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VORWÄRTS/1481: Manche werden schwanger - andere nicht


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 19/20 vom 14. Juni 2019

Manche werden schwanger - andere nicht

von Sabine Hunziker


Bisher wurde in Frauen und Männer eingeteilt. Antje Schrupp hat ein Modell entworfen, bei dem der Begriff "Schwangerwerdenkönnen" zentral ist. Die Unterteilung wird so gemacht: Es gibt Menschen, die schwanger und solche, die nicht schwanger werden können.


Das Buch kommt erst im August raus, doch die deutsche Politikwissenschaftlerin, Journalistin und Bloggerin Antje Schrupp war im Mai im Politforum im Käfigturm und verriet vorab etwas über den Inhalt. Bekannt wurde die Feministin vor allem aus dem Grund, weil sie eine ungewohnte Perspektive auf die Dinge hat. Aktuell beschäftigt sie sich mit dem Thema Mutter- und Schwangerschaft. Das Wort "Schwangerwerdenkönnen" bezeichnet, was sonst mehrere Wörter hat. In der Analyse der herkömmlichen Geschlechterdifferenz steht die Beziehung zwischen Mann und Frau. Was wäre, wenn man neue Unterscheidungspunkte wie "Schwangerwerdenkönnen" suchen würde? Es gibt zahlreiche Frauen*, die aus unterschiedlichen Gründen nie schwanger werden. Auch ist es nicht ausgeschlossen, dass Männer* Kinder gebären können. Dies kann beispielsweise im Fall sein, wenn ein Transmann sich entschliesst, seinen Geburtskörper nicht zu verändern, um seine Gebärfähigkeit zu erhalten. Die Idee für diese neuen Kategorien kamen Antje Schrupp 2013 bei einer Tagung, als unter anderem Feminist*innen vom afrikanischen Kontinent Initiationsriten als wichtig fürs Frau*sein auflisteten. Sie nahmen bei einem Workshop Binden und Tampons zur Illustration ihrer Beiträge mit. Im Lauf der Tagung wurde das Thema Schwangerschaft immer wichtiger.

Für Antje Schrupp war dieser Zusammenhang von Frau* und Schwangerschaft etwas ungewohnt und sie begann, sich näher mit dieser Verbindung zu beschäftigen. Ihr Fazit nach Recherche und Lesearbeit: Schwanger werden können nicht alle Frauen*. Der Zusammenhang von Frau*sein und Schwangerschaft ist immer ein Potential, dass ausgeschöpft werden kann oder auch nicht. Dieses Potential ist nur rückwirkend feststellbar und eine Gebärmutter keine Garantie dafür. Gründe für eine "Nicht-Schwangerschaft" können vielseitig sein. Beispielsweise verhindern Krankheiten Schwangerschaften oder eine Frau* entschliesst sich aktiv dazu, keine Kinder zu haben.


Ambivalentes Verhältnis zum Thema

Es gibt also Menschen, die schwanger werden und solche, die es nicht können. Es lässt sich zwar schon bei der Geburt eines Kindes mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorhersagen, ob es einmal zu der einen oder der anderen Sorte gehören wird. Eine absolute Sicherheit dafür gibt es aber nicht. Warum ist das Thema rund um die Schwangerschaft bei Frauen* so wichtig? Schwangerschaft hat nicht nur in anderen Kulturen eine grosse Bedeutung, sondern auch bei uns, so meinte Antje Schrupp. Nicht unbedingt logisch, weil doch Frauen* die meiste Zeit nicht schwanger sind. Heute haben Familien normalerweise bis zu vier Kinder. Im Vergleich dazu hatte man früher oft mehr Kinder. Die Schwangerschaft selber ist jetzt weniger riskant und es gibt ein geringeres Gefahrenrisiko. Beispielsweise in Regionen auf dem afrikanischen Kontinent gibt es noch eine grosse Sterblichkeitsrate, weil Komplikationen auftreten und zum Beispiel mangels Ressourcen nicht geholfen werden kann.

Unsere Frauen*bewegung hat das Thema Schwangerschaft oft ausgeklammert. In Europa haben Feminist*innen ein ambivalentes Verhältnis zum Thema Schwangerschaft. Einerseits denken Frauen*, dass eine zu intensive Thematisierung die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern bestätigen könnte. Die Schwangerschaft ist tatsächlich der grösste Unterscheidungspunkt zwischen Mann* und Frau*. Auch die Angst vor Mütterlichkeitsdiskursen und der damit verbundenen reaktionären Geschichte hält europäische Feminist*innen davon ab, das Thema mehr als nötig zu bearbeiten. Schwangerschaft kann zur Identifikation von Frauen* gebraucht werden. Allerdings ergibt sich damit auch immer die Möglichkeit, Frauen* gesellschaftlich auszuschliessen oder zu entmündigen. Zwar gibt es im Bereich Arbeit Schutzbestimmungen und Kündigungsschutz, aber praktisch herrscht ein Graubereich vor, in dem Schwangere oder Mütter* auch benachteiligt werden können. Nach dem Motto "Frauen sind ungeeignet wegen Mutterschaft" sind Frauen* bereits vor ihrer Schwangerschaft unter "Generalverdacht" und erhalten bestimmte Arbeitsstellen nicht, weil sie ja einmal wegen Mutterschaft ausfallen könnten. Dass nicht alle Frauen* sich für die Mutterschaft entscheiden oder Kinder gebären können, wird hier schlichtweg vergessen.


Körpertatsache Schwangerschaft

Binäre Systeme, um zwischen Menschen zu unterscheiden, gehören nach Antje Schrupp zu einem männlichen Universalismus. Körperliche Unterschiede sind zwar da und die Geschlechtszuweisung aufgrund der Genitalien funktioniert relativ gut. Es gibt keine sichere 100%-Quote, aber es lassen sich Kategorien erstellen. Hier in diesem Feld, wo Menschen aufgrund Genitalien voneinander unterschieden werden, hat Antje Schrupp weitergedacht. Es gibt verschiedene Merkmale oder Hinweise zur Unterscheidung. Eine erste Ebene sind die Genitalien, dann kommen Chromosomen und Hormone dazu und schlussendlich der Uterus. Man sieht von aussen nicht, ob eine funktionierende Gebärmutter da ist. So unsicher dies von hier zu beurteilen ist, ob jemand das Potential zum "Schwangerwerdenkönnen" hat, so trügerisch ist die Unterscheidung er Menschen nach Genitalien. Beispielsweise gibt es Menschen, die eine Vagina haben, jedoch keine Frauen* sind und so ein anderes soziales Geschlecht leben. Hier gibt es auch viele mögliche Zwischenformen von Identitäten. Nur der Uterus mit seinem Potential ist Tatsache. Es gibt keine ähnliche Form dazu oder ein Organ, dass diese Eigenschaft haben kann.

Schwangerschaft ist für die Menschheit sehr elementar und wichtig, sie findet sich aber im Katalog des herkömmlichen binären Systems nicht. Antje Schrupp hat nun selber ein System entworfen, in dem diese Kategorie Unterscheidungsmerkmal ist. Vielleicht wird damit auch das seltsame Verhältnis zur Schwangerschaft bei uns aufgebrochen. Scheinbar haben wir bezüglich "schwanger werden" wie bei der Planung alles im Griff. Es gibt aber im Alltag oft eine Differenz zwischen "wollen" und "können". Sorgt man sich bei Mädchen, wenn sie das erste Mal in ein gemischtes Zeltlager gehen, angstvoll darum, dass sie nicht schwanger werden, so gibt es ab einem bestimmten Zeitpunkt gesellschaftlichen Druck für die, die noch nicht schwanger geworden sind.


Komplexität heute gestiegen

Früher sagte man, dass der Mann zeugt und die Frau ein Kind bekommt. In Wahrheit erfolgt die Zeugung egalitärer, denn Mann* und Frau* haben Geschlechtsverkehr und wenn sie Glück haben, gibt es eine Befruchtung. Diese Situation ändert sich aber später radikal, denn normalerweise ist nur die Frau* schwanger und gebärt das Kind. Aus diesem Grund ist das Kind der passenden Mutter in Form einer biologischen Tatsache zuzuordnen. Der Vater konnte lange Zeit nur dank seiner sozialen Position eruiert werden. Es war eine Art "freiwillige Übernahme" der Funktion durch Adoption oder Heirat. Mann und Frau als heteronormative Kategorien heirateten und es gab Kinder, die man grosszog. So wurden auch "Konflikte" privatisiert. "Die Differenzen wurden als Paar gelöst", so sagte Antje Schrupp. Erst mit dem sog. "Vaterschaftstest" konnte endgültig Gewissheit über die Verwandtschaft erlangt werden. So stieg auch das "Zugriffsrecht" der Männer* auf die Kinder.

Momentan gibt es dank den Tests eine neue Diskussion. Wie viele andere Themen rund um die Familie sind auch DNA-Tests genauso wie neue Familienformen, das Recht auf Abtreibung oder das Recht auf Befruchtung ein Politikfeld. Unklarheiten und damit Schwierigkeiten haben sich potenziert. Männer*paare haben andere Bedürfnisse und Rechte als Frauen*paare oder Heteropaare. Es gibt politischen Regelungsbedarf für Probleme, die nicht alle betreffen. Es muss eine neue Vision geschaffen werden, in dem die Gesellschaft für alle Kinder zuständig ist. Menschen dürfen, müssen aber nicht gebären und es entstehen soziale Elternschaften. Die Rechte des Vaters*, so wie wir sie heute kennen, sind im utopischen Entwurf von Antje Schrupp sekundär. Durch die Stärkung der Rechte des Vaters im Patriarchat passiert viel Ungleichheit. "Ich muss mir doch nicht notieren, mit wem ich ins Bett gehe" meinte sie lachend, "damit klar ist, wer Vater ist".


Mutterschaft als soziale Rolle

Biologie und Geschlecht soll vollständig getrennt werden. Es gibt heute viele neue Familienformen. Auch die Mutter*schaft wird sich ändern. Beispielsweise sind heute transsexuelle Menschen nicht mehr verpflichtet, eine (vollständige) Geschlechtsumwandlung vorzunehmen. Es können also durchaus auch Männer* Kinder gebären. So muss die gesamte reproduktiven Arbeit neu gedacht werden. Mutter ist zwar die Person, die ein Kind gebärt. Schwanger werden ist ein biologischer Prozess. Antje Schrupp empfiehlt, dass mit der Trennung der Nabelschnur dieses biologische Verhältnis in ein soziales Verhältnis umgewandelt wird. Die biologische Mutter kann sich für eine Mutterschaft entscheiden. Es braucht aber auch weitere Menschen (Co-Eltern), die sich bei der Erziehung der Kinder beteiligen. Normalerweise entscheidet der Mensch mit Uterus, wer im Leben des Kindes eine Rolle spielt. Der freie Wille hierfür ist wichtig. Das heisst, Eltern entscheiden sich aktiv dazu und die Beziehung wird entbiologisiert.

Die "Nachfrage", um Kinder zu bekommen, ist heute gross. Vielleicht ist es bald möglich, sich einen Uterus transplantieren zu lassen? Vielleicht wird die Frauen*bewegung neben ihren Forderungen rund um das Recht auf Abtreibung, das Recht auf "Schwangerschaft" fordern? Diese Fragen zeigen, das sich hier vieles im Umbruch befindet. Die Unterteilung in Menschen, die schwanger werden und solche, die das nicht können, ist also sinnvoll. Vor allem auch, weil dies kein starres System ist. Niemand kann immer schwanger werden. Die Schwangeren sind es nicht andauernd und niemand kann vorhersagen, ob sich sein Potential für Reproduktion ausschöpfen lässt.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 19/20 - 75. Jahrgang - 14. Juni 2019, S. 10
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juli 2019

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