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VORWÄRTS/1426: Der Schweizer Landesstreik von 1918 - Der Anwalt des Generalstreiks


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 41/42 vom 20. Dezember 2018

Der Anwalt des Generalstreiks

von Sabine Hunziker


Nach dem Abbruch und Scheitern des gesamtschweizerischen Generalstreiks vom November 1918 leitete die Militärjustiz gegen 3504 Personen Strafverfahren ein. Der Jurist David Farbstein verteidigte in Bern geschickt angeklagte Protagonisten wie Robert Grimm, Fritz Platten, Friedrich Schneider und Ernst Nobs.


Um die Forderungen des Oltener Aktionskomitees zu stützen, wurde am 12. November 1918 der Generalstreik ausgerufen - vorerst unbefristet. Bei diesem politischen und ökonomischen Kampf mit Forderungen wie Frauenstimmrecht oder Achtstundentag beteiligten sich 250.000 Streikende und konnten eine Stärke aufbauen, so dass der Bundesrat ein bedingungsloses Ende des Streiks forderte. Die Streikleitung fügte sich dieser Weisung am 14. November notgedrungen, da sie fürchtete, dass die Armee brutal zum Einsatz kommen würde. Nach dem Abbruch des Streiks begann die Repression, Gefängnisse füllten sich und die Militärjustiz leitete gegen 3504 Personen Strafverfahren ein, die zu 127 Verurteilungen führten. Ab Januar 1919 fanden Prozesse gegen Mitglieder der Leitung im Generalstreik statt. Nicht der eigentliche Streik war im Zentrum: Wer könnte auch ein Generalstreik inklusive berechtigten Forderungen mit vielen TeilnehmerInnen verurteilen? Vielmehr wurden wenige "Anführer" in den Focus genommen und die Anklage handelte von Meuterei und Widerhandlung gegen den Bundesratsbeschluss vom 11. November 1918, welcher unter anderem EisenbahnerInnen unter die Militärgesetze stellte. Bei den Kämpfen hatte das Oltener Aktionskomitee Aufrufe an die Arbeiterschaft erlassen, darunter auch adressiert an Wehrmänner und an EisenbahnerInnen. Mit Flugblättern wurden die Männer aufgefordert, die Waffen nicht gegen das eigene Volk zu wenden und zur "Vermeidung blutiger Konflikte" Soldatenräte zu bilden, um im Einvernehmen mit den Arbeiterorganisationen zu agieren. Damit forderte man Militärangehörige zu Ungehorsam auf. Das Setzen und Drucken von Aufrufen ist schon ein Verstoss gegen die Disziplin der Armee, so war die Anklage im Gericht.


Gefängnis für vier Genossen

Verteidiger David Farbstein plädierte für unschuldig, weil der Bundesratsbeschluss vom 11. November noch nicht publiziert war - also noch nicht Rechtskraft erhalten hatte - als der Aufruf gemacht wurde. Alle waren zu diesem Zeitpunkt Zivilisten und zuständig dafür war jetzt ein Zivil- und kein Militärgericht. Der Gerichtshof erklärte nach Farbsteins Aussage die Verhandlung als vorerst ausgesetzt, um sie später nach einer Klärung und Neubeurteilung durch das Militärdepartement wieder aufzunehmen. Der Kampf der Angeklagten und der Verteidiger gegen die Militärjustiz dauerte wochenlang. Im Dezember verurteilte das Gericht die Angeklagten Robert Grimm, Fritz Platten und Friedrich Schneider zu je sechs Monaten und Ernst Nobs zu vier Wochen Gefängnis: Grimm und Schneider wegen Meuterei, begangen durch Erlass und Verbreitung des Aufrufes "an das arbeitende Volk" vom 11. November. Platten unter anderem wegen Meuterei, weil er diesen Aufruf verteilt hatte. Und Nobs wegen Widerhandlung gegen den Bundesratsbeschluss vom 11. November durch Veröffentlichung eines Artikels im "Volksrecht", worin die EisenbahnerInnen ermuntert wurden, dem bundesrätlichen Befehl nicht zu folgen.

Während der Zeit rund um den Prozess fiel David Farbstein durch seine geschickte Argumentationsweise auf, wobei er die Verantwortung für die Unruhen der Militärführung den Städten zuschob. Bei seinen Reden war die Rolle des Militäreinsatzes auch im Zentrum, namentlich der Einsatz bei der Demonstration vom 10. November 1918 in Zürich, bei der in die Menge geschossen wurde. Diese Aktion des Militärs hatte wie ein Funke im Pulverfass gewirkt.


Plädoyer über vier Stunden

David Farbsteins Verteidigungsrede beinhaltete viele Aspekte und er konnte verständlich bestehende Ungerechtigkeiten darlegen. Neben der Verteidigung seiner vier Klienten standen grundsätzliche Themen der Arbeiterschaft im Fokus. So nahm der Anwalt Farbstein auch die Worte Robert Grimms auf, der sagte, zwei Welten stünden einander gegenüber. Und dass vor dem Gericht zwei Sprachen gesprochen würden: Die Sprache der Reichen und die Sprache der Armen. Beispiele aus der Geschichte wie die Bauernkriege oder frühere Arbeitskämpfe in Bern oder Zürich zeigten schliesslich, dass es Klassenkämpfe schon immer gegeben hatte. Früher Bürgertum gegen Feudalherren, und heute kämpft das Proletariat gegen das Bürgertum. Bei politischen Handlungen sind häufig die aktuellen "Verbrechen" die Ideen von morgen. Herrschende reagieren immer ähnlich mit Militärintervention und Kriegsgerichten.

Im Laufe der vierstündigen Rede kam Farbstein auch auf den Sozialismus zu sprechen, den er als moderne, historische Wissenschaft darstellte, die gestützt auf Ereignisse der Vergangenheit, Schlüsse in Bezug auf die Zukunft zieht. Klassenkampf sei ein politischer und ökonomischer Kampf und nicht ein Umsturzversuch. Der Anwalt kritisierte die Zuständigkeit des Militärgerichts für diese Fälle, da die Angeklagten Staatsangestellte oder Eisenbahner und somit Zivilisten seien. Er erinnerte auch an die Ursachen des Streiks und erzählte von den Lebensverhältnissen eines grossen Teils der Bevölkerung, die bei ihrem Einkommen bei Arbeitszeiten von elf bis 13 Stunden täglich hungerte und daher auf Notstandsunterstützung angewiesen war.

Unzureichend war die Arbeiterschaft auch in Regierung und Verwaltung vertreten. "Die Bourgeoisie soll nicht nur an die Wichtigkeit der Arbeiterschaft denken, wenn ein Generalstreik ausgebrochen ist, sie soll an die Bedeutung der Arbeiter auch dann denken, wenn die Arbeiter arbeiten." Bei Streik wollten Arbeiter dem Bürgertum zeigen, welchen grossen Wert sie darstellen. Ohne viel Polemik gelang es ihm, grundlegende wirtschaftliche und politische Probleme der Arbeiterschaft und die bestehenden Ungerechtigkeiten darzulegen. Am Schluss des Prozesses endete Farbstein mit den Worten: "Bei politischen Prozessen sitzen vielleicht äusserlich die Angeklagten auf der Anklagebank. Tatsächlich sitzt aber auch der Richter darauf, und über den Richter urteilt später die Geschichte."


Mit eigener Methode

1868 in Warschau geboren, emigrierte David Farbstein 1881 in die Schweiz, wo er später eingebürgert wurde. Mit einem abgeschlossenen Studium und als Mitglied der sozialdemokratischen Partei kämpfte er als Anwalt der Arbeiterbewegung bei Prozessen im Rahmen von Streikaktionen mit, agierte erfolgreich gegen die schweizerische Nazibewegung im Gerichtssaal und verteidigte Frauen schon früh bei Abtreibungsprozessen. Das war aber nur eines der Leben des Juristen David Farbstein. Als Jude und Vorkämpfer der zionistischen Idee war er auch Mitorganisator des ersten Zionistenkongresses in Basel.

Sein religiöser Hintergrund floss in seine juristische Arbeit mit sozialen Fallthemen ein: So war bei der Vorbereitung wichtig, in scheinbaren Lehrmeinungen Widersprüche zu entdecken und das Gemeinsame aus Heterogenem und das Unterscheidende aus Gleichartigem heraus zu arbeiten. Die Resultate mussten immer mit einer sorgfältigen Analyse enden. Im Unterschied zum römischen Recht eröffnet das jüdische kasuistische Rechtssystem mehr Möglichkeiten, weil hier einzelne Fälle interpretiert werden und auf eine Einzelsituation und ihre Besonderheiten eingegangen wird. Den Täter betrachtet man hier nicht nur auf Grund seiner Handlung, sondern bezieht auch persönliche Eigenschaften, äussere Umstände und die momentane Situation um ihn herum ein. Dieses zwar geregelte, aber milde ausgelegte, den Einzelfall berücksichtigende Strafrecht war zu Farbsteins Zeiten keineswegs so selbstverständlich, wie dies heute an einigen Gerichten in Europa ist. Farbstein wurde mit seiner Methode als Verteidiger bekannter und übernahm immer häufiger die Vertretung von Parteimitgliedern - sowohl in politischen und auch in anderen Anklagen. Geld verdienen konnte er mit seiner Arbeit wenig, denn viele seiner Klienten waren mittellos und keine prestigeträchtigen Fälle.


Für pragmatische Politik

Während der Prozesse rund um den Generalstreik gelang es weder dem Bundesrat noch deren VertreterInnen, im Militärgericht dem Prozess den politischen Charakter zu nehmen. Sichtbar war die Niederlage rund um den Generalstreik, die zwar Repression mit vielen Inhaftierungen gebracht, aber auch einen langwierigen und diffusen Mammutprozess ohne klare Verurteilung der Inhalte geliefert hatte. David Farbstein lieferte solide Arbeit, allerdings machte er immer "Klassenkampf-Politik mit Fragezeichen". Stets für eine pragmatische Politik plädierte er - es galt alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die im Rahmen bestehender Gesetze möglich waren. Immer distanzierte er sich von VertreterInnen der direkten Aktion und ging davon aus, dass es die Aufgabe der Parlamente sei, zur Besserstellung der Lebenssituation der ArbeiterInnen hinzuwirken und die Aufgabe der Exekutive, die Rechte der ArbeiterInnen zu hüten. So motiviert war David Farbstein sozial engagierter Parlamentarier in Gemeinde-, Kantons- und Nationalrat. Klassenkämpfe waren niemals Endziel, sondern bestenfalls Mittel zum Zweck für ihn.


Ihre Wege trennten sich

Noch vor dem Generalstreik wäre der Anwalt - ganz im Einklang mit den sozialdemokratischen Regierungsmitgliedern - für eine Verhinderung der Aktion gewesen. Trotzdem bezeichnete er Streiks als "spontane Reaktion auf unhaltbare Zustände" und setzte sich dann im Parlament für ein Verbot des Imports von ausländischen Streikbrechern ein. Die Beziehung zwischen Robert Grimm und David Farbstein brach nach dem Generalstreikprozess ab. In der Zimmerwalder Bewegung, so wird erzählt, in der Grimm eine führende Rolle spielte, wurden Farbsteins eingegebene Anliegen bezüglich sozialistischer JüdInnen nicht explizit thematisiert. So trennten sich die Wege von Robert Grimm und David Farbstein auch wegen unterschiedlicher Auffassungen zu taktischen Fragen und Zugängen zum Sozialismus.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 41/42/2018 - 74. Jahrgang - 20. Dezember 2018, S. 11
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Januar 2019

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