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VORWÄRTS/1487: Beim Namen nennen!


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 21/22 vom 27. Juni 2019

Beim Namen nennen!


HP. - An der Fassade der Berner Heiliggeistkirche hängen 30.000 Stofftstreifen. Jedes Stück steht für einen Menschen, der auf der Flucht nach Europa gestorben ist. So ist das Mittelmeer zu einem Massengrab geworden. Die viel beachtete Aktion ist eine Kritik an der Migrationspolitik.


"Seit heute, Flüchtlingssonntag 2019, wehen rund 30.000 Stoffahnen an der Fassade der Heiliggeistkirche Bern im Wind", so schreibt die Projektleitung rundum die Aktion "Beim Namen nennen - 35.597 Opfer der Festung Europa". Rund um das Gebäude sind Holzlatten angebracht worden. Sie bilden das Gerüst für die Schnüre, an denen schliesslich Tausende weisse Streifen befestigt sind. Auf allen diesen Wimpeln stehen Namen von Menschen, die seit 1993 auf dem Weg nach Europa gestorben sind. Auch jene, von denen man den Namen nicht mehr weiss, sind verzeichnet. Oft stehen Herkunft, Geschlecht, Alter und die Umstände des Todes auf den Stoffstreifen. Ab Sonntag, 16. Juni, ist die Heiliggeistkirche 14 Tage lang ein Mahnmal. Mehr als 500 Freiwillige haben die Stoffstreifen beschriftet und an Schnüre geheftet.

Es war eine sehr konzentrierte, stille Atmosphäre in der Kirche. Fast alle haben geflüstert. Einheimische, Geflüchtete, Kinder, Jugendliche, Grosseltern, Männer* und Frauen* schrieben teilweise stundenlang. "Die Aktion verlief sehr friedlich", sagte Andreas Nufer, der Pfarrer und Projektleiter der Heiliggeistkirche ist. Doch das war nur ein Teil der Aktion. Das Publikum sass im Kirchenschiff und hörte zu, wie vorne am Altar die Namen vorgelesen wurden. Immer wieder gab es Tränen. Auch Leute, die sich umarmten, waren zu sehen. Betroffene aus Eritrea, Syrien, Iran, Afghanistan, Tibet, Sudan oder Nigeria erzählten an den Tischen von ihren Erlebnissen auf der Flucht. So hatte sich die Heiliggeistkirche in ein grosses Mahnmal verwandelt. Viele der Toten sind Opfer der "Festung Europa". Sie sind Opfer einer verfehlten Migrationspolitik. Alle Namen wurden aus der "List of Deaths" vorgelesen. 48 Freiwillige lösten sich im Halbstundentakt ab. Immer zur vollen Stunde gab es Musik, Lieder, Gedichte oder Performances von Kunstschaffenden.


Menschen sensibilisieren

Seit 1993 sind mindestens 35.597 Menschen beim Versuch nach Europa zu flüchten, gestorben. Die meisten ertranken im Mittelmeer. Männer*, Frauen*, Jugendliche, Kinder, Babys waren dabei. Allerdings sind in diesen Zahlen nur jene Fälle enthalten, die dokumentiert wurden. So stehen auf dem Stoff beispielsweise: "Tot aufgefunden auf einem in Seenot geratenen Boot südlich von Malta" oder "erstickt in einem Kühllaster in der Nähe von Zuwara, Libyen".

Der Flüchtlingstag, in dessen Rahmen "Beim Namen nennen - 35.597 Opfer der Festung Europa" stattfand, wird seit 1980 von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe organisiert und soll die Bevölkerung für die Belange von Flüchtlingen sensibilisieren. Auch die Kirchen beteiligen sich jeweils daran. Das Thema der diesjährigen Kampagne des Flüchtlingstages lautet: "Sichere Fluchtwege retten Leben". Dabei geht es vor allem um die vereinfachte Einreise in die Schweiz über humanitäre Visa oder Resettlement-Programme für besonders schutzbedürftige Personen.

Auch die Rettung von Menschen in Seenot ist ein Thema. Das Drama des andauernden Sterbens auf See ist keine Naturkatastrophe und könnte morgen schon beendet werden. Das Mittelmeer zum Massengrab zu machen, ist eine rein politische Entscheidung der EU-Regierungen. Sie wollen um jeden Preis ihre Aussengrenze als tödlichen Festungsgraben aufrecht erhalten. Kein Mensch würde sich für viel Geld und mit hohem Risiko in ein kleines Boot setzen, wenn es erlaubt wäre, das Meer mit einer Fähre oder einem Flugzeug zu überqueren.


Massive Verschärfung

Das ausgrenzende Visa-Regime zwingt die Menschen auf tödliche Routen und muss abgeschafft werden. Sichere und legale Flucht- und Migrationswege nach Europa sind die einzige Lösung, um das Leiden und Sterben auf See endlich zu stoppen. Niemand soll in Zukunft sein Leben auf kleinen Booten riskieren, um Europa zu erreichen. Unter anderem hilft beispielsweise das transnationale Alarm-Phone-Netzwerk Watch the Med denen, die es dennoch tun müssen. 2018 hat sich die Situation an den EU-Aussengrenzen insbesondere im zentralen Mittelmeer durch die Kriminalisierung der Seenotrettung und die Schliessung der Häfen nochmals massiv verschärft. Das Mahnmal in Bern stellt diese Folgen der verfehlten Migrationspolitik jetzt wieder mehr in den Fokus der Öffentlichkeit.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 21/22 - 75. Jahrgang - 27. Juni 2019, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juli 2019

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