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WIDERSPRUCH/026: Als Ökonom muß Sloterdijk noch üben


Widerspruch 57 - 2. Halbjahr 2009
Beiträge zu sozialistischer Politik

Als Ökonom muss Sloterdijk noch üben(*)

Von Werner Vontobel


Als Philosoph hat uns Peter Sloterdijk die fernöstliche Disziplin des Übens wieder nähergebracht. Danke Meister! Als Ökonom hingegen glaubt er, darauf verzichten zu können. In seinem zum "Manifest" hochstilisierten Essay "Aufbruch der Leistungsträger" im Magazin "Cicero" genügen ihm zwei Zahlen und ein Buch, um die Ökonomie völlig neu zu erfinden. Die zwei Zahlen: "Allein das oberste Fünftel der Leistungsträger bestreitet rund 70 Prozent des Gesamtaufkommens der Einkommenssteuer." Daraus wird bei Sloterdijk: "Vom Einkommen sowie von den davon abzuführenden Abgaben der 25 Millionen steueraktiven Leistungsträger, die vorläufig noch damit einverstanden sind, in Deutschland zu leben, stammt praktisch alles, was die 82 Millionenpopulation des Landes am Leben erhält."

Der abgehobene Philosoph hantiert hier mit Zahlen, die er mangels Training nicht versteht. Erstens: Die Einkommenssteuer taugt nicht als Maßstab für die Steuerbelastung. Sie macht inzwischen weniger als 30 Prozent aller Steuereinnahmen des Staates aus. Bei 70 Prozent der Steuern ist auch die "Aktivität" der übrigen 55 Millionen Deutschen sehr gefragt.

Zweitens: Sloterdijks "oberstes Fünftel" kassiert 51 Prozent aller Markteinkommen und weit über 60 Prozent aller steuerbaren Einkommen jenseits des baren Existenzminimums. So gesehen sind 70 Prozent Anteil an den Einkommenssteuern doch ziemlich normal. Alles in allem dürfte auch in Deutschland die Steuerlast in etwa proportional zu den Markteinkommen verteilt sein.

Drittens: Sloterdijk setzt offenbar Einkommen mit Leistung gleich. Er nimmt die Verteilung der Einkommen zum Maßstab für die Leistungen beziehungsweise für den geschaffenen Mehrwert. Auch hier kennt Sloterdijk offenbar die Begriffe nicht, aus denen er seine Kurzschlüsse zieht. Das monetäre Einkommen misst eben nicht die Wertschöpfung, sondern bloss das, was jemand für seinen Beitrag ans gemeinsame Bruttoinlandprodukt kassiert. Nur diese Wertabschöpfung kann in Euro beziffert und gemessen werden. Die eigentliche Wertschöpfung, die körperliche Arbeit, der geistige Input, die organisatorische Leistung kann zwar beobachtet und beschrieben werden. Messen, in Euro ausdrücken und damit gleichnamig und vergleichbar machen, kann hingegen nur das, was die Leistungsbringer für ihre Leistung kassieren.

Dass diese Unterscheidung auch von vielen gelernten Ökonomen nicht begriffen wird, hängt damit zusammen, dass sie bei vielen Fragestellungen keine Rolle spielt. Sloterdijks Pech ist, dass sie für sein "Manifest" zentral wäre. Wer zwischen Lohn und Leistung nicht sauber unterscheiden kann und beide unbesehen gleichsetzt, kann nicht kompetent über Verteilungsprobleme mitreden.

Das ganz grosse Problem der modernen Volkswirtschaft besteht eben genau darin, dass Leistung und Lohn immer weiter auseinanderklaffen. Grosse Teile der Leistungsträger - Friseure, Automobilarbeiter, Verkäufer, Reiniger usw. - leisten immer mehr und verdienen immer weniger. Die Markteinkommen werden immer einseitiger verteilt. Das oberste Fünftel hat seinen Anteil am Kuchen zwischen 1993 und 2005 um nicht weniger als 6,5 Prozentpunkte erhöht. Die ärmere Hälfte kassiert gerade noch 14.9 Prozent aller Einkommen - und muss dennoch tüchtig Mehrwert-, Energie-, Tabak- und Kfz-Steuern bezahlen.

Getrieben wird diese Umverteilung durch einen unerbittlichen Ausschlussprozess. Wie man aus den einschlägigen Statistiken errechnen oder im jüngsten Herbstgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute nachlesen kann, nimmt die (zur Herstellung der nachgefragten Produkte und Dienstleistungen notwendige) Arbeitszeit pro Erwerbstätigen trendmässig um jährlich 0.6 Prozent ab. Da gleichzeitig Normarbeitszeiten eher noch steigen, werden immer weniger Vollzeitstellen gebraucht. Das führt zu einem Ausscheidungsrennen, das vor allem die Löhne im unteren Segment brutal gegen unten treibt.

Man kann Sloterdijk nicht vorwerfen, dass er diese komplexen Zusammenhänge nicht durchschaut. Das ist nicht sein Fach und dazu fehlt ihm die Übung. Leider fehlt es ihm nicht an der nötigen Arroganz, sich auf einem Gebiet, mit der er sich nie ernsthaft auseinandergesetzt hat, zum Meinungsführer aufzuschwingen. Das bringt uns zu dem Buch, von dem Sloterdijk immerhin den Titel und 50 Prozent der Autoren kennt.

Gunnar Heinsohn und - Ehre, wem Ehre gebührt - Otto Steiger haben mit "Eigentum, Zins und Geld" (1996) in der Tat einen sehr wichtigen Beitrag zum Verständnis unserer Wirtschaftsordnung geleistet. Danach ist die Verpfändung und Belehnung von Eigentum gegen Zins und notfalls die Pfandverwertung die zentrale Innovation, die unsere Wirtschaft dynamisiert hat. Für Sloterdijk ist damit die These von Marx und Ricardo widerlegt, wonach Wertschöpfung ausschliesslich auf den Faktor Arbeit zurückgehe. Auf dieser "groben Fehleinschätzung" beruhe ein "bis heute virulentes System der Leistungsträgerverleumdung."

Falls Sloterdijk damit meinen sollte, dass auch die Eigentümer Anrecht auf einen Anteil am Volkseinkommen haben müssen, rennt er weitoffene Türen ein. Der Anteil der Gewinne Volkseinkommen nimmt seit den Neunzigerjahren ständig zu. Doch darum geht es den Autoren von "Eigentum, Zins und Geld" nicht, oder nur nebenbei. Ihnen geht es um eine Eigentumsordnung, welche die Wirtschaft dynamisiert. Eine zentrale Voraussetzung dafür ist nicht nur der rechtliche Schutz von Eigentum, sondern auch dessen breite Streuung. Genau die aber ist in Gefahr, wenn das "oberstes Fünftel" inzwischen weit über 80 Prozent aller Nettoeinkommen für sich beansprucht und wenn obendrein einer der führenden Philosophen des Landes noch eine "neue Semantik" schaffen will, der den "Leistungsträgern als Geber Genugtuung verschafft" und sie zu einer "wiedererwachenden Stolzkultur" ermuntert.

Bevor Sloterdijk mit neuen Begriffen die Diskussion prägen will, sollte er erst einmal seinen eigenen Wortschatz sorgfältig überprüfen. Üben, Meister, üben!


Anmerkung:

(*) Wir dokumentieren die Antwort des Autors auf den von Peter Sloterdijk im Magazin "Cicero" (11/2009) erschienenen Artikel "Aufbruch der Leistungsträger", der seinerseits auf den Artikel von Axel Honneth "Fataler Tiefsinn aus Karlsruhe. Zum neuesten Schrifttum des Peter Sloterdijk" (DIE ZEIT v. 24.9.2009) repliziert und eine Debatte lanciert hat. Hintergründe, Verortung und Einschätzungen dieser Debatte vgl. u.a. Christoph Lieber / Friedrich Steinfeld "Apologie des parasitären Reichtums. Das Manifest des Philosophenkönigs Sloterdijk für eine heruntergekommene Bourgeoisie" (Sozialismus, 11/2009), ebenso Martin Altmeyer "Neuer Klassenkampf? Eher alte Fronten im Philosophenstreit um den Sozialstaat" (Kommune 6/2009).


Werner Vontobel, 1946, Ökonom; Wirtschaftsredaktor beim SonntagsBlick, Zürich


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Hinweis auf weitere Artikel der aktuellen Ausgabe:

WIDERSPRUCH 57 - 2. Halbjahr 2009

Staat und Krise
Finanzmarktkrise, Staatsinterventionismus,
Green New Deal; Staaten in Afrika;
Geschlechtergerechtigkeit; Staatsleitbilder und
marktliberaler Diskurs; Finanz- und Steuerpolitik;
Kritische Arbeitssoziologie; Post-Neoliberalismus;
Deglobalisierung - Strategie von unten;
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E. Altvater, H. Melber, B. Sauer, H.-J. Bieling,
D. Lampart, W. Vontobel, J. Wissel, K. Dörre,
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Diskussion
M. Vester: Wirtschaftlicher Pfadwechsel
P. Oehlke: Soziale Demokratie und Verfassungspolitik
C. v. Werlhof: Post-patriarchalen Zivilisation
W. Völker: André Gorz' radikales Vermächtnis


WIDERSPRUCH 57:
Staat und Krise
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Quelle:
Widerspruch 57 - Beiträge zu sozialistischer Politik
29. Jahrgang, 2. Halbjahr 2009, S. 61 - 63
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juli 2010