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VORWÄRTS/1403: Nachspiel eines Vulkanausbruchs


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 27/28 vom 6. September 2018

Nachspiel eines Vulkanausbruchs

von Andreas Boueke


Ein Vulkanausbruch in Guatemala. Einige Tage lang schenken die Medien der Welt einem kleinen Land in Mittelamerika etwas Aufmerksamkeit. Doch noch bevor auch nur klar ist, wie viele Menschen gestorben sind, wird nicht weiter berichtet.


Die Menschen waren es gewohnt, mit dem Vulkan zu leben. "Oft konnten wir hören, wie es im Inneren des Bergs rumorte", erinnert sich Paulino Orisabal. Bis zum 3. Juni wohnte der alte Mann mit seiner Familie in dem Dorf Rodeo an den südlichen Abhängen des Hochlands von Guatemala. Morgens warf der "Vulcano de Fuego" Schatten auf sein Dach. "Wir haben uns nie gross Sorgen gemacht, wenn mal ein wenig Asche vom Himmel fiel." Der 3763 Meter hohe Berg ist einer von drei aktiven Vulkanen des Landes. Immer wieder spuckt er schwarzen Sand aus. "Für uns war das normal. Mit so einer Tragödie hatte niemand gerechnet." Tatsächlich aber wusste das staatliche Institut zur Katastrophenvorbeugung (Conred), dass die Bevölkerung dieser Gegend einem Risiko ausgesetzt war, mindestens zwanzigtausend Menschen. Doch wohin hätte man die alle umsiedeln sollen?

Der Schlosser Edgar Sicinarjai besass ein kleines Grundstück in Rodeo, auf dem er mit seiner Familie in einem einfachen Haus aus Adobe-Wänden mit Wellblechdach wohnte. "Das war unser Zuhause. Wir hätten gar nicht die Möglichkeit gehabt, woanders neu anzufangen." Jetzt aber bleibt ihm nichts anderes übrig. Sein Haus steht zwar noch, doch Conred hat das Gebiet als unbewohnbar deklariert. Er beklagt sich nicht. Anderen ist es schlimmer ergangen. "Meine Schwägerin wohnte mit ihrem Mann und dem achtjährigen Sohn in Los Lotes. Sie konnten sich nicht retten. Ihr Haus ist jetzt vier Meter unter der Lava."


Umgeben von Lava und Hitze

Das Dorf San Miguel Los Lotes lag keine neun Kilometer vom Krater des "Vulcano del Fuego" entfernt. Als sich die BewohnerInnen der Gefahr durch eine Eruption bewusst wurden, war es für viele schon zu spät. Innerhalb von Minuten hatten Lavamassen die Hütten und Häuser unter sich begraben. Jede der drei kleinen Gemeinden hatte einen Pastor. Nur einer hat überlebt, Pastor José David Gracia. "Vor unserer Kirche stand ein Lastwagen. Meine ganze Familie sass schon auf der Ladefläche, 45 Personen." Doch bevor der Pastor losfahren konnte, hatte die Lava die Strasse unter sich begraben. "Wir rannten zurück in die Kirche und umarmten uns. Rechts und links floss die Lava vorbei. Es wurde furchtbar heiss. Doch dann begann es zu regnen und die Kirche blieb verschont."

Vor der Katastrophe lebten in San Miguel Los Lotes mindestens 2000 Menschen, es könnten auch 3000 gewesen sein. Niemand kennt die genaue Zahl. Die Überlebenden sind überzeugt, dass die allermeisten ihrer NachbarInnen umgekommen sind. Wer konnte, floh Richtung Süden auf der Strasse in die Stadt Escuintla. Das erste grosse Gebäude am Strassenrand ist die Kirche Guadalupe. Sie wurde erst vor vier Jahren gebaut. Damals rechnete niemand damit, dass die Kirche wochenlang dazu dienen würde, 400 heimatlos gewordenen Menschen Schutz zu bieten.


Gesichter voller Asche und Tränen

Mildrid Pacheco vom Sozialkomitee der Pfarrei war gerade dabei, Akten zu ordnen, als die ersten Menschen in das Gotteshaus stolperten. "Sie weinten und heulten. Andere kauerten sich an die Wand und zitterten am ganzen Körper. Die meisten waren ganz und gar mit grauer Asche bedeckt. Kinder schrien, Mütter suchten ihre Babys. Viele haben ihre Angehörigen bis heute nicht gefunden."

Die AnwohnerInnen der Umgebung reagierten sofort. Innerhalb von Stunden kamen die ersten Pickup-Trucks, angefüllt mit Lebensmittelspenden und Kleidern. Plötzlich war Mildrid Pacheco die Koordinatorin einer grossen Hilfsaktion. Derweil sagte der guatemaltekische, rechte Präsident Jimmy Morales während einer abendlichen Pressekonferenz in der Hauptstadt: "Es beschämt mich zu sagen, aber das Haushaltsgesetz erlaubt es nicht, dass wir auch nur einen Cent für solcherart Katastrophen ausgeben."


Traumatische Erinnerungen

Nach Wochen in Notunterkünften beginnen die ersten Überlebenden, sich Gedanken über ihre Zukunft zu machen. "Wir sind entkommen", sagt der sechzehnjährige Romulo. "Aber die meisten meiner MitschülerInnen sind gestorben." Der Junge ist froh, dass er sein Smartphone retten konnte, denn in seiner Notunterkunft gibt es keinen Raum, wo er mal länger allein sein kann. Mit den Kopfhörern auf den Ohren gelingt es ihm, abzuschalten. Romulo ist dankbar, dass er demnächst in ein grösseres und besser ausgestattetes Lager umziehen wird. Der Junge hofft, dort möglichst bald wieder in die Schule gehen zu können. "Jemand vom Bildungsministerium war hier und hat mir gesagt, ich würde auch versetzt werden, wenn ich jetzt nicht mehr am Unterricht teilnehme. Aber das will ich nicht. Ich möchte auch die nächsten fünf Monate etwas lernen."

Doch niemand weiss, was werden wird. Die überlebenden Familien aus Los Lotes haben all ihr Hab und Gut verloren, ihr Haus, ihr Grundstück, ihre Arbeit. "Ich bin ja bereit für einen Neuanfang", sagt José Perez. "Aber dafür brauche ich einen Ort für meine Familie und Geld. Wir habe nichts mehr." Der kräftige Mann mit Schnurrbart trägt ein gelbes Hemd, das er sich aus einem Haufen gespendeter Altkleider gezogen hat. Zwei seiner Kinder sind gestorben und viele NachbarInnen. "Um mich herum war Jammern und Schreien. Ich konnte einige Kinder hochheben und auf festen Boden stellen. Es ist ein Wunder, dass ich keine Verbrennungen habe. Ich musste über Lava laufen. Aber dann ging nichts mehr. Ich habe die flehenden Menschen zurückgelassen und bin um mein Leben gerannt."


Hunderte oder Tausende Tote?

Die guatemaltekische Regierung schenkt dem Desaster wenig Aufmerksamkeit und überlässt die Nothilfe vorwiegend privaten und kirchlichen Initiativen wie dem Hilfswerk Adveniat. José Perez erwartet überhaupt nichts von der Regierung, aus gutem Grund. Als vor drei Jahren Hunderte Familien in El Cambray, einem Stadtviertel in der Hauptstadt, ihre Häuser durch einen Erdrutsch verloren hatten, versprach die Regierung schnelle Hilfe und den Bau einer neuen Siedlung. Noch heute warten die meisten Betroffenen auf eine Einlösung des Versprechens.

Diesmal wurde schon bald nach dem Vulkanausbruch deutlich, dass die rechte Regierung versuchen würde, das Ausmass des Desasters herunterzuspielen. Offizielle Stellen sprechen von rund 200 Toten. Das entspricht der Zahl der Leichen, die geborgen wurden. "Denen ist das Leben von armen DorfbewohnerInnen wie uns nichts wert," sagt José Perez. "Am 3. Juni sind weit über Tausend Menschen gestorben, vielleicht sogar Zweitausend. Aber sie wollen den Toten nicht einmal eine Nummer geben."

Pater Gerardo Salazar kann die Frustration gut verstehen. San Miguel Los Lotes war Teil seiner Pfarrei. "Ich bin oft dort gewesen. Es war ein Dorf mit vielen hundert Häusern. Zu jeder Familie gehörten mindestens fünf Personen, meist aber viel mehr." Pater Gerardo erinnert sich an Familien, bei denen er zu Gast war, deren Kinder er getauft und verheiratet hat. "Die allermeisten von ihnen sind jetzt unter der Lava begraben. Das sind sicher weit über tausend Menschen."

Die Regierung hat das ganze Dorf zum Friedhof erklärt und die Schaufelbagger abgezogen. Der zuständige Minister argumentiert, das Graben sei zu gefährlich. "Viele Angehörige gehen trotzdem hin", berichtet Pater Gerardo. "Mit Hacken und Schaufeln suchen sie nach ihren Toten. Sie wollen ihnen zumindest ein würdevolles Begräbnis geben. Wir wissen, dass ihre Körper dort liegen."

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 27/28 - 74. Jahrgang - 6. September 2018, S. 9
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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Einzelnummer: Fr. 4.-
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Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. September 2018

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