Krankenhaus
entwickeln zu können. Im Archiv zur Basisgruppe Medizin finden sich
viele Diskussionspapiere zu diesem Thema und es ist ersichtlich, dass
die AktivistInnen sich viel Zeit genommen haben, zuerst eine Art
Soziologie des Krankenhauses zu erarbeiten und besprechen, um dann auf
der Strasse aktiv zu werden.
Weniger gut lesbar sind die Zeilen auf den Bögen: Buchstaben des Typs Schreibmaschine reihen sich aneinander. Bestimmte Begriffe sind per Handschrift durchgestrichen und andere Textpassagen grob unterstrichen. Schnell hingeworfen wirken die Kommentare mit Bleistift. Klar wird, dies ist ein Rohmanuskript und nicht zur Veröffentlichung gedacht - eher um im engen Kreis der GenossInnen bearbeitet zu werden und es später eventuell in bereinigter Form öffentlich zu machen. Die gesellschaftliche Einstufung von Krankheit prägt Art und Weise der Auseinandersetzung mit dieser - so kann man zu Beginn lesen. In frühen Kulturen wurde Krankheit oft als Strafe für Verfehlungen angesehen oder als Werk von "bösen" Kräften eingeschätzt. Heilen konnte hier nicht der Mensch selber, sondern man musste sich mit der spezifischen Situation auseinandersetzen und allenfalls an die beleidigte Gottheit einen Tribut zahlen. Später traten an die Stelle der magischen Kräfte die Möglichkeiten zur Heilung mit der Natur. Der Arzt wurde Helfer und konnte die Heilung unterstützen, aber nicht initiieren und gegen das natürliche Tempo vorantreiben. Heilung blieb ein Wunder, das neben der Erfahrung der ÄrztInnen eigentlich ein Geheimnis blieb. Im Christentum veränderte sich das Bild rund um Krankheit erheblich. Krankheit und Leiden wurden hier zur Hilfe, um einer schlechten Welt zu entsagen und die Gemeinschaft mit Jesus zu erfahren. Krankheit war eine Bürde, die als eine Art Schicksal getragen werden musste. Erst das Aufkommen des naturwissenschaftlichen Denkens führte zur jetzigen Sichtweise: Gesundheit ist "machbar" geworden, wo der Mensch selber viel Einfluss hat über seinen Genesungsprozess und den Erhalt seiner Vitalität.
An die Stelle des ursprünglichen Zuhause als Genesungsraum und die Pflegeleistung der Verwandten und Familie trat die Heilstätte, die Bewahr- und Isolieranstalt und schlussendlich das Krankenhaus. Erst mit dem Aufkommen des Kapitalismus entwickelte sich das Krankenhaus zu einer wahren Reproduktionsanstalt mit teuren Apparaten, verschiedenen FachärztInnen und einer technisierten und spezialisierten Medizin. Der objektive Zweck des Krankenhauses ist die "Reparation/Reproduktion" der Arbeitskraft. Diese Reproduktionsmotivation dieser Institution muss verschleiert werden und Handlungen gegen aussen zur Bevölkerung hin nicht primär zweckorientiert sein. Auch das Personal verinnerlicht sich eine humanitäre Ideologie bei ihrer täglichen Arbeit. Eine straffe hierarchische Gliederung innerhalb des Krankenhauses verhindert autonome Regungen bei Personal und PatientInnen - so wird das jeweilige "Rollenverständnis" gefördert.
Die PatientInnen selber werden bei ihrem Krankenhauseintritt mit einer neuen und oft unverständlichen Teilwelt konfrontiert. Das Personal ist neutral weiss gekleidet, spricht mit einem Fachwortschatz und im Einsatz stehen eine Reihe den PatientInnen unbekannter Apparate, die in Räumlichkeiten einer verwinkelten Spitalarchitektur gelagert werden. So wird die Rolle der PatientInnen den anderen automatisch untergeordnet, da sie auch aus ihrem gewohnten Umfeld teilisoliert werden. Das Personal selber orientiert sich bei der Arbeit nicht an der Zweckbestimmung des Krankenhauses, sondern an Inhalten des humanitär-ideologischen Überbaues. Sachliche Zuneigung, ohne sich jedoch zu tieferen persönlichen Kontakten auszuweiten, wird hier verlangt. Ursprünglich vom Bild der Nonne ausgehend, ist im Handeln des Personals Aufopferungsideologie enthalten und gleichzeitig eine starke Kollektivität, die sich z.B. in klar vorgegebenen Handlungsabläufen oder Kleidung zeigt. Treffen PatientInnen und Personal aufeinander, so sind die Beziehung völlig entpersönlicht und asymetrisch.
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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 23/24 - 74. Jahrgang - 28. Juni 2018, S. 10
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juli 2018
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