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VORWÄRTS/1425: Der Schweizer Landesstreik von 1918 - Gespräch mit Pierre Elchenberger


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 41/42 vom 20. Dezember 2018

Schwerpunkt Landesstreik
Früchte für die Zukunft?

von Joël Depommier


Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs fand vom 12. bis 14. November 1918 auf Veranlassung des Oltener Komitees der einzige Generalstreik in der Schweizer Geschichte statt. Ein Gespräch mit dem Dozenten für Zeitgeschichte an der Universität Zürich, Pierre Elchenberger, der das Ereignis erforscht.


Frage: Was sind die internationalen und nationalen Gründe, die zum Landesstreik geführt haben?

Pierre Eichenberger: Der Hauptgrund für den Ausbruch dieses Generalstreiks ist auf die massive Verarmung eines grossen Teils der Bevölkerung während des Ersten Weltkriegs zurückzuführen. Die Preise stiegen schneller als die Löhne. Damit sank der Reallohn gegenüber der Vorkriegszeit um rund dreissig Prozent. Während die Versorgung der Schweiz sowohl durch die Kräfte der Entente (Frankreich, England, das zaristische Russland) als auch durch die Mittelmächte (Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien) stark eingeschränkt war, organisierten der Bundesrat und die Kantone bis 1917 keine Lebensmittelrationierung, um den Schwarzmarkt und die steigenden Preise einzudämmen.

Die Armut wurde noch verschärft durch die Tatsache, dass die Männer, die vom Militär aufgeboten wurden, keine Kompensation für ihren Arbeitslohn bekamen. Ihr Sold - der bloss dazu reichte, um eine Schachtel Zigaretten oder ein Bier zu bezahlen - erlaubte es ihnen nicht, ihre Familien zu unterstützen. Die Frauen ihrerseits, die die Männer in den Fabriken oder Werkstätten ersetzten, erhielt nur die Hälfte des Gehalts eines Mannes. Die Familien fielen zunehmend in die Armut. Dies zeigt sich in der Entwicklung von Suppenküchen. In Zahlen: Im Frühjahr 1918 waren fast 700.000 SchweizerInnen auf öffentliche Hilfe angewiesen, das waren fast zwanzig Prozent der Bevölkerung.

Gleichzeitig florierte die mit Banken und Industrie verbundene Bourgeoisie, so dass der Bundesrat eine temporäre Steuer auf Kriegsgewinne einführen wollte. Auch der Agrarsektor, vom Staat stark geschützt, entwickelte sich gut. Die Erhöhung des Milchpreises im Frühjahr 1918, die das Ergebnis einer Entscheidung des Bundesrates zugunsten der BäuerInnen auf Kosten der StadtarbeiterInnen war, ist zum Beispiel sehr bedeutsam und symbolisch. Die Reduzierung dieser Erhöhung war eine der ersten Forderungen des Oltener Komitees, das im Februar 1918 von der Sozialdemokratischen Partei und dem Gewerkschaftsbund ins Leben gerufen wurde. Die Forderung des Komitees führte im April 1918 zu einem Kurswechsel des Nationalrats und des Ständerats in dieser Angelegenheit.

Frage: Hat die Tatsache, dass der Bundesrat und die Armee während des Streiks 100.000 Soldaten gegen die 250.000 bis 400.000 Streikenden mobilisiert haben, die Schweiz an den Rand eines Bürgerkriegs geführt?

Pierre Eichenberger: Das ist schwierig, zu beantworten, da der Oltener Ausschuss am 13. November den Abbruch des Streiks beschloss, weil er befürchtete, dass der Bundesrat Gewalt gegen die Streikenden anwenden würde. Was man sagen kann, ist, dass die Fantasie eines Bürgerkriegs hauptsächlich auf der Seite der Armee und der privaten Milizen der Bürgerwehr (die sich 1919 auf Bundesebene innerhalb des Schweizerischen Vaterländischen Verbands sammelten) lag. Die Armee und die Bürgerwehr waren die einzigen mit Waffen. Die Streikenden hingegen waren unbewaffnet. Auf der linken Seite war der Einsatz von Gewalt marginal.

Frage: Was war der wirkliche Einfluss des Oltener Komitees auf diese Streikbewegung?

Pierre Eichenberger: Da die Forderungen der Gewerkschaften und der SP von den Patrons und dem Bundesrat nicht gehört wurden, wurde das Oltener Komitee als Exekutive der ArbeiterInnenbewegung geschaffen, um sowohl politisch als auch wirtschaftlich Einfluss nehmen zu können. Sie erhöhte ihren Einfluss und erzielte schnell Erfolge bei der Senkung des Milchpreises oder bei der Abschaffung des ergänzenden Zivildienstes für die Landwirtschaft, der von der Regierung im Oktober 1917 beschlossen worden war. Bei anderen Gelegenheiten folgte das Oltener Komitee einfach dem Beispiel, wie es während des Streiks der Zürcher BankarbeiterInnen Anfang Oktober 1918 geschehen war. Die Beziehung des Oltener Komitees zur sozialen Bewegung ist daher komplex, ging in ihrer Richtung aber nicht einfach nur von oben nach unten.

Frage: Der Bundesrat war während des Landesstreiks kompromisslos. Wie verhielt er sich vorher in den Kriegsjahren?

Pierre Eichenberger: Im August 1914 erhielt der Bundesrat unbeschränkte Vollmachten. Die demokratischen Rechte wurden ausgesetzt, ebenso der Schutz der ArbeiterInnen, der auf Eis gelegt wurde. Es handelte sich also um eine relativ autoritäre Regierungsform. Wir sollten jedoch nicht glauben, dass die Regierung den Forderungen der Bevölkerung und des Oltener Komitees gegenüber taub war. Während der Sonder-Sitzung des Parlaments, am ersten Tag des Generalstreiks, hielt es Bundesrat Felix Louis Calonder für möglich, zwei sozialdemokratische Volksvertreter in der Regierung willkommen zu heissen, und brachte die Schaffung einer AHV ins Spiel.

Die Armee unter der Führung von General Ulrich Wille und dem Zürcher Kommandanten Emil Sonderegger war dagegen extrem reaktionär. Sie verteidigte den Einsatz von Kavallerie und Maschinengewehren gegen Streikende, während der Bundesrat zurückhaltender war. Nicht zu vergessen war schliesslich die Seite der ArbeitgeberInnen, die auch ein weiterer wichtiger Akteur war und den Bundesrat beeinflusste. Insbesondere der Bankensektor drängte den Bundesrat, energisch gegen die Streikenden vorzugehen. Ende September und Anfang Oktober 1918 gab es einen Grossstreik der Zürcher Bankangestellten, der eine Reaktion der Bankiers hervorrief, die auf den Zufluss von ausländischem Kapital in die Schweiz angewiesen waren. Sie wollten nicht, dass ihr Image durch soziale Bewegungen getrübt würde. Die Bankiers forderten daher von den Behörden, dass sie handeln und Repressionen anwenden sollten.

Frage: Im Jahr 1917 schuf der Bundesrat im Namen des Kampfes gegen die Präsenz von AusländerInnen in der Schweiz (Überfremdung) eine zentrale Ausländerpolizei. Welche Auswirkungen hatte diese Richtlinie?

Pierre Eichenberger: Der Erste Weltkrieg markierte einen Wendepunkt in den Beziehungen zum Ausland. Es war der Schauplatz einer beispiellosen Zunahme der Fremdenfeindlichkeit. Dieses Thema hat auch eine wirtschaftliche Dimension. Vor dem Krieg war die Schweizer Industrie auf ein hohes Mass an ausländischem Kapital angewiesen. In vielen Verwaltungsräten gab es Deutsche oder Franzosen. Aufgrund der doppelten Blockade des Ersten Weltkriegs mussten die Schweizer Unternehmen nachweisen, dass sie mit keiner Seite verbunden sind, und wurden die ausländischen Verwalter los. Dies könnte als "Verstaatlichung" des Schweizer Kapitalismus bezeichnet werden.

Frage: Wie beurteilen Sie als Historiker die Rolle dieses Generalstreiks für die weitere Entwicklung der Schweiz?

Pierre Eichenberger: Das hängt von der Sichtweise ab. Das Ergebnis des Streiks war Gegenstand von Kontroversen innerhalb der Sozialdemokratie. Während Robert Grimm, der Vorsitzende des Oltener Komitees, glaubte, dass der Streik für die Zukunft Früchte tragen würde, vertrat der spätere Bundesrat Ernst Nobs die Ansicht, dass er viel zu früh abgebrochen worden war und ohne bis zum Schluss zu kämpfen. In den Jahren unmittelbar nach dem Streik scheinen mir die Folgen positiv zu sein. Anfang 1919 wurde die Wochenarbeitszeit von 54 bis 59 Stunden auf 48 reduziert. Bundesrat Edmund Schulthess leitete in den Tagen nach dem Streik die Diskussion über die Gründung einer AHV ein und 1925 wurden die verfassungsrechtlichen Grundlagen dieser Versicherung geschaffen. Ferner fanden vermehrt GAV-Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und ArbeitgeberInnen statt. Das war eine Gewerkschaftsforderung, die die Patrons bis zum Generalstreik ablehnten. Es wurde auch ein erster nationaler GAV unterzeichnet. Ein weiteres Beispiel: Auch wenn es keine mechanischen Zusammenhänge zwischen dem Anspruch von 1918 auf die AHV und ihrer Umsetzung im Jahr 1948 gibt, sei daran erinnert, dass der Wunsch, die Wiederholung eines Generalstreiks um jeden Preis zu vermeiden, ab 1943 stark zur Realisierung des Projekts beigetragen hat. Die Erinnerung an den Streik blieb sehr stark in den Köpfen der Menschen.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 41/42/2018 - 74. Jahrgang - 20. Dezember 2018, S. 10
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
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Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Januar 2019

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