Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

WILDCAT/016: Ausgabe 83 - Frühjahr 2009


Wildcat 83 - Frühjahr 2009



Inhalt:
Werbung für das Waldorf-Astoria
Editorial
Krise: Alles in Frage stellen
Das Auto am Ende
Internationale Krisenberichte
England: Antisoziale Solidarität
Kalifornien: Die Auswirkungen der Krise
Die Weltarbeiterklasse
... die Proletarisierung, China und wir
China in der Krise - Grund zur Panik?
Die globale Krise in Indien
Polen: Exportplattform im Sturzflug
Rumänien: Drehkreuz der Migration
Lampedusa: Grenzregime und Schwarzarbeit
Spanien: Backsteine, Blasen und Bankrott
Interview mit Bahn-Aktivisten

Raute

The SlowBurn[TM] method by Serious Strength

Longston Hughes, ein afro-amerikanischer Dichter, den seine Feinde einen 'kommunistischen Christenhasser' schmeichelten, lud den 'Harlemer Pöbel' und die gesamte arbeitslose Klasse von 1931 dazu ein, sich im funkelnd neuen Waldorf Astoria Hotel auf Park Lane zu holen, was sie brauchten. Wir erneuern diesen Aufruf heute, wo es nicht mehr nur um Park Lane vs. Harlem geht: die Waldorf 'Kollektion' ist so global wie das Proletariat (Chicago, Neapel, Saudi Arabien...) und das Raubgut, das es der Hotelwebseite nach zu plündern gilt, enthält 'authentische Geschichte' ('authentic history'), 'unvergessliche Erinnerungen' ('unforgettable memories') und 'all deinen Bedarf' ('your every need')...

Im Krisenjahr 2009 wird in Berlin ein neues Waldorf-Astoria gebaut.


Werbung für das Waldorf-Astoria

Das gute Leben ... a la carte?
Komm' zum Waldorf-Astoria!
HÖRT HER IHR HUNGRIGEN!

Schaut! Seht mal was Vanity Fair zum neuen Waldorf-Astoria sagt:
"All der Luxus des eigenen Heims..."

Na, wird das nicht charmant sein, wo die letzte Absteige dich diesen Winter abgewiesen hat?
Weiter:
"Es geht weit hinaus über das, was bisher in der Hotel-Welt versucht wurde..." Kostete achtundzwanzig Millionen Dollar.
Der berühmte Oscar Tschirky ist fürs Bankett verantwortlich.
Alexandre Gastaud ist Koch. Es wird ein distinguierter Hintergrund für die Gesellschaft.
Wenn ihr also sonst nirgendwo mehr hinkönnt, ihr Obdachlosen und Hungrigen,
wählt das Waldorf als Hintergrund für eure Lumpen --
(Oder ist euch die U-Bahn nach Mitternacht immer noch gut genug?)

UNTERMIETER
Nehmt ein Zimmer im neuen Waldorf, ihr drunter-und-draussen-Schläfer in den Wohlfahrtsabsteigen, wo Gott ein langes Gesicht zieht, und ihr beten müsst um ein Bett.
Sie servieren Spitzenverpflegung im Waldorf-Astoria. Guckt doch nur mal die Speisekarte an
guckt:

KREOLISCHER EINTOPF
KRABBENFLEISCH IN CASSOLETTE
GEKOCHTE RINDERBRUST
ZWIEBELCHEN IN SAHNE
WASSERKRESSENSALAT
PFIRSISCHMELBA
Esst doch heute nachmittag dort, all ihr Arbeitslosen.

Warum nicht?
Esst mit einigen der Männer und Frauen die von eurer Arbeit reich geworden sind, die Coupons mit sauber weissen Fingern abtrennen weil eure Hände Kohle geschaufelt, Stein gebohrt, Kleider genäht, Stahl gegossen haben, damit andere Leute Dividenden beziehen und angenehm leben können.
(Oder habt ihr noch nicht genug vom Anstehen um Suppe und vom bitteren Brot der Wohlfahrt?)
Geht heute abend vor dem Essen durch die Peacock Alley und wärmt euch wenigstens auf. Ihr habt sonst nichts zu tun.

HINAUSGEWORFENE FAMILIEN
All ihr auf die Strasse gesetzten Familien:
Appartments in den Türmen kosten nur $10.000 pro Jahr. (Drei Zimmer und zwei Bäder.)
Zieht da ein bis die Zeiten gut werden, und ihr es besser treffen könnt. $10.000 und $1,00 sind für euch ungefähr dasselbe, oder?
Wen kümmert Geld wenn Frau und Kinder obdachlos sind und niemand in der Familie arbeitet?
Wär eine Zweizimmerwohnung hoch über der Strasse nicht grossartig, mit Ausblick auf die reichste Stadt der Welt vor eurer Nase?
"Nach Wunsch mit Mietvertrag oder beliebig auf kündbarem Arrangement."

NEGER
Oh Gott. Hab ich glatt Harlem vergessen!
Sagt mal, ihr Farbigen, schon lange hungrig auf der 135sten Strasse - die haben klasse Musik im Waldorf-Astoria. Wirklich ein echt netter Ort zum Hüften schwingen. Man tanzt nach dem Essen in einem grossen warmen Raum. Es ist kalt wie die Hölle auf Lenox Avenue. Alles was du heute hattest ist eine Tasse Kaffee. Dein Mantel aus dem Leihaus ist ein zerlumptes Banner auf deinem hungrigen Gerippe. Wisst ihr, die Downtown Leute sind ganz scharf auf Paul Robeson! Vielleicht mögen sie euch auch, schwarzer Pöbel aus Harlem. Guckt doch mal rein ins Waldorf heute Nachmittag zum Tee. Bleibt zum Essen. Gebt Park Avenue viel dunkle Farbe -- umsonst für nichts! Bittet die Junior Leaguers euch ein Spiritual zu singen. Die können es wahrscheinlich besser als ihr - und ihre Lippen sind nicht so rissig von der Kälte, wenn sie in der überdachten Einfahrt aus ihren geschlossenen Autos ausgestiegen sind.
Hallelujah! Überdachte Einfahrten!
Die Seele meiner Mutter ist Zeuge für's Waldorf-Astoria!
(Eintausend Niggertrupp-Hände glätten die Strassenbetten, also bezahlen die Eisenbahn-Investitionen Frauen mit Diamentenketten, die Sert-Wandgemälde anstarren.)
Dem guten Gott sei gedankt!
(Und eine Millionen Nigger krümmen ihre Rücken auf Gummi-Plantagen damit reiche Hinterteile heute Nacht auf dicken Reifen zur Theater Gilde fahren können.)
Die Seele meiner Mutter ist Zeuge!
(Und hier stehen wir, zitternd vor Kälte, in Harlem.)
Ehre sei Gott -
Das Waldorf-Astoria ist geöffnet!

ALLE
Zeigt Stolz und kein Zurück; alle! Das neue Waldorf-Astoria ist eröffnet!
(Überholungsgleis für Privatautos von den Güterbahnhöfen.)
Du warst noch nicht da?
(Ein Tausend Meilen Teppich und eine Millionen Badezimmer.)
Was ist los?
Du hast die Zeitungsanzeigen nicht gesehen? Hast du keine Karte bekommen?
Weisst du nicht, dass sie auf amerikanische Küche spezialisiert sind?
Mach dich auf zur Ecke 49ste Strasse und Park Avenue. Steh auf von der Bank in der U-Bahn, wo du dich mit der Abendausgabe der POST zudeckst! Komm raus aus der Absteige! Hör auf dir den ganzen Tag den Mut wegzufrieren an Strassenecken unter dem EI.
Jesus, bist du noch nicht müde?

WEIHNACHTSKARTE
Gnade sei Maria, der Mutter Gottes!
das neue Christusbaby der Revolution wird gleich geboren.
(Stoss', rotes Baby, im bitteren Mutterleib des Pöbels.)
Irgendwer, schnell, eine Anzeige in die Vanity Fair!
Ruf Oscar vom Waldorf an - um Gottes willen!!
Es ist fast Weihnachten und dieses kleine Mädchen - wurde Hure
weil ihr Magen zu hungrig war es noch auszuhalten -
will ein hübsches sauberes Bett für die Unbefleckte Empfängnis.
Hör mal, Maria, Mutter Gottes, wickel dein Neugeborenes in die
rote Flagge der Revolution: das Waldorf-Astoria is die beste Krippe,
die wir haben. Für Reservierungen: Telefon EL. 5-3000.


Das Gedicht ist zum Teil in schwer übersetzbarem Slang verfasst. Das Original findet ihr auf der Website unter
wildcat-www.de/wildcat/83/w83_astoria.htm

Raute

Ein Konditor auf der Flucht und die Umkehrung der Konkurrenz

Uff, sechs Monate ohne eine neue Wildcat, das muss für einige von Euch echt ne schlimme Zeit gewesen sein! Viele Leute fragten, wo denn unsere Analysen (und Handlungsvorschläge?) zur Krise bleiben. Der Grund für die lange Pause liegt genau darin: wir haben Veranstaltungen, Seminare und eine kleine Konferenz zur Krise gemacht, weil wir in dieser weltpolitischen Zuspitzung gemeinsam rauskriegen wollten, was wir tun können. Wir haben auch unsere Website mehr benutzt, um Thesen und Berichte rumgehen zu lassen, schneller, als es mit einem gedruckten Heft möglich ist. Deswegen waren wir aus dem üblichen Erscheinungsrhythmus rausgegangen - daraus sind nun leider fast sechs Monate geworden.

Jetzt war es aber angesagt, unsere Ergebnisse auch mal wieder in gedruckter Form vorzulegen.

Vorbereitungen

"Kaum an der Regierung haben Obama und Co. ihr Shock and Awe-Programm gegen die Klasse verkündet", schrieb ein US-amerikanischer Linker, als die Grundzüge des Wirtschaftsprogramms der neuen US-Regierung erkennbar wurden. Von der mitschwingenden Enttäuschung abgesehen - viele US-Linke hatten dem Kandidaten Obama unerklärlicherweise viel Hoffnung entgegengebracht - bringt es die Sache in zweierlei Hinsicht auf den Punkt:

* der Krieg gegen den Terror und die Vorbereitungen auf Konflikte "im Inneren" verschränken sich immer mehr. Der Krieg gegen den Gazastreifen ist eine Warnung an die Unterklassen der ganzen Welt: "Wir bekämpfen Euch auch in Euren eigenen Stadtvierteln, mit Panzern, Phosphorbomben und notfalls von Haus zu Haus!" Die Bundeswehr bereitet sich auf Einsätze im Innern vor (Aufbau von Verbindungskommandos auf kommunaler und Landesebene), die italienische Armee macht Patrouillen gegen "Kriminelle und illegale Einwanderer", die US Army bereitet sich auf den Einsatz bei inneren Unruhen wegen der Finanzkrise vor; auch die britische Polizei ließ erklären, sie bereite sich diesbezüglich auf einen "heißen Sommer" vor. Menschen, die Jobs, Häuser oder Ersparnisse verloren haben, könnten sich wütenden und gewalttätigen Protesten anschließen. Schon jetzt habe sich die Stimmung auf Demonstrationen verändert. Im Januar sei es bereits zu wilden Streiks gekommen und "bekannte Aktivisten" würden sich ihren Erkenntnissen nach unter die Demonstrationen mischen.

* die "Arbeits- und Sozialpolitik" der Regierungen, die seit Clinton in den USA und seit HartzIV bei uns im Kern bedeutet: "die Leute auf Trab bringen, rumscheuchen, nicht mehr zur Ruhe kommen lassen, verunsichern, verunglimpfen, niedermachen", wird im Kriseneinbruch verschärft fortgesetzt. HartzIV-Empfänger kriegen nicht einmal die Abwrackprämie - und wenn der ALGII-Regelsatz um üppige 4 Euro monatlich für Erwachsene erhöht wird, darf noch ein Drecksack wie Mißfelder vor ansteigendem Alkohol- und Tabakkonsum bei den Unterschichten warnen.

Aber inzwischen geht denen auch ganz schön die Muffe. Nachdem "gut aufgestellt" beinahe zum Unwort des Jahres 2008 geworden wäre, traten dann Anfang des Jahres in Island und Lettland die ersten europäischen Regierungen wg. Protesten gegen die Krise zurück, und auch die Spalten der deutschen Zeitungen füllten sich mit Meldungen wie "Pleitewelle erfasst Europa", "rasanter Anstieg der Arbeitslosigkeit", "Osteuropa taumelt", "Staatspleite allerorten". Die Zahlen, die das Versiegen der Nachfrage, den Absturz der Auftragseingänge, die Vernichtung von Vermögen beschreiben, erreichen Dimensionen, die sich bis vor kurzem noch niemand vorstellen konnte. Alle merken, dass sich die Talfahrt beschleunigt, ohne dass der Boden irgendwo sichtbar würde. Denn obwohl die Finanzkrise offiziell vor knapp 20 Monaten mit dem Beinahe-Kollaps der Bear Stearns Hedgefonds begann und praktisch sofort auf die BRD übersprang (IKB), weiß noch immer niemand, wie viele faule Papiere die Banken noch abschreiben müssen. Gerade als wir in Druck gehen, schlägt der CDU-Abgeordnete Fromme Alarm: Die Hypo Real Estate habe einen Refinanzierungsbedarf von einer Billion Euro! Nun ist Fromme nicht irgendein Konditor, wie unser bisheriger Wirtschaftsminister, sondern gehört dem Kontrollgremium des Bankenrettungsfonds Soffin an. Trotzdem hat er sich wohl getäuscht: die Hypo Real zockt "nur" mit Derivaten in dieser Höhe, refinanzieren muss sie da erstmal nichts! Zum Vergleich ein paar Zahlen: das Statistische Bundesamt gibt das Bruttoinlandsprodukt der BRD für 2008 mit knapp 2,5 Billionen Euro an; die Schulden der öffentlichen Haushalte betragen insgesamt 1,5 Billionen; bisher hat die Bundesregierung allein in die Commerzbank und die Hypo Real Estate weit mehr als 100 Mrd. Euro gesteckt.


Sprengstoff

Wie können die ArbeiterInnen für die Rettung eines Finanz- und Produktionssystems zur Kasse gebeten werden, das massiv an Legitimität eingebüßt hat? Es wird immer klarer, dass die verschiedenen "Rettungsprogramme" einen Angriff auf die Reproduktionsbedingungen der ArbeiterInnen weltweit fahren. Hier steckt eine große Sprengkraft, denn das bedeutet, die ArbeiterInnen, die in einer Ecke der Welt sich dem Angriff entgegensetzen, fordern unmittelbar alle übrigen dazu auf, es ihnen gleichzutun. Dieser Prozess der Umkehrung der Konkurrenz wird den Verschleiß der Institutionen der Herrschaft beschleunigen. Wir sollten es schaffen, von hier aus den Fortbestand der kapitalistischen Gesellschaftsordnung überhaupt in Frage zu stellen!

Derweil betreibt die offizielle Linke ihr übliches agenda setting: "Wir setzen Termine und Kongresse, auf die sich dann alle anderen beziehen müssen, denn wir haben den Apparat und das Geld und die Verbindungen in Ewigkeit. Amen." PDS, linke Gewerkschaftsführer und Attac haben sich auf symbolisches Gipfelstürmen verständigt: während die G20 in London tagt, machen wir eine Demo in Frankfurt am Main. Zur Demo werden "mindestens eine Million Menschen" erwartet - um so etwas vorzubereiten, braucht's natürlich diverse Treffen, einen Vorbereitungskongress, Aufrufe, Absprachen, Gremien... Und immer wieder sogenannte Mobilisierungsveranstaltungen, bei denen man mit den Leuten nicht über ihre realen Probleme mit der Krise und Versuchen von Widerstand redet, sondern sie "zur Demo mobilisiert". Mobilisierungen müssten Orte schaffen, um Kontakte zu knüpfen, (Krisen-)Erfahrungen auszutauschen, sich selber nen Kopf zu machen. An diesen Ansprüchen gemessen, ist dieser Politikzirkus De-Mobilisierung, die Leute werden in die vorgegebenen, üblichen Politikformen reingepackt. Um so wichtiger, dass wir unsere eigenen Standpunkte und Aktionslinien klarer rausarbeiten! Hoffentlich helfen die folgenden Artikel ein bisschen dabei.

Die Vorabdrucke in der Beilage(*) graben zwar Diskussionen aus den Siebzigern aus, aber dabei kommt hochaktueller Stoff zutage für eine Auseinandersetzung mit Krise und Klassenzusammen-Setzung heute.

Obwohl alle wissen, dass die volle Wucht erst kommt, ist die Krise bisher für die meisten noch ein virtuelles Erlebnis. Aber sie wird in den nächsten Monaten schnell konkret zu spüren sein und uns dann vor neue Fragen stellen.

Deshalb haben wir im Heft Berichte aus Ländern zusammengestellt, die früher und heftiger von der Krise erfasst wurden - und wollen das in der nächsten Wildcat fortsetzen. Als Einleitung zu den beiden Berichten über China und Indien haben wir unseren Leitartikel aus dem letzten Heft zusammengefasst und auf eine Broschüre aus der Schweiz hingewiesen. Mit den dabei zur Sprache kommenden proletarischen Ambitionen ("die Leute wollen zur weltweiten Arbeiterklasse gehören") setzt sich der Artikel zur Krise des Autos nochmal aus einer anderen Sicht auseinander. Die aufkommenden Zweifel bei dem einen oder anderen Autofahrer wurden gerade wieder statistisch eindrucksvoll bestätigt. Ein Auto ist demnach eine Immobilie, die nur während vier Prozent ihrer teuren Abschreibungszeit eingesetzt wird, im Schnitt weniger als eine Stunde am Tag. Und trotz gestiegener PS-Stärke, höheren Spitzentempos und verbesserten Beschleunigungsvermögens bleibt die Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa 30 kmh seit Jahren konstant. - In der Krise erkennen immer mehr, welche gigantische Fehlinvestition ein neues Auto ist: ein 25.000 Euro teurer Neuwagen kostet dich etwa 600 Euro im Monat. Und es gibt nicht mehr viele, die sich so was überhaupt leisten können.

Wir haben diesmal eine Seite freigeräumt. Wir selber können nämlich mit diesen briefmarkengroßen Austauschanzeigen, wo man erfährt, dass wieder ein express oder eine DA draußen ist, eigentlich nix anfangen. Wer die Zeitschriften kennt, weiß es sowieso, da die meisten (außer der Wildcat) ja regelmäßig erscheinen! Und wer sie nicht kennt, kann durch die Briefmarken kein Interesse daran entwickeln. Deshalb haben wir uns überlegt, lieber pro Heft zwei andere Zeitschriftenprojekte vorzustellen. Das kann in der Form sein, dass die auf ner halben Seite sich selber vorstellen (diesmal Trust und Archiv), es kann aber auch mal sein, dass wir ein Interview mit denen machen. Zeitschriften, die an so was Interesse haben, sollen sich melden!

Neukölln, 20. Februar 2009

P.S. Die Wildcat 84 erscheint in drei Monaten - versprochen!

P.P.S. Der oben zitierte US-Linke ist inzwischen der Meinung "es sieht immer mehr danach aus, dass die Wahl von Obama Teil eines Deals war, um sicherzustellen, dass Geithner, Summers und die anderen treuen Vertreter der big bank in den vor uns liegenden stürmischen Jahren weiterhin an den Hebeln der politischen Macht sitzen."
(www.counterpunch.org, 13.2.2009)

Eine Einsicht, die Barry McGuire (kann sich noch jemand an "Eve of Destruction" erinnern?? Die Menschheit steht vorm Weltuntergang. 1965 wochenlang auf Platz 1 in den Charts...) bereits lange vor der Wahl am 4. November 2008 im Interview beim Deutschlandfunk zum Besten gab!

* (Die Beilage der Originalausgabe ist im Schattenblick nicht enthalten.)

Raute

ALLES in Frage stellen

Artikel zur kapitalistischen Krise fangen seit einigen Monaten damit an, man könne ja gar nichts schreiben, weil es in einer Woche bereits überholt sei. Das stimmt doch nicht! so kopflos hätten sie uns gern! Das ganze Finanzgebäude der Weltwirtschaft spult sich gerade rückwärts ab, und während die Teile, die sie 35 Jahre übereinandergeschichtet haben, vor unseren Augen vorbeifliegen, wird täglich alles klarer (von daher die aktuelle Brisanz der Debatten, die in der Beilage verhandelt werden!). Den Artikel in der Wildcat 82 kann man auch heute noch mit Gewinn lesen, "veraltet" ist er vielleicht insofern, als er noch so Sachen wie CDOs erklärt - inzwischen geht es um TAF, TSLF, MMIFF, AMLF, TARP und CPFF. Aber hinter solchem Buchstabensalat und Zahlenbombardement ist die Strategie der Herrschenden uns gegenüber doch recht leicht zu durchschauen: erst einlullen, dann schocken.

Regime change

Einlullen: Der Artikel in der Wildcat 82 begann mit der Warnung von Finanzminister Steinbrück im Sommer 2008, man solle nicht von Rezession reden, das verunsichere die Menschen. Im Februar 2009 warnte der Präsident des Wirtschaftsforschungsinstituts Halle, man solle nicht von Depression reden, sonst "kriegen wir die Depression am Ende wirklich". Rezession bedeutet Rückgang; statistisch gesehen tritt sie dann ein, wenn die Wirtschaftsleistung eines Landes zwei Quartale hintereinander im Vergleich zum jeweiligen Vorquartal rückläufig ist. Das können wir also abhaken, das vierte Quartal 2008 war in der BRD das dritte Quartal in Folge mit niedrigerem BIP. Von einer Depression spricht man, wenn die Krise länger dauert und neben konjunkturellen auch strukturelle Ursachen hat, etwa fundamentale Schieflagen in den Bilanzen der Banken, wenn es zu Pleiterekorden und Massenarbeitslosigkeit kommt, Staaten an den Rand der Zahlungsunfähigkeit geraten. Somit wäre also klar, dass wir in einer Depression sind.

Die Pleite von Lehman Brothers im September 2008 markierte einen Wendepunkt in der Einschätzung und Behandlung der Krise. George Soros sah in ihr den "Kollaps des Finanzsystems", die zeit "das Ende der Wall Street". Nun war die allgemeine Ansicht "so schlimm wie die Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre". Der folgende Artikel will zeigen, dass es noch deutlich "schlimmer" ist. Eine Einsicht, an die sich im Februar 2009 - angesichts der drohenden "Zweiten Welle" von Staatsbankrotten - auch viele Experten ranrobben. Volcker sagte Mitte Februar, er könne sich an keine Zeit erinnern, "nicht einmal die Große Depression", in der es zu einem so schnellen und so globalen Einbruch gekommen sei. Am 11. Februar sprach eine Analyse der EU vom "Absturz aller Industriesektoren" und dem "Kollaps der Produktion". "Ausmaß und Geschwindigkeit der Krise" seien "völlig neu" und hätten zu "bisher nicht gekannten Produktions- und Absatzrückgängen geführt". Die Stahlindustrie verzeichne Auftragseinbrüche von 43 bis 57 Prozent, und die monatlichen Lkw-Bestellungen in der EU seien von 38.000 im Januar 2008 auf 600 im November zusammengebrochen. Deshalb berief man für den 1. März einen EU-Sondergipfel zur Krise ein. Einen Tag später, am 12. Februar gab der US-Geheimdienstchef Blair eine Analyse seines Dienstes bekannt, wonach die "Wirtschaftskrise eine größere Bedrohung für die Sicherheit der USA als der internationale Terrorismus" sei. "Die Stabilität vieler Schwellenländer" stehe auf der Kippe. Am 18. Februar brachte Schäuble im Interview mit der Stuttgarter Zeitung das ganze sogar versehentlich auf den eigentlichen Punkt: "Herr Schäuble, ist der Kapitalismus für die Welt mittlerweile gefährlicher als der Terrorismus...? - In der Tat, die Banken- und Wirtschaftskrise ist zurzeit unsere große Sorge. Da ist was dran."

Regime change: Selbst bürgerliche Kommentare ziehen inzwischen Parallelen zum Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755, um die Epochenwende kenntlich zu machen. Man sieht das Erdbeben von Lissabon gemeinhin als Auftakt zur Französischen Revolution. Als Merkel und Steinbrück am 5. Oktober 2008, einem Sonntag Nachmittag, vor die Kameras traten und verkündeten, die Spareinlagen seien sicher, das war wie Schabowski am 9. November 1989, ein System ist am Ende und die Herrschenden sind kopflos.

Who changes?

Im zweiten Punkt behauptete der Artikel in der Wildcat 82: "Nur wenn der Kapitalismus an Grenzen stößt, gibt es ernsthafte Aussichten auf eine das Kapitalverhältnis radikal umstürzende Revolution". Zwischenbilanz: die Grenzen werden erkennbar, aber das ist noch kaum in der sozialen Realität der BRD angekommen. Wo die Krise schon deutlicher zu spüren ist, gab es dagegen schon eine ganze Menge Krawall. Im Herbst in China, in Italien, im Dezember in Griechenland (wo der Auslöser der Bewegung nichts mit der Krise zu tun hatte, sich ihre soziale Breite aber ähnlich wie in Italien mit der Krise erklärt - die Bewegung in Italien prägte am Ende den Slogan "Eure Krise bezahlen wir nicht!"). Seit Januar gingen dann Leute in Lettland, Litauen, Bulgarien, Großbritannien, Frankreich, Island, Südkorea, Guadeloupe, Réunion, Madagaskar, Rumänien, Russland, Ungarn, Mexiko und Irland gegen die Krise(npolitik) auf die Straße - in vielen Fällen verbunden mit Streiks. Eine beeindruckend lange Liste; zwei Regierungen sind darüber bereits gestürzt, aber eine wirklich revolutionäre Entwicklung ist noch nicht zu erkennen.

Was tun?

Es macht bestimmt Sinn, Berichte aus diesen Bewegungen zu sammeln, weil die Medien kaum berichten - copy cats, das könnten sie jetzt gerade noch brauchen! - und das haben wir fürs nächste Heft geplant. Es geht aber nicht um Informationsweitergabe sondern auch um Untersuchung: fühlen sich die Leute im gleichen Maße von der Krise betroffen, durchbrechen sie die bisherige Vereinzelung im Überlebenskampf? Noch fühlen sich die Stammbelegschaften in der BRD durch Kurzarbeit abgesichert. Es überwiegt die Einschätzung "die kommen uns seit Anfang der 80er Jahre regelmäßig mit ihrer Krise - und am Ende müssen immer wir es bezahlen". Das stimmt, wir sollten aber gegen "Aussitzen"-Strategien klarmachen, dass die Krise diesmal wesentlich tiefer geht als die Krisen, an die sich heute Lebende erinnern können.

Die Bundesregierung sagt zum Beispiel einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in diesem Jahr um 2,25 Prozent voraus, einige Wirtschaftsinstitute "drei bis vier Prozent", gerade als wir zu drucken anfangen, prophezeit der Chef-Volkswirt der Deutschen Bank "mindestens fünf Prozent" Rückgang... darüber zu spekulieren, ob womöglich auch das noch zu optimistisch ist, bringt uns erstmal nicht weiter, eher durch historische Vergleiche klarzumachen, was das real, für uns, bedeutet: In der weltweiten "Ölkrise" 1974 fiel das BIP der BRD gerade mal um 0,9 Prozent. Und die Krise traf in eine Phase, wo die Reallöhne zehn Jahre lang massiv gestiegen waren; heute schlägt sie nach einer langen Phase mit stagnierenden Reallöhnen und steigenden Schulden ein.

Um das Terrain unserer Handlungsmöglichkeiten abstecken zu können, sollten wir auch die Phasen der Krisenpolitik klar haben: 2007 bis September 2008: einlullen; Mitte September 2008 bis Februar 2009: historisch noch nie dagewesene Summen ins Bankensystem pumpen und vor den Leuten verstecken, dass sie das letzten Endes werden bezahlen müssen; jetzt sind wir in der dritten Phase: die Metallindustriellen kündigen einen "drastischen Arbeitsplatzabbau" an, "sämtliche tarifpolitischen Register müssen gezogen werden", u.a. "Schnellschlichtung", "längere Befristungsmöglichkeiten", "Absenkung unter Tarifnormen", "weitere finanzielle Zugeständnisse von den Gewerkschaften". In der "wohl schwierigsten Situation seit der Weltwirtschaftskrise vor gut 80 Jahren kommt es auf die Geschwindigkeit an", sagte der Südwest-Metallchef Mitte Februar bei der Pressekonferenz. Die vierte Phase ist etwa für den Frühsommer zu erwarten, wenn sie die angeheizte Hyperinflation brutalsmöglichst abbremsen werden. Nochmal George Soros: "Das wirtschaftliche Gleichgewicht kann nicht auf einen Schlag wiederhergestellt werden. Stattdessen muss die Wirtschaft erst mit Geld vollgepumpt werden; dann, wenn Kredite langsam wieder fließen, muss diese Liquidität fast ebenso schnell wieder aus dem System abgezapft werden. Die zweite Operation wird sowohl politisch als auch technisch schwieriger als die erste." Technisch ist sie deshalb schwieriger, weil bei der Rückkehr der Inflation Währungen kaputt gehen können - womöglich haben sie bereits Pläne für eine "Währungsreform" in den Schubladen. Wir sollten uns aber heute schon klar machen, was das ist, was Soros "politisch schwierig" nennt: "Liquidität abzapfen" bedeutet einen plötzlichen, hammerharten Verarmungskurs - als Volcker als damaliger Präsident der Fed 1979 die Zinsen schlagartig um zehn Prozent erhöhte, löste er damit einen weltweiten Anstieg der Massenarbeitslosigkeit aus. Bezeichnenderweise hat ihn Obama zu seinem Wirtschaftsberater ernannt... (siehe dazu genauer in der Beilage).

Bald wird es nicht mehr drum gehen, den Leuten zu erklären, dass die Krise kommt, sondern es wird um praktische, politische Vorschläge gehen! Denn eins ist sicher: von selber bricht der Kapitalismus nicht zusammen bzw. wird aus seinem Zusammenbruch nicht automatisch was Gutes.


Randnotizen

CPFF (Commercial Paper Funding Facility): ermöglicht der Fedden direkten Kauf von Commercial Papers (kurzfristige Anleihen, mit denen Firmen sich finanzieren).

AMLF (Asset-Backed Commercial Paper Money Market Mutual Fund): Dieses Programm steht in der Fed-Bilanz unter "Other Loans". Hierbei werden auch Asset Backed Commercial Papers als Sicherheit akzeptiert, um den Markt für Geldmarktfonds liquide zu halten.

MMIFF (Money Market Investor Funding Facility): Dieses Instrument hat die Aufgabe, Liquidität für Investoren in die US-Geldmärkte zur Verfügung zu stellen.

TAF (Term Auction Facility): Refinanzierungsgeschäft, das Geschäftsbanken helfen soll, ihre Liquiditätsschwierigkeiten zu überwinden.

TARP (Troubled Assets Relief Program): Das 700 Milliarden $ Paket der US-Regierung zum Rückkauf von notleidenden, in Zusammenhang mit der Immobilienkrise stehenden Papieren. TARP ist eine ebenso schwere Zäsur wie das Ende des Goldstandards.

TSLF (Term Securities Lending Facility): Dadurch wird das Ausleihen von bis zu 200 Mrd. $ mit einer Laufzeit von 28 Tagen (anstatt bisher overnight) gegen eine Besicherung mit sogenannten guten Wertpapieren möglich, wobei ausdrücklich auch Anleihen der verstaatlichten Fannie Mae und Freddie Mac zugelassen sind.

Raute

Zwischen Bankenkollaps und Bankenherrschaft

Die gesamte Bankenbranche ist ein Minenfeld, immer weitere Kreditausfälle kommen ans Licht. Der IWF beziffert den gesamten Abschreibungsbedarf inzwischen auf bis zu 23,2 Billionen Dollar - als er ihn in der ersten Jahreshälfte 2008 auf eine Billion geschätzt hatte, musste er diese Zahl auf Druck der Bush-Regierung durch eine niedrigere ersetzen! Angesichts der gewaltigen faulen Kredite werden den Banken ihre extremen "Hebel" (Verhältnis von Eigenkapital zu Verschuldung) zum Verhängnis. Die Eigenkapitalquote der Commerzbank nach der Übernahme der Dresdner liegt bei 1,6 Prozent, die der Deutschen Bank bei 1,8 Prozent (und wird jeden Tag weniger) - beide können ohne staatliche Beteiligung nicht überleben.

Aktuell rücken die westeuropäischen Banken ins Zentrum der Besorgnis, weil sie sehr viele Kredite nach Osteuropa gepumpt haben und dort eine "zweite Welle" an Staatsbankrotten droht. Der IWF warnt davor und weist darauf hin, dass viele Länder im Vergleich zu ihren Banken zu klein sind. Wenn sie Banken zu retten versuchen, werden sie selber zahlungsunfähig und ihre Währung zerbricht. Ein kleines Beispiel: Die (Bundes-)Länder Hamburg und Schleswig-Holstein bringen sich durch die Rettung der HSH-Bank an den Rand ihrer Handlungsfähigkeit; die Summe liegt über ihren Budgets. Ein größeres Beispiel: Der Schweizer Staat könnte die UBS gar nicht retten...

Am 11. Februar zitierte der Daily Telegraph aus einem Geheimbericht der Europäischen Kommission in Brüssel, wonach nicht nur das US-amerikanische, sondern auch das europäische Banken-System so gut wie pleite sei. 44 Prozent der Vermögenswerte aller europäischen Banken, die in den Büchern noch mit 18,3 Billionen Euro bewertet werden, seien in Wirklichkeit "hochgiftige" Schrottpapiere - darunter eine Billion Kredite an Osteuropa. Durch den Zusammenbruch eines dieser Länder könnten auch "bislang relativ gesunde EU-Länder" wie Österreich zahlungsunfähig werden. (Die Kredite österreichischer Banken an Osteuropa betragen laut Bank für internationalen Zahlungsausgleich 85 Prozent des österreichischen BIP.) Falls kleinere Mitgliedsländer nicht mehr in der Lage seien, ihre Banken zu stützen, bestehe die "akute Gefahr eines systemischen Zusammenbruchs des gesamten EU-Bankensystems". Hier beschönigt das Papier sogar die Lage: Probleme mit ihrer Refinanzierung haben auch größere Länder (Italien, Spanien), das könnte letztlich die europäische Währungsunion sprengen.

Die US-Banken stehen keineswegs besser da: Es wird geschätzt, dass auf Citigroup, Bank of America, JP Morgan-Chase und Wells Fargo zwei Drittel des gesamten Abschreibungsbedarfs entfallen. Der ehemalige Weltbankchef Stiglitz erklärte im Interview mit der Deutschen Welle: "Die US-Banken sind bankrott. Ihre Verstaatlichung ist die einzige Möglichkeit." Die Rettungsprogramme für die Banken seien sehr viel teurer geworden als eine Verstaatlichung. Zum Beispiel brachte die US-Regierung für die AIG insgesamt 123,5 Mrd. Dollar auf (zu einer Zeit, als die Aktien der Versicherung nur noch 7 Mrd. wert waren!), nur um Mitte Februar zu erfahren, dass die AIG im vierten Quartal 2008 den größten Quartalsverlust in der Geschichte des Kapitalismus eingefahren hat. Auch Nouriel Roubini hat ausgerechnet, dass die US-Banken bankrott sind und sieht in ihrer Verstaatlichung die einzige Möglichkeit. Die Diskussionen um die Gründung einer "bad bank", in die alle faulen Kredite ausgelagert werden, seien Scheingefechte: "Die bad bank gibt es schon - sie heißt Federal Reserve."

Werner Rügemer hat in einem wichtigen Artikel in der jungen welt vom 17. Januar darauf hingewiesen, dass Dresdner Bank und Commerzbank 1931 schon einmal verstaatlicht wurden - "unter Hitler wurden sie profitabel reprivatisiert. Die gegenwärtige neoliberale Verstaatlichung markiert den Beginn der direkten Bankenherrschaft".

Die US-Notenbank hat ihre Munition weitgehend verschossen. Mitte Dezember senkte sie den Leitzins auf (nahezu) Null. Dadurch rührt die Fed erneut eine "toxische Mischung" an, denn Zinsen "belohnen" im Kapitalismus normalerweise das Risiko; die Nicht-Unterscheidbarkeit von sicheren und hochriskanten Anlagen hat Mitte 2008 zur rasend schnellen Ausbreitung der Bankenkrise geführt! Die Fed hat es bisher geschafft, durch "neuartige Instrumente" virtuelles Geld zu kreieren, ohne die umlaufende Geldmenge zu erhöhen. Also die Banken zu retten, ohne eine Hyperinflation auszulösen. Der Knackpunkt kommt, wenn die Banken wieder funktionieren und Geld verleihen! (s.o.)

Wirtschaftsnobelpreisträger Krugman sieht weltweit, vor allem in den emerging markets einschließlich Osteuropa, deutliche Anzeichen von Währungskrisen. Diese seien aber nicht wie die Pesokrise, die Rubelkrise, die Asienkrise oder die Argentinienkrise regional begrenzt, sondern global. Deshalb könne die Währungskrise z.B. eines osteuropäischen Landes die "Mother of all Currency Crises" auslösen. Und Krugman weiß, wovon er spricht: er hat den Begriff "currency crisis" 1979 erfunden.


Randnotizen

Eigenkapitalquote:
Anteil des Eigenkapitals am Gesamtkapital eines Unternehmens. (Verschuldungsgrad).

Fed:
Federal Reserve System, kurz Fed, US-Notenbank. Ihr obliegt die Geld- und Währungspolitik: Aufrechterhaltung eines funktionierenden Zahlungssystems, Überwachung der Geldmenge.

AIG:
American International Group, lange Zeit größter Erstversicherungskonzern der Welt, jetzt an dritter Stelle hinter Allianz SE und ING Groep. Hat die meisten Cross Border Leasing Geschäfte versichert. Nach Rekord-Verlusten infolge der Subprime-Krise erhielt AIG im September 2008 85 Mrd. Dollar Überbrückungskredit, im Gegenzug übernahm die Fed 8O Prozent der Anteile. Inzwischen hat die AIG 123,5 Mrd. Dollar erhalten - die größte staatliche Zahlung an ein privates Unternehmern in der Geschichte der USA.

Raute

8 Thesen

1. Wir sind in einer welthistorischen Situation
Strukturkrise, Konjunkturkrise und Finanz-/Bankenkrise kommen zusammen. Die aktuelle Krise ist nicht "zyklisch", sondern stellt einen "Bruch" dar. Kein Lebender hat eine Krise dieser Tiefe schon mal erlebt. Niemand weiß, wie viele Billionen fauler Kredite noch abgeschrieben werden müssen. Die "Geschäftsmodelle"der letzten 35 Jahre (Investment Banking, Hedge Fonds, Derivatehandel, "Heuschrecken"...) sind am Ende.

2. Überakkumulationskrise
Weil es sich in produktiven "Sachanlagen" nicht mehr ausreichend verwerten kann, sucht das Kapital seit Anfang der 70er Jahre weltweit nach (anderen) "Anlageformen" (in der bürgerlichen Terminologie wird das "Anlagenotstand" genannt). Die dabei entstandene Finanzblase wurde zur (krisenhaften) Grundlage der sogenannten "Realwirtschaft", die nur noch aufgrund der disproportionalen Ausweitung des Kredits wächst - und zwar wenig: Das Welt-Bruttosozialprodukt stieg seit den 1970er Jahren nur noch um zwei bis vier Prozent jährlich, die Investitionen in "Sachanlagen" blieben über den gesamten Zeitraum unter ihrem historischen Mittel. "Regulierung des Finanzsektors" hieße, auch das bisschen Wachstum noch abzuwürgen.

3. "Krise der Krise" - die Rache der '68er
Die ganze Phase seit Beginn der 70er Jahre ist als eine langgezogene Krise zu fassen - der aktuelle Einbruch als Krise dieser Krise. Deshalb schimmerte auch in jeder konjunkturellen, regionalen oder sektoralen Zwischenkrise das "Ende" auf. Bisher wurden alle Krisen durch die noch stärkere Ausweitung des Kredits "gelöst" - das versuchen sie auch diesmal wieder, stoßen aber an den drohenden Crash des Dollar und somit des Weltwährungssystems.

4. Die Krisenmaßnahmen der Herrschenden zielen bisher nicht auf einen Wiederaufschwung, sondern darauf, politisch zu überleben.
Die bisherigen Krisenmaßnahmen sind eine Fortsetzung, teilweise sogar Verschärfung, der neoliberalen Angriffe auf die Klasse. Die massiven Staatseingriffe blamieren das neoliberale Mantra von der "Naturnotwendigkeit" der politischen Maßnahmen (Thatcher: tina). Aber nirgends werden Reformen in Gang gebracht, die der Klasse Luft verschaffen würden, und an die eine Dialektik von Reform/Revolution anknüpfen könnte.

5. Schon in den ersten Phasen der Krise beginnt eine gewaltige weltweite Entlassungswelle.
Autoindustrie, Banken und Versicherungen haben bereits in den letzten Jahren stark Personal abgebaut. Bisher wurde das aber mit Abfindungen bewerkstelligt. Nun schnellt die Arbeitslosigkeit viel rascher als in früheren Krisen hoch. Die US-Arbeitslosenquote ist bereits jetzt auf dem höchsten Stand seit 1967. Den "Exportweltmeister" BRD trifft die Weltwirtschaftskrise besonders heftig. Die Stahlproduktion z.B. ging weltweit im Januar um 24, in der BRD um 35 Prozent zurück. Die Arbeitslosigkeit in der BRD stieg von Dezember auf Januar um 12 Prozent. Die Zusammensetzung der Arbeitslosigkeit ändert sich rasant: Von den 919.000 neu gemeldeten Arbeitslosen hatten 490.000 einen festen Job im ersten Arbeitsmarkt. Banken wollen bis zu einem Drittel ihrer Angestellten entlassen. (Der britische Finanzsektor z.B. wird bis Ende 2009 100.000 Arbeitsplätze abbauen.) Mitte Februar versucht Karmann, zum erstenmal Massenentlassungen ohne Abfindungen durchzusetzen...

6. Krise der Linksradikalen
Die (radikale) Linke ist nicht auf der Höhe der Zeit, sondern macht business as usual. Bündnispolitik, Mobilisierung zum symbolischen Gipfelsturm, Hoffen auf Gewerkschaften und andere Institutionen. Mit "Agenda Setting" meinen sie, nach wie vor über unsere Zeit bestimmen zu können. Die Gewerkschaften machen derweil Zugeständnisse im Voraus oder führen Ablenkungskämpfe (z.B. die Azubi-Auseinandersetzung bei Daimler Demo mit 3000 ArbeiterInnen am 18. Februar in Stuttgart für die Übernahme der 200 (!) Azubis - am Tag davor hatte Zetsche Leid und Tränen angekündigt, da wäre es um ganz andere Dinge gegangen). Wir müssen uns in die sozialen Prozesse einmischen, keine abgehobene Vertreterpolitik machen!

7. Krise der Repräsentanz - Krise der Politik
Etwas Positives kann festgehalten werden: die SPD ist am Arsch. Und die CDU leidet unter der Krise noch sehr viel mehr. Die Mitgliederverluste bei Gewerkschaften und "Volksparteien" sollten wir nicht als "Politikmüdigkeit" missverstehen. Es gibt heute viel mehr Initiativen, soziales Engagement und Kapitalismuskritik als etwa Mitte der 60er Jahre. Zwei Drittel der Deutschen sagen bei Umfragen, die soziale Marktwirtschaft sei kein gutes Gesellschaftssystem. In einer Umfrage sprachen sich 36 Prozent für das Konjunkturprogramm der Regierung und 48 Prozent für den Gegenentwurf der FR aus (Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes auf 500 Euro, gesetzlicher Mindestlohn von zehn Euro, 100 Euro mehr für alle Rentner, die weniger als 800 Euro bekommen, usw.). Das Problem liegt eher hier: viele Leute haben noch Hoffnungen in Reformen. Entscheidend ist, was daraus entsteht, wenn diese unter der Wucht der Krise zerbrechen.

8. Es gibt kein Außen mehr.
Zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus wird die Arbeiterklasse in China gleichzeitig mit dem Rest des Weltproletariats von den Auswirkungen der Krise erfasst. Die Frage ist gar nicht, ob es zu Aufständen gegen die Krise kommt, ob Regierungen stürzen und Währungen zusammenbrechen. Die Frage ist, ob in diesen Bewegungen zum ersten Mal in der Geschichte die Weltarbeiterklasse gemeinsam kämpft.

Raute

It's Chimerica, stupid!

Die neue US-Außenministerin Clinton gab schon vor ihrer Reise nach China Mitte Februar das Motto bekannt: "Wer gemeinsam in einem Boot sitzt, sollte den Fluss friedlich überqueren." Sie zitierte damit den chinesischen Philosophen Sunzi, der erzählt, wie Soldaten der verfeindeten Staaten Wu und Yue sich in einem Boot wiederfinden und ihre Waffen niederlegen, um in einem Sturm sicher ans Ufer zu kommen.

In den letzten zehn Jahren waren Welthandel und Weltwährungssystem nur einigermaßen intakt durch ein symbiotisches Verhältnis zwischen den USA und China, für das sich im Englischen der Begriff Chimerica gebildet hat (zuweilen auch Bretton Woods II). Der Mechanismus lässt sich so zusammenfassen: In China produzierter Mehrwert wird durch Verkauf der Waren in den USA realisiert und als Dollarguthaben auf chinesischen Banken akkumuliert. Mit diesen Dollars kauft China dann Anleihen der US-Regierung. Das ermöglichte die US-amerikanische Niedrigzinspolitik und den Immobilienboom, wodurch wiederum die "amerikanischen Konsumenten" Geld leihen konnten, um die chinesischen Waren zu kaufen. Überkapazitäten in China wurden ausgeglichen durch "Überkonsum" in den USA, einer hohen Sparquote in China entsprach eine hohe Verschuldung in den USA. Somit waren die Kapital- und die Leistungsbilanz ausgeglichen. Aber jede Veränderung in einem dieser vier "Ströme" macht gleiche und entgegengesetzte Veränderungen in den anderen drei notwendig.

Der Überschuss an Geld führte in den USA dazu, dass die Banken aggressiv Kredite vergaben, das überschüssige Geld suchte nach "Anlagen" (s.o. "Anlagenotstand") - und fand sie vor allem in Immobilien. Dadurch stiegen die Hauspreise stark an (von 1995 bis 2007 jährlich zwischen zehn und 15 Prozent) und die Leute verschuldeten sich auf diese scheinbar ewig steigenden Hauspreise und konsumierten auf Pump. Ohne den Immobilienboom wäre das BIP der USA in den letzten acht Jahren nur noch um ein Prozent jährlich gewachsen.

Beide Länder hingen am selben Wachstumsmodell: der immer weiteren Hebelung des Konsums der amerikanischen ArbeiterInnen. Dazu mussten die Kreditmengen ausgeweitet werden, immer mehr Leuten mussten Kredite aufgedrückt werden, notfalls eben subprime. Diese Konstellation war selbstverstärkend und so erfolgreich, dass sie an Grenzen zu stoßen drohte ("China kauft alle Rohstoffe auf"). Aber wie jedes Schneeballsystem musste die Immobilienblase in den USA früher oder später platzen. Die "Subprime-Krise" war Auslöser, nicht Ursache der aktuellen Krise. Diese ist eher eine Krise der gigantischen Ungleichgewichte der internationalen Zahlungsströme.

Die USA hatten 2007 ein Außenhandelsdefizit von fast 750 Milliarden Dollar. Die gewaltige Überproduktion in China führte 2006 zu einem Handelsbilanzüberschuss von 177,5 Mrd. Dollar (BRD 160 Mrd. Euro), 2007 sogar von 262 Mrd. Dollar (BRD knapp 200 Mrd. Euro; zur BRD vgl. den Krisenartikel in Wildcat 82; seit 2007 ist übrigens die EU der größte Abnehmer chinesischer Waren). Der Handelsbilanzüberschuss eines Landes ist die Lücke zwischen seiner Produktion und dem Binnenkonsum. Obwohl, am Börsenwert gemessen, drei der fünf größten Banken der Welt inzwischen aus China kommen, ist das chinesische Finanzsystem noch sehr rückständig. Deshalb ist China gezwungen, die riesigen Dollarmengen, mit denen die USA ihren Konsum chinesischer Waren bezahlen, "durchzureichen", sonst hätten sie sofort eine Hyperinflation im eigenen Land. Letztlich wurde die Dollarhegemonie seit einem Jahrzehnt nur noch von den asiatischen und den OPEC-Ländern gestützt. China hat die größten Währungsreserven der Welt, Brad Setser hat sie auf 2,2 Billionen Dollar Ende 2008 geschätzt (das sind mehr als 1600 Dollar für jede Chinesin). Davon sind etwa 1,7 Billionen in Dollar angelegt, Japan hält knapp eine Billion Dollar; Taiwan, Südkorea und die OPEC-Staaten zusammen nochmal zwei Billionen Dollar als Währungsreserven. Es ist klar, dass die USA diese Summen nie zurückzahlen können. Trotzdem steckt China etwa zehn Prozent seines Bruttoinlandsprodukts jährlich in US-Papiere. Diese warfen die ganze Zeit sehr wenig ab, nun drohen sogar Verluste (Dollarabwertung und Nullzins-Politik in den USA). Weil China gedroht hatte, seine Währungsreserven sonst in Euro umzuschichten, musste die US-Regierung im September 2008 die beiden Hypothenkenbanken Fannie Mae und Freddie Mac verstaatlichen (China war dort mit 376 Milliarden Dollar Kredit engagiert - ca. einem Fünftel seiner gigantischen Dollarreserven) - die bis dahin größte Rettungsaktion seit dem Zweiten Weltkrieg, und eine historische Niederlage der Hegemonialmacht.

Die Ablösung des Dollars vom Gold (siehe Beilage) war die Voraussetzung zur scheinbar schrankenlosen Ausweitung der Dollarmenge. Bereits Mitte der neunziger Jahre war nur noch jeder sechste umlaufende Greenback durch Wertproduktion gedeckt. In den vier Jahren nach der dot.com-Krise hat die Fed mehr Dollars in Umlauf gebracht als in der gesamten 200-jährigen US-Währungsgeschichte zuvor. Es kam zur größten Ausweitung von Konsumentenkrediten und Hypotheken in der Geschichte des Kapitalismus. Bereits vor den Bankenrettungsprogrammen brauchten die USA Kapitalzuflüsse von vier Milliarden Dollar am Tag! Diese gewaltige Summe hat sich verdoppelt, der Finanzierungsbedarf für 2009 wird auf gigantische 2,5 Billionen Dollar, das Haushaltsdefizit für 2009 auf 1,2 Billionen Dollar geschätzt. Eine Hälfte der Chimerica-Symbiose, die scheinbar schrankenlose Verschuldungsfähigkeit der USA, wird hinfällig. Und bei einbrechenden Exporten kann China absehbar diese Kapitalströme nicht mehr aufbringen (und in der Tat sind im vierten Quartal 2008 diese Zuflüsse zurückgegangen).

Um den Welthandel aufrechtzuerhalten, müssten die monetären Ungleichgewichte zwischen den USA und China ausgeglichen werden. Die Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren zeigte, dass dazu die Nationen mit einem Handelsbilanzüberschuss den Binnenkonsum ausweiten müssen, also China (und nebenbei gesagt, auch die BRD). In den Handelsbeziehungen zwischen zwei Staaten drücken sich aber auf sehr komplexe Weise die jeweiligen Klassenverhältnisse aus, das lässt sich nicht durch einfache politische Entscheidung ändern. Um einigermaßen ins Gleichgewicht zu kommen, müsste die Sparquote in den USA um mindestens fünf Prozent steigen, also der Konsum um fünf Prozent zurückgehen (wenn alle anderen Variablen gleich blieben!), und der Konsum in China um 40 Prozent steigen. Also Lohnerhöhungen von 40 Prozent, die dann auch noch alle in den Konsum fließen müssten - ein Ding der Unmöglichkeit, die Profite der Unternehmer in China würden zusammenbrechen, Waren made in China würden massiv verteuert. Eine Alternative wäre, die (Export-)Produktion zusammenbrechen zu lassen und gleichzeitig den Konsum aufrechtzuerhalten bzw. durch Infrastrukturmaßnahmen den Binnenmarkt zu stimulieren. Weder ein Einbrechen der Industrieproduktion in dieser Größenordnung noch die Fortsetzung von Chimerica ist gegen die chinesische Arbeiterklasse auf Dauer durchsetzbar: in China hat eine heftige Debatte darüber eingesetzt, warum in Zeiten der Krise (China leidet neben den großen Problemen der Exportindustrie unter einer gewaltigen Immobilienkrise) jährlich zehn Prozent des BIP verschleudert wird, um die USA zu stützen.

Eine Abwertung des Yuan zur Stützung der Exporte würde das "Abwertungsrennen" (Kagarlitzky) der verschiedenen Währungszonen dramatisch beschleunigen. Wie blank die Nerven diesbezüglich liegen, zeigte der Vorwurf des neuen US-Finanzministers Geithner Ende Januar an China, es würde den Yuan manipulieren. Die größte Gefahr für den Weltkapitalismus sieht Kagarlitzky im Moment aber in einem Zusammenbruch der US-Währung ähnlich dem Kollaps des Rubel 1998/99. Mit dieser Einschätzung steht er nicht allein, u.v.a. hält auch die Financial Times eine "Flucht aus dem US-Dollar (für) das größte Risiko des Jahres 2009." Denn die US-Regierung hat ihre Verschuldung noch einmal dramatisch ausgeweitet. Aber auch die chinesische Regierung hat ihre Banken angewiesen, sehr viel mehr Kredite zu vergeben (allein im Januar 2009 wurden ein Drittel soviel Kredite vergeben wie im ganzen Jahr 2008) zur Subventionierung der Exportindustrie. Trotzdem ist der chinesische Außenhandel im Januar um 29 Prozent eingebrochen. Die Exporte fielen um 17,5 Prozent, die Importe um 57 Prozent (ein Teil des Rückgangs erklärt sich allerdings dadurch, dass das chinesische Neujahrsfest 2009 in den Januar statt wie im Vorjahr in den Februar fiel). Beide Regierungen kämpfen ums Überleben und sehen sich dabei zu protektionistischen Maßnahmen gezwungen. Der Welthandel ist in den Monaten von November bis Januar mit einer Dynamik eingebrochen, die stärker war als während der Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren. Beim Weltwirtschaftsforum Ende Januar in Davos musste die globale Elite eingestehen, dass die ersten beiden Versuche zur Eindämmung der Krise gescheitert waren. Alle waren sich in Davos einig, dass Protektionismus auf jeden Fall verhindert werden müsse - während viele Länder bereits die Abschottung starten (Erhöhung der Einfuhrzölle, buy american, Subventionen für frz. Autoindustrie, nationale Rettung von Opel usw.). Das nicht lösbare Problem: "Multilateralismus" setzt eine Hegemonialmacht voraus, die es aber nicht mehr gibt! Die Krise verschärft die Konkurrenz.

Am Ende der Geschichte von Sunzis "Kunst des Krieges" besiegen die Yue übrigens doch noch die Wu.


"Am 22. August [2008] meldete sich Yu Yongding per Mail bei der Finanznachrichtenagentur Bloomberg. Der Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und Politik an der chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften drohte unverhohlen: 'Wenn die US-Regierung Fannie und Freddie zusammenbrechen lässt und die internationalen Investoren nicht adäquat kompensiert werden, wird das katastrophale Konsequenzen haben. Es wird nicht das Ende der Welt sein, aber das Ende des gegenwärtigen internationalen Finanzsystems.' Yu ist Ratgeber Pekings, und es ist nicht das erste Mal, dass er als eine Art informeller Regierungssprecher fungiert: 'Die Folgen einer solchen Pleite können außerhalb der menschlichen Vorstellungskraft sein.'"



Ende einer historischen Konstellation

Die heutige Krise überschreitet nicht nur in ihrer Dynamik und in ihrer voraussichtlichen Dauer die Weltwirtschaftskrise von 1929/31. Ein viel wichtigerer Unterschied liegt darin, dass sich in den 30er Jahren im wesentlichen "alle" einig waren, wie man aus der Krise wieder herauskäme: Kapitalisten, Stalinisten, Nationalsozialisten und US-Demokraten (Roosevelt) setzten auf die serielle Massenproduktion von langlebigen Konsumgütern und Maschinen, flankiert von einem nationalen Sozialstaat - und alle experimentierten mit Arbeitslagern. Das Fließband als Produktionsweise war bereits eingeführt, es musste lediglich forciert und flankiert werden (was dann mehr als 30 Jahre lang zu ungeheuren Produktivitätssteigerungen führte). Heute ist weder eine neue Produktionsweise noch eine neue Form von produktiver, staatlicher Einbindung in Sicht. Deshalb ist die aktuelle Krise eher mit der fünfjährigen "long depression" 1873-1878 vergleichbar, die in eine zwanzigjährige Stagnation bis 1896 mündete.

Damals hielten viele Zeitgenossen den Kapitalismus für endgültig erledigt (nach den revolutionären Bewegungen 1831 bis 1848 und der Weltwirtschaftskrise Mitte der 1850er Jahre). Er kam aber aus der Krise heraus, indem er sich radikal verwandelte und das entstand, was man heute überhaupt unter "Kapitalismus" versteht: industrielle Herstellung von langlebigen Produkten des Massenkonsums (Nähmaschine, Staubsauger, Auto, Kühlschrank...). Die wesentliche Innovation war das Fließband: die Umstellung der Fabrik vom Meisterregime auf den Massenarbeiter. Die Ingenieure nannten das Fließband damals "Bauerngeschirr" - weil es mit ihm erstmals möglich war, frisch vom Land rekrutierte Arbeitskraft (Migranten oder Pendler) in die Fabrik zu stellen und die Macht der bisherigen Arbeiterklasse zu brechen. Für diese bedeutete das Fließband das Ende ihrer historischen Organisationen (Facharbeiter- und Handwerker-Gewerkschaften). In den revolutionären Umbrüchen Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden Räte und in den USA die Wobblies. Nach deren Niederschlagung setzten sich in den Kämpfen der 30er Jahre in den USA die Industriegewerkschaften durch. Dieses Organisationsmodell haben wir bis heute.

Auf der anderen Seite zerstörten die Kolonialmächte in dieser Phase die Ökonomie der damaligen Peripherie (vor allem in China und Indien) derart umfassend, dass eine Hungerkatastrophe mit Millionen Toten die Folge war. Diese größte ökologische Krise seit 1492 gilt als Geburtsstunde der "Dritten Welt". Das war die andere Seite der ungeheuren Produktivitätsentwicklung seither. (Übrigens entstand damals auch der strategische Einsatz von Auslandsschulden, um periphere Staaten in Abhängigkeitsverhältnisse zu drängen.)


Der Clou der Geschichte:

In diesem auf extreme Ungleichheit, Massenelend, Spaltung der ArbeiterInnen (Sprechverbot bei Ford!), industrielle Vernichtung, Arbeitslager, Teilung der Welt in einen globalen Norden und einen globalen Süden usw. angelegten System kam es zu zutiefst egalitären Bewegungen, und aus dieser buntscheckigen Klasse "angelernter Bauernarbeiter" entstand erstmals in der Menschheitsgeschichte ein weltweites Subjekt (Massenarbeiterkämpfe Ende der 60er Jahre). Ihre Kämpfe verstärkten sich gegenseitig mit den antikolonialen Kämpfen in der "Dritten Welt", was zur Weltkrise 1973 führte - was aber auch innere Grenzen hatte, die von den damaligen Kämpfen nicht überwunden wurden (deshalb unser Augenmerk auf die weltweite Proletarisierung z.B. in diesem und im letzten Heft der Wildcat).

Die 35jährige neoliberale Krise hat diese am Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Konstellation abgeschlossen: Ende der Industriegewerkschaften als Organisationsform der Industriearbeiter und Ende der "Dritten Welt". In der BRD z.B. vertreten die Gewerkschaften weder die real 9 Mio. Arbeitslosen, Aufstocker usw. noch die (im Herbst 2008 fast) eine Million Leiharbeiter. Sie sind trotz aller Bemühungen im letzten Konjunkturaufschwung auch nicht in die "neuen Sektoren" reingekommen und ihre Strategie, die Interessen der Stammbelegschaften zu vertreten, ist heute an die Wand gefahren. Es gibt keinen Grund, diesen Organisationen nachzutrauern; wenn man sich etwa die Rolle der DGB-Gewerkschaften bei der Einführung von Hartz IV anguckt, ist man daran erinnert, wie massiv die AFL in den 30er Jahren gegen die Einführung von Arbeitslosengeld kämpfte. Die heutigen Gewerkschaften sind genauso wenig zu retten wie "Fordismus" oder "Neoliberalismus". Viel spannender ist die Frage, was an neuen Organisations- und Kampfformen entsteht.

Es gibt eine weitere, wichtige historische Parallele: In der long depression entstanden nicht nur das Fließband, der migrantisch-bäuerliche Massenarbeiter und die Dritte Welt, sie markiert auch die Ablösung vom Dampf und den Übergang zum Erdöl als der hauptsächlichen Energiequelle. In der heutigen Krise wird das Ende des Erdölzeitalters sichtbar (dazu siehe den folgenden Artikel).

ALLES in Frage stellen!


Randnotizen

Chimerica: Wortspiel mit China, America und Chimäre. Die Chimäre ist ursprünglich ein Geschöpf der griechischen Mythologie, dort ist sie die Tochter zweier Ungeheuer und Schwester von Hydra und Sphinx. Ihr Körper ist zusammengesetzt aus den Köpfen von Ziege, Schlange und Drachen.

Den sehr interessanten Blog von Brad Setser, der für einen regierungsnahen think tank arbeitet, findet ihr unter http://blogs.cfr.org/setser/

Wobblies / Industrial Workers of the World: Zur Geschichte der Wobblies siehe Wobblies Bd. 1-3; insbesondere Austin Lewis Das militante Proletariat von 1911 in Wobblies Bd.2 - komplett online unter
http://www.wildcat-www.de/thekla/wobbly/lewis.pdf; ausführlich zu diesem Zusammenhang online:
http://www.wildcat-www.de/wildcat/33/w33alpt1.htm

Raute

ENDE DES AUTOS

Jahrzehntelang wurde die "Dienstleistungsgesellschaft" und das Ende der Industriearbeit propagiert. Heute ist die Presse voll mit Berichten über die volkswirtschaftliche Bedeutung der Autoindustrie und mit Bildern von Arbeitern. Texte und Bilder rufen: "Das soll zu Ende sein?! - Unvorstellbar!!" Aber alle wissen auch, dass wir nicht im "Tal eines Krisenzyklus" sind und nachher die Autoindustrie wieder brummt. Denn beim Auto kommen alle Krisen zusammen: Konjunkturabschwung, Strukturkrise, Produktkrise, Überkapazitäten, Rohstoffverknappung, Emissionsproblematik (Kohlenstoffdioxid, Feinstaub, Benzol), Lärmbelastung, Raumverbrauch (Straßen, Parkplätze...), drohender Kollaps der Verkehrsströme und nicht zuletzt "Überalterung" der Stammbelegschaften (u.a. die gewaltigen Rentenverpflichtungen der US-Autofirmen). Der Produktzyklus des Autos ist überschritten. Der Gebrauchswert des Autos an sich steht in Frage.


Alle hängen am Auto

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs trieb das Auto die industrielle Entwicklung an. Es war Mittel zur Durchsetzung des Kapitalismus, wie wir ihn heute kennen. Die Produktion stieg in den letzten 40 Jahren noch einmal von 16 Millionen auf 73 Millionen Fahrzeuge weltweit. Davon produzieren Westeuropa, Japan und Nordamerika zwei Drittel. In Osteuropa, Russland, China, Indien und Brasilien sind riesige Produktionskapazitäten entstanden. Trotz aller Propaganda der Effizienzsteigerung durch Toyotismus usw. ist die Entwicklung der Produktivität zurückgegangen: Während in den Großbetrieben der 60er Jahre innerhalb von zehn Jahren die Produktion verdoppelt wurde, dauerte es trotz Beschäftigtenzuwachs weitere 30 Jahre, die Produktion ein weiteres Mal zu verdoppeln.

Während dieser Zeit wurden die alten Fabriken zergliedert und Teile der Produktion ausgelagert. Das macht es schwer, die tatsächlichen Beschäftigten zu zählen. Viele "Dienstleister" erledigen heute Arbeiten, die früher von der Stammbelegschaft gemacht wurden, wie Maschinenwartung und -reinigung; auch Leiharbeiter, die direkt am Band arbeiten, zählen offiziell zum Dienstleistungssektor. Sogar den Handel müssten wir inzwischen teilweise zur Produktion zählen, da die Autofirmen bei nicht marktreifen Neuwagen und vierjähriger Werkstattgarantie die Testphase neuer Modelle übernehmen. Als "Dienstleistung" zählen aber auch Entwicklungsbüros, Softwarefirmen, Unternehmensberater und Ingenieure (in der BRD planen über 20.000 externe Ingenieure einzelne Produktionsprozesse oder ganze Modellreihen). Zählt man vorgelagerte Branchen, Kfz-Handel und - Reparatur und Dienstleistungsbereiche dazu, dann arbeiten in der BRD 5,3 Millionen, in der EU zwölf Millionen Menschen in der Autoindustrie.

Wie viele Betriebe von der Autoindustrie abhängig sind, wird gerade jetzt offensichtlich, wo der Produktionsstopp zu Werksschließungen in der Chip-, Elektronik- und Chemieindustrie führt.


"Die Großfabriken zerschlagen!"

Der große Autoboom fand mit den seit Mitte der 60er Jahre anhaltenden Kämpfen in den Autofabriken sein Ende in der "Ölkrise" 1973; erstmals stand das Auto als Produkt in Frage.

Die Antwort auf die Kämpfe der Fließbandarbeiter war in den 70er Jahren die hoch subventionierte "Humanisierung" der Arbeit mit "Job enrichment", "Job enlargement" und "Montageinseln". Diese Experimente wurden in den 80er und 90er Jahren abgelöst vom "japanischen Modell": lean production, Nullfehler und just in time machten Kostensenkung zur wichtigsten Leitlinie. Die Roboterisierung des Rohbaus verdrängte die Schweißer aus ihrer zentralen Stellung.

Als diese Strategien in der Krise Anfang der 90er Jahre auf breiter Front umgesetzt wurden, waren "Gruppenarbeit" oder "Entkopplung von Arbeit und Maschine" keine Schlagworte mehr für die "attraktive Fabrik", sondern für einen auf flexible Fertigung ausgerichteten und völlig veränderten Arbeitsprozess. In den Stammwerken waren die Planer zunächst an der Rigidität der Arbeiter gescheitert, die wussten, dass jede Umstrukturierung ein Angriff auf ihre Kontrollmöglichkeiten ist. Nun kamen aber die neuen Fabriken in der ehemaligen DDR (Opel Eisenach, VW Mosel und Daimler Ludwigsfelde), sowie Werke im Osten der EU, im Süden der USA, aber auch in Japan, wo mit einem hohen Anteil an unerfahrenen Leuten die neuen Methoden umgesetzt wurden. Nachdem zumeist in Kleingruppen getestet worden war, wie schnell das Band laufen konnte und wie schnell die davon unabhängigen Arbeitsschritte zu erledigen waren, verschwanden Mitte der 90er Jahre die "Montageinseln". Die Arbeitsschritte wurden nicht zurück ins Band integriert, sondern ausgelagert. Dies schuf die Grundlagen, um die Kernbelegschaften in den Stammwerken zu zerreißen: Zunächst fielen einzelne Arbeitsschritte, später Module aus der Produktion raus, dann folgten ganze Abteilungen. Die Auslagerung hatte unterschiedliche Gesichter. Mal wurden einzelne Arbeitsschritte nur formal ausgegliedert. Die Arbeiten wurden genauso weiter verrichtet, aber die Arbeiter gehörten zu einer anderen Firma. Manchmal wurden ganze Abteilungen durch Mauern und Zäune abgegrenzt. Oft wurde über hunderte von Kilometern verlagert, und gerade in der BRD, einem Vorreiter der Auslagerung, war dies anfangs recht unökonomisch. Denn im Kern ging es um zwei Punkte: Durch massenhafte Entlassungen in den Stammwerken die Löhne zu drücken (Neueingestellte bekommen bis zu 50 Prozent weniger. "Zulieferer" zahlen noch weniger. Durch Rückverlagerung von Zulieferwerken lässt man die Stammbelegschaft zu "Zulieferlöhnen" arbeiten). Und die großen Belegschaften von 30-50.000 auf einem Gelände in überschaubare Größen auseinanderzureißen, um sie dann in Konkurrenz zueinander zu setzen.


Organische Zusammensetzung und Puffer

Der logisch nächste Schritt war die "Modularisierung": Wenige Lieferanten liefern größtmögliche Module, bei denen die aufwendigen (Hand)arbeitsschritte erledigt sind, in die Endmontage, wo sie unaufwendig montiert werden (Antriebssysteme; ganze Frontpartien). In dieser Hinsicht hat die Autoindustrie produktive Sprünge geschafft. Aber bei der Reduzierung der Anzahl der Module treten sie auf der Stelle. 2001 träumten sie von 15 Großmodulen 2010, ein Golf VI hat noch 35.

Alle diese ausgelagerten Produktionsschritte werden allgemein als "Zulieferindustrie" bezeichnet. Dabei werden Reifenproduzenten in einen Topf mit neuartigen Firmen geworfen, die komplette Module wie Türen und Cockpits fertigen oder ganze Entwicklungsschritte übernehmen. Nicht zu vergessen die komplexe Software, die notwendig ist, um solch eine verteilte Entwicklung und Produktion zusammenzuhalten.

Eines ist all diesen "Zulieferer" gemeinsam: sie dienen als Puffer. Innerhalb der Produktionskette fangen sie Schwankungen bei den Rohstoffpreisen und den Absatzzahlen ab. Sie müssen die Produktion und Anlieferung just in time garantieren, bleiben aber auf ihren Produkten sitzen, wenn die Nachfrage fehlt. Gleichzeitig finanzieren sie die technische Entwicklung.

Viele kleine Betriebe - oft die Zulieferer der Zulieferer - arbeiten mit niedriger organischer Zusammensetzung: Sitze, Industrielager und komplette Module werden in aufwendiger Handarbeit produziert. Sie sind meist nicht groß, aber in der Fläche arbeiten tausende von Arbeitern getrennt voneinander mit teilweise urtümlichen Methoden.

Im Januar und Februar 2009 verschärft sich die Situation bei kleinen Zulieferern, deren Produkte eine zentrale Rolle für mehrere Autofirmen haben. Wenn ein Betrieb, der sämtliche Scharniere für alle deutschen Werke herstellt, dicht macht, steht die ganze Autoindustrie still.

Bei den großen Zulieferern und vor allem bei den Autobauern selber ist die organische Zusammensetzung stark gestiegen. Die Arbeiter wurden voneinander isoliert und eingespart. Diese kapitalintensiven Werke müssen riesige Stückzahlen produzieren, um Profit abzuwerfen - deshalb wird die Arbeitszeit ausgedehnt. Um im Takt einer Dreischicht-Endmontage mithalten zu können, ist in der Lackierung und im Karosseriebau ein enormer Maschineneinsatz nötig. Das Verhältnis Roboter zu Arbeiter ist in einem modernen Rohbau eins zu eins.


Krise der Zulieferer

Die weltweite Zergliederung der Autoindustrie hat in den vergangenen Krisen gegen die Arbeiter funktioniert. Die räumliche Trennung hat die kämpferischen Belegschaften zerschlagen, die Standortpolitik vieler Betriebsräte hat Solidarisierungen unterbunden. Im Ausgleich für die Zustimmung zur Aufstockung von Leih- und Zeitarbeit, Auslagerungen, schlechteren Bedingungen für Neueingestellte und flexiblen Arbeitszeiten gab es für die Stammbelegschaften Beschäftigungssicherungsverträge - was den Kapitalisten im gegenwärtigen Einbruch natürlich die Hände bindet: in der BRD bis 2011 bzw. 2013. Wenn sie trotzdem behaupten, "gut aufgestellt" zu sein, meinen sie damit vor allem zwei (politische) Puffer:

1. Die Spaltung der Belegschaft. Sämtliche Leiharbeiter in der Produktion sind in den letzten Monaten rausgeflogen, Befristungen werden nicht verlängert, kleineren Kernbelegschaften wird unbezahlt die Arbeitszeit gekürzt, Großbetriebe halten sie mit Kurzarbeit ruhig - und zermürben sie mit flexiblen Arbeitszeiten. Die einen fahren Sonderschichten, den anderen werden kurzfristig die Kurzarbeitstage zu- oder abgesagt.

2. "Including". Durch die Rückverlagerung einiger Zulieferteile in die Stammwerke werden die Kernbelegschaften weiter beschäftigt. Die Zulieferfirmen machen pleite, da die dünne Kapitaldecke keine Produktionseinbrüche erlaubt. Die ersten Kündigungen sind unterschrieben.

Aber die Wucht der aktuellen Krise ist dabei, diese Puffer zu durchschlagen. Nachdem die "atmende Masse" draußen ist, trifft es nun die Kernbelegschaften. Aktuell streichen die Auto-Konzerne weltweit Stellen. Nissan und PSA z.B. 20.000, GM 37.000... Diesmal betrifft es nicht nur die Arbeiter. PSA und GM haben bereits jeweils 10.000 Angestellte entlassen. Bei weitem nicht alle Autofirmen werden die aktuelle Krise überleben (Chrysler ist bankrott, in den USA stellt man sich auf die Pleite von GM ein. Opel, Fiat, BMW und Daimler sind zu klein zum Überleben usw.). Das Mindeste ist ein massiver Konzentrationsprozess mit zigtausenden Entlassungen.

Kooperation gibt es schon lange: Entwicklungsaufgaben wurden an Fremdfirmen ausgelagert, die Produktionsplanung und Ingenieursleistungen über Marken hinweg anbieten. Sogar in strategischen Bereichen wie dem Motorenbau arbeitet man zusammen (Pioniere waren hier GM und Fiat). Oder ein Multi baut die Fabrik, der andere betreibt sie - die Autos werden aber unter ihren jeweiligen Marken verkauft. Schon lange steht Saab, Citroen oder Volvo drauf, drin ist aber GM, Peugeot oder Ford. Die deutsche Autoindustrie sträubt sich bis heute gegen Kooperationen: VW, Daimler, BMW oder Porsche halten ein vom Staat über das Dienstwagenprivileg geschütztes "Premium-Segment", mir überhöhten Preisen. Dieses spezifische Geschäftsmodell kommt jetzt in die Krise, ähnlich wie das bei der "Weißen Ware" AEG passiert ist: wer gibt schon mehr Geld aus, wenn die Waschmaschine sowieso in China gefertigt ist?


Das Ende eines Produkts

Das Verhältnis zwischen dem Lohn eines Autoarbeiters und dem Preis eines Neuwagens ist seit 1914 (T-Modell von Ford) ungefähr gleich geblieben: ein Auto kostet einen Jahreslohn. Enorm gestiegen sind die Unterhalts- und Fahrtkosten: Versicherung, Steuern, Sprit, Strafzettel, Maut- und Parkgebühren. Diese Steuereinnahmen steckt der Staat großteils in die Ankurbelung des Autoabsatzes, entweder direkt durch Autokauf (Polizei, Militär, Feuerwehr, Krankenwagen, städtische Einrichtungen) oder durch Subventionen (Dienstwagen, Pendlerpauschale...). Weniger als die Hälfte der Autos in der BRD werden privat gekauft - und davon wiederum 60 bis 80 Prozent auf Pump. Aber die billigen Kredite haben den Absatz nur vorübergehend stabilisiert. Die Neuzulassungen gingen von 2006 auf 2007 um über neun Prozent zurück; 2008 sogar um 20 Prozent; und 2009 wird das trotz Abwrackprämie toppen. 75 Prozent der deutschen Autoproduktion werden exportiert, aber im Ausland brechen die Verkäufe noch stärker ein. Vor allem dort, wo die Unternehmen niedrige Löhne zahlen (siehe den Artikel zu Polen im Heft). Die Kostensenkungsstrategie frisst sich selber auf, wenn immer weniger Leute sich einen Neuwagen leisten können. Dieser Trend wird sich noch extrem verstärken, wenn Massenentlassungen in der Autoindustrie anfangen.


Das Ende eines Traums

Ein Auto kaufen zu können ist das eine, ein Auto kaufen zu wollen das andere. Ist es noch verlockend, mit 250 PS am Wochenende ans Meer oder in die Berge zu fahren? Die Leute brauchen ihre Kisten, um auf Arbeit zu kommen (wobei viele sehr weit pendeln) - und stehen beim spontanen Kurzurlaub meistens im Stau. Das Versprechen des Individualverkehrs, schnell, individuell und bequem ans Ziel zu gelangen, hat sich blamiert.

Ein Jahrhundert lang hat die Autoindustrie den Individualverkehr propagiert. Eisenbahnen und Straßenbahnen zwangsverschrottet. Städte mit riesigen Schneisen zerstört und ganze Regionen zergliedert, um die Leute zu zwingen, ein Auto zu benutzen. Und allzuviel Zwang musste meist gar nicht sein! Man wusste den Wert eines individuellen Mobils zu schätzen. 1914 reichte ein Ford T für die Sandpisten zur Familienranch; in den 70er Jahren fuhren vollgepackte Fords über den Autoput ins tiefste Anatolien. In den 80ern war die Disko ohne eigene Karre nicht vorstellbar. Aber was ist heute geblieben vom Gebrauchswert eines Autos und was von seinen Reizen?

Derweil propagieren die Autobauer den Wandel durch saubere alternative Antriebe. Das Elektroauto soll als neues Produkt durchgehen. Doch auch hier haben die Kostensenkungsstragien Spuren hinterlassen, es wurde kaum noch in Entwicklung investiert. Ein Auto verbraucht heute noch zwei Drittel soviel Sprit wie ein Wagen vor 100 Jahren. Alle Firmen stellen jetzt "Prototypen" vor, aber keines dieser Autos verfügt über einen produktionsreifen Antrieb, der über den technischen Stand vor 100 Jahren hinausginge (um 1900 herum waren 50 Prozent aller Autos in New York Elektroautos!). Und am Verbrennungsmotor hängen so viele Arbeitsplätze im Motorenbau und der Stahlbranche, dass es auch wirtschaftspolitisch keine Idee gibt, was den Verbrennungsmotor ablösen könnte.

Ökologisches Halbwissen kommt in Krisenzeiten groß raus. Weniger Produktion gleich weniger Verschmutzung, die Umwelt- und Energiefragen sind so gut wie gelöst. Das unterschätzt den gewaltigen Koloss weltweite Autoindustrie - und es unterschätzt die Lobby hinter dem Elektroauto. Batteriefabriken und (neue) Atomkraftwerke statt CO2 und Benzol? Wunderbare neue Ökologie!


Den Widerspruch zwischen Ökologie und Produktion können nur die ArbeiterInnen aufheben

Die Arbeit in der Autoindustrie in Deutschland ist heute so organisiert, dass die schlimmsten sichtbaren körperlichen Schäden vermieden werden und auch 50jährige noch mithalten können. Ökologische Probleme tauchen eher indirekt im Produkt und dessen Verwendung auf. Das Auto ist nicht nur das teuerste und komplexeste Konsumgut, sondern auch Produktionsmittel. Es transportiert Arbeitsmittel wie Arbeitskräfte. Technisch stößt das auf dem Auto basierende Transportsystem an seine Grenzen. Politisch drehen sich die vom Kapital produzierten Bedürfnisse gegen das Kapital selber. Beides hängt zusammen, da die Bedürfnisse - einen dicken Wagen zu fahren, ein mit Multimedia vollgestopftes Highend-Mobil mit 200 kmh über die Autobahn zu jagen - zu 90 Prozent auf dem Arbeitsweg befriedigt werden sollen, wo man aber leider ebenso wie die Motorblöcke auf dem LKW im Stau steht. Durch die just in time Produktion ist die rechte Spur der Autobahnen zum mobilen Lager geworden. Staus verursachen volkswirtschaftliche Schäden in Milliarden Höhe. Durchschnittlich darf jeder "Bundesbürger" 50 Stunden pro Jahr im Stau stehen. Verkehrsleit- und Kontrollsysteme sollen bei noch höherer Verkehrsdichte den Verkehrsfluss garantieren. Mehr Verkehrsüberwachung und technische Fahrassistenten sollen die Leute und ihr Fahrverhalten kontrollieren. Ständig werden diese unterlaufen (vor Blitzern warnen, Konvoifahren, Geschwindigkeitsübertretungen, Straßensperrungen überfahren...). An permanent ausfallenden Ampelanlagen wird der Verkehr selber geregelt. Berufspendler treffen sich auf provisorischen Groß-Parkplätzen und bilden Fahrgemeinschaften. Diese "Eigendynamiken" werden interessant, wenn man die Autobahn als verlängertes Fließband begreift. Und hier werden die anrüchigen Reize des Autofahrens zur politischen Komponente. Die Lkw-Fahrer in Spanien und Frankreich haben es 2008 vorgemacht, wie man die Produktion in ganz Europa lahmlegen kann. Autoarbeiter besetzen aus Protest eine Autobahn und stoppen damit direkt dieses "Fließband".


Krise der Irrationalität

Staus, Lärm, Stress, Vergiftung machen nur einen kleinen Teil des Widerspruchs von gesellschaftlicher Produktion und Ökologie deutlich. Das Auto mindert die Lebensqualität mehr, als es Freiheit verspricht. Dass dafür eine Produktion am Fließband bei Tag und bei Nacht nötig ist, zeigt deutlich, dass es den Wahnsinn aufzuheben gilt. Kurzarbeit und Zwangspausen können ansatzweise deutlich machen, was es heißt, ohne stinkende Stauzeiten, endlose Nachtschichten und Krankenhausbesuche nach Autounfällen von Kollegen auszukommen.

Das Auto als Massenverkehrsmittel war von Anbeginn irrational. Der Reiz großer Motoren und unökonomischer Fahrzeuge wird von rebellischen Filmen bis zur "Formel 1" zelebriert. Die damit verbundenen Gesellschaftsspiele "Autoschrauben" oder "Tunen" sind mit den elektronisch gesteuerten und mit Kat versehenen Autos von heute nicht mehr so leicht möglich. Das machen nur noch wenige. Und wenn, dann besorgen sich viele Jugendliche alte Autos, an denen sie nächtelang schrauben, anstatt in der Frühschicht fit zu sein und auf den Neuwagen zu hoffen.

Die kapitalistische Gesellschaft des letzten Jahrhunderts formte sich rings um das Auto. Rings um das Auto wird diese Gesellschaft auch zugrunde gehen. Rasend schnell kapiert gerade auch das "Autoland" BRD, dass hier niemand "super aufgestellt" ist. Während die Automultis in bewährter Manier die Krise gegen ihre ArbeiterInnen durchschlagen lassen wollen, um jetzt ganz schnell alles durchzusetzen, wovon sie seit Jahren träumen, werden einige bereits von der Krise weggespült. Auch die Kernbelegschaften der Großfabriken sind nicht mehr "sicher". Die Situation ist offen wie nie.


Randnotizen

Wir benutzen die Begriffe "Modul" bzw. "Modularisierung", weil sie gebräuchlich sind. Eine Systematik gibt es nicht. Gemeint ist, dass Einzelbausteine zu einem größeren Ganzen zusammengesetzt werden. Mit "Modul" wird eine komplexe Baugruppe bezeichnet: eine komplette Seitenwand, ein Getriebe-Motorblock oder ein Scheinwerfer und nicht nur eine Schraube. Großmodule sind z.B. aufwendig vormontierte Fahrzeugunterbauten, Cabriodachsysteme o.ä. Der Begriff "Modularisierung" transportiert die Propaganda der Unternehmen, Fahrzeuge ließen sich im "Lego"prinzip zusammenbauen. Für die Endmontage mag das tendenziell zutreffen. Fahrzeugkarossen bestehen jedoch immer noch aus über 200 Einzelteilen.

Arbeiter von Fiat Pomigliano d'Arco (Neapel) blockieren die Autobahn.

Raute

Internationale Krisenberichte

Eine Veranstaltung zur Krise in San Francisco:

Eine Frau, die sich mit Permakultur und Bienen beschäftigt, spricht: "... Wir müssen die Straße aufreißen und Gemüse pflanzen ... wir dürfen nicht so anthropozentrisch sein, wir müssen auch an das Wasser und die Blumen denken..." Aber immer wieder bricht die soziale Realität durch: Eine andere Frau hatte sich ein paar Jahre aus politischen Aktivitäten zurückgezogen und darüber nachgedacht, was wirklich wichtig ist. Aber dabei Schulden gemacht, weil sie Geld eh nicht für real hält - sie fragt, ob andere Leuten auch solche Schwierigkeiten haben und man sich da nicht zusammentun kann.

Der Konsum von Grundnahrungsmitteln ist in den USA im letzten Quartal 2008 um über 13 Prozent zurückgegangen. Die soziale Realität ist gar nicht mehr zu ignorieren, vor allem nicht in Kalifornien, der achtgrößten Volkswirtschaft. Es steht vor der Pleite und hat aufgehört, seine Rechnungen zu bezahlen, die Behörden halten Steuererstattungen an Unternehmen und Bürger 30 Tage zurück. 2000 Bauvorhaben wurden gestoppt, die Entlassung von 20.000 Staatsangestellten ist angekündigt. (Kalifornien S. 16)

In den USA haben im Januar 2009 schon 600.000 Menschen ihren Job verloren. In Spanien waren es 602.000 im letzten Quartal 2008, offiziell sind 3,2 Millionen Menschen arbeitslos (Spanien hat ca. 45 Mio. Einwohnerinnen). Die Industrieproduktion sank im Dezember um 19,6 Prozent, der Verkauf von Wohnungen ging 2008 um 28,6 Prozent zurück. (Spanien S. 36)

Der Bankrott Islands machte klar, dass die Krise an manchen Orten früher und härter einschlägt - meist dort, wo der Boom am größten war. Die Berichte aus Spanien, Polen und England zeigen: alles was schnell wuchs, geht jetzt genauso schnell den Bach runter. Was uns im letzten Zyklus als erfolgreiche Neustrukturierung des Kapitalismus präsentiert wurde, war bereits Ausdruck seiner Krise. (Polen S. 28)

In der BRD kommt sie nur in kleinen Schriften an, im eigenen Leben veränderte sich für die meisten bisher wenig. Das ändert sich seit ein paar Wochen rasant: die Kurzarbeit wird ausgedehnt, Schließungen und Entlassungen angekündigt, Löhne gekürzt. Die Berichte sollen mit dem Blick auf die fortgeschrittenere Entwicklung dabei helfen, abzuschätzen wie es weitergehen wird und politische Ideen zu entwickeln. Wir haben vor allem gefragt, wie die Krise sich gesellschaftlich auswirkt. Denn Verschlechterung der Lebensbedingungen heißt nicht, dass es dann leichter zu Kämpfen kommt - im Gegenteil, wenn die Leute sich nur noch ums eigene Überleben kümmern (müssen), wird das erstmal schwieriger. Erst muss der Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Situationen deutlich werden, müssen Illusionen zerstört werden, man sei sicher oder man könne am besten durch individuelles sich-Durchschlagen überleben. Die "'objektiven' Bedingungen (müssen) subjektiv auf eine kollektivere Art" verstanden werden. (England S. 12)

Das zieht sich als roter Faden durch alle Berichte, auf ganz unterschiedlichen Ebenen: von der Frage, wie die Nachbarn sich zu den Leuten verhalten, die ihr gepfändetes Haus besetzen bis zu der, ob in Indien absteigende Mittelschicht, verschuldete Kleinbauern und entlassene Leiharbeiterinnen zusammenkommen. (Indien S. 24)

Diesbezüglich sind diese Berichte nur ein Anfang - die Debatte wird auf unsere Website weitergeführt und im nächsten Heft. (Alle Leute, die Berichte geschrieben haben, wohnen im jeweiligen Land oder haben sich in den letzten Jahren regelmäßig dort aufgehalten.)

Wir schalten noch mal nach San Francisco:

Einer der Referenten fragt, wie man die Gefahren der Krise in Möglichkeiten umwandeln kann, die existierenden Projekte verbinden, zu Bewegungen machen. Selbstverteidigungsorganisationen gründen, den Kapitalismus überwinden? Wie kann man Kommunikationswege dafür herstellen, sich gegenseitig zu unterstützen?

Darauf ein anderer: "Wir müssen uns von Kämpfen in der Vergangenheit inspirieren lassen. In Depressionen gab es immer Arbeitslosigkeit und Widerstand dagegen. 1934 in Toledo war der Streik in einer Fabrik für Autoteile am Ende und die Arbeitslosen sollten als Streikbrecher eingesetzt werden. Es gab aber einen Arbeitslosen-Rat, sie weigerten sich zu arbeiten, gingen stattdessen zur Picket-Line, und immer mehr Leute beteiligten sich..."

Die wilden Streiks im Januar in England haben gezeigt, wie schnell sich so eine Aktion ausbreiten kann. In Griechenland haben sich im Dezember die Proteste gegen die Erschießung eines Jugendlichen durch die Polizei in eine Bewegung ausgeweitet. Ein Genosse aus Athen schreibt hoffnungsvoll:

"Es wäre den Herrschenden lieber, wenn diese unerwartete Revolte nicht stattgefunden hätte. Denn der 'Frühling' des Aufstands im Winter der Krise machte es offenbar: neben den Kompromissen existiert auch die Verweigerung als Antwort von unten weiter. In dieser Revolte haben wir positive Momente der kollektiven Wut gesehen: Studenten und Jugendliche, migrantische Arbeiterinnen und Schülerinnen, Flüchtlinge und Arbeitslose sind zusammen auf die Straße gegangen." (Bald mehr zu Griechenland auf unserer Website).

Nachdem der Artikel über Lampedusa geschrieben war, hat es dort einen Aufstand gegen die Abschiebungen gegeben. 300 Leute sind in Hungerstreik getreten und das Aufnahmezentrum wurde in Brand gesetzt. (Lampedusa S. 34) Im Artikel zu Rumänien geht es um Arbeitsmigration aus zwei verschiedenen Perspektiven (Rumänien S. 32) - dafür kommt China in zwei verschiedenen Artikeln vor (China S. 20, Proletarisierung S. 25).

In der Zwischenzeit in San Franciso:

Eine Frau erzählt, dass sie sich total für urban gardening interessiert - eine andere findet, dass es an der Zeit wäre, etwas aufmüpfiger zu werden und auf die Straße zu gehen. Sie hätte total Angst, weil sie im Dienstleistungsbereich arbeitet und daran sparen die Leute natürlich zuerst. Aber ob es was bringt, einen Starbucks zu besetzen?

Raute

England: Anti-soziale Solidarität

Am 8. Januar entließ Nissan 1200 der 5000 ArbeiterInnen seiner Autofabrik in Sunderland (Nordost-England). In einigen Berichten hieß es, 400 befristete und 800 "feste" Stellen würden gestrichen, in anderen, es handele sich "hauptsächlich" um befristete Jobs. Das Nissan-Werk, das seit Oktober Produktion und Arbeitsstunden zurückfährt, hatte im Januar 2008 eine dritte Schicht eingeführt, um der Nachfrage gerecht zu werden; sie war weithin als die effizienteste in Europa angesehen und hatte angeblich die lokale Wirtschaft (die Zulieferkette von Nissan selbst, entlang der jetzt weitere 5000 Stellen gefährdet sind, plus petrochemische Industrie, Papier und "qualitativ hochwertige" Call Center) durch ihr beispielgebendes Lean Production-Modell "wiederbelebt". Das ist der bisher bedeutendste Fall von Massenentlassungen durch einen profitablen und solventen "schlanken" Arbeitgeber in Großbritannien.

In gewisser Weise sticht Sunderland unter den Gebieten heraus, die von der Stilllegung der Industrieproduktion in den achtziger Jahren betroffen waren, weil dort Werften und Kohlebergbau zumindest zum Teil durch neue (d.h. geschrumpfte und "flexible") Produktion "ersetzt" wurden. Abgesehen von seinen re-industrialisierten Außenposten hat Sunderland wie andere Teile des Landes, die historisch durch die Arbeiterklasse geprägt sind, während des Booms im Dienstleistungs- und Finanzsektor mehr oder weniger ununterbrochen das gleiche erlebt: anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, vom Staat und der EU finanzierte Projekte zur "Stadtsanierung", die ein paar wacklige Jobs in Verkauf und Tourismus brachten, zusammen mit Immobiliengewinnen und "kreativen" Gebühren für eine winzige Minderheit und dem enormen Wachstum von Regierungsbehörden, die "sozialen Ausschluss" verwalten. Die Entlassungen bei Nissan zeigen, dass "sozialer Ausschluss" etwas ist, vor dem niemand mehr sicher sein kann, bis zu dem Punkt, an dem der Begriff jede Bedeutung - welche auch immer er hatte - verliert. "Ausschluss" bedeutet jenseits aller Bemühungen der Behörden, ihn zu pathologisieren, keine realistische individuelle Hoffnung zu haben, als Rentier, Firmeninhaber oder Berufstätiger in einer finanzialisierten Wirtschaft erfolgreich zu sein. Diese Hoffnungslosigkeit ist nicht mehr länger exklusiv: sie kann jeden treffen (das konnte sie schon immer, aber bis vor kurzem hätte das nicht "jeder" geglaubt), und tut das momentan in großem Umfang. Die weitere Entwicklung des Klassenkonflikts hängt davon ab, wie die ArbeiterInnen, die in diese Lage gebracht werden, und diejenigen, die niemals etwas anderes gekannt haben, (zusammen) reagieren.

Das Wesen der Krise in Großbritannien folgt direkt aus dem vorangegangenen sechzehnjährigen "Boom". Die Rolle steigender Preise von Finanzanlagen (d.h. wachsender Ansprüche auf Wert, der woanders oder in der Zukunft produziert wird) als "Wachstumsmotor" hing nicht nur mit dem direkt im Finanzwesen erwirtschafteten Anteil am "Bruttoinlandsprodukt" zusammen (2006 offiziell 33 Prozent): dieser hypothetische Ertrag floss als Kredit in den viel größeren Markt für private und Unternehmensdienstleistungen und finanzierte fast zufällig die "flexiblen" Niedriglöhne des britischen "Jobwunders". "Vermögensbildung" in Großbritannien beruhte nicht auf Mehrwert aus den Jobs des "Dienstleistungsbooms". Sondern Ansprüche auf Wertzuwächse aus anderen Bereichen der globalisierten Wirtschaft überfluteten die britische Wirtschaft, abgelenkt und vergrößert durch "komplexe Finanzinstrumente", und finanzierten vorübergehend ein gigantisches Arbeitsbeschaffungs-Programm (oder Arbeitshaus). Die mageren Löhne in den auf diese Art "geschaffenen" Jobs zwangen die Arbeiter in eine systematische Abhängigkeit von Hypotheken und Krediten. (viele andere hatten nur staatliche Unterstützung und/oder riskantes Einkommen aus der "kriminellen" Ökonomie).

Natürlich waren diese Erscheinungen in keiner Weise einzigartig, aber die frühreife Entwicklung des Systems in England, die ungewöhnliche Abhängigkeit des "nationalen" und privaten Einkommens von überbewerteten Aktien, steht im Zusammenhang mit der relativ starken Ausprägung der Krise hier.(1)

Weniger bekannt ist die Rolle des Staates bei der Unterstützung des "Beschäftigungswachstums" in dieser am stärksten deregulierten oder "angelsächsischsten" Wirtschaft. Laut Financial Times vom 23. November würden "die meisten Menschen" zwei Drittel der zwischen 1998 und 2006 geschaffenen Jobs, "dem öffentlichen Sektor zuordnen". Öffentliche Beschäftigung wuchs bedeutend stärker bei Frauen und in den Regionen, die am härtesten vom Arbeitsplatzabbau in der Industrie in den letzten 30 Jahren betroffen waren, allen voran der Nordosten Englands. Laut Daily Mail "hat die Regierung Behörden und halbstaatliche Organisationen wie One North East in dieser Region ins Leben gerufen, um die vom Niedergang der traditionellen Industriezweige wie dem Kohlebergbau verursachte Arbeitslosigkeit anzugehen". Das bedeutet, dass es nicht nur darum geht, mehr Jobs zu schaffen: viele dieser Jobs sind direkt mit der Verwaltung und Kontrolle der Arbeitslosen befasst oder mit erzwungener Fürsorge für die undisziplinierte Niedriglohnklasse. "Öffentlicher Sektor" heißt in diesem Fall nicht, dass die Arbeiterinnen direkt beim Staat beschäftigt sind, mit geschützten Löhnen, Arbeitsbedingungen und Renten. Der "Öffentliche Sektor" ist in den letzten zehn Jahren unter der Private Finance Initiative (PFI) drastisch neugeordnet worden, die private Subunternehmer einsetzt (oft Ketten von Subunternehmern, in denen einer den anderen für eine bestimmte Aufgabe anheuert) als "Dienstleister" in Medizin, Wohlfahrt, Transport, Bildung, Müllabfuhr, Polizei und Justiz, Einwanderungskontrolle, beim Militär und im Wohnungsbau. Die Subunternehmer leihen sich das Anfangskapital und beschäftigen Angestellte zu den typischen "flexiblen" Bedingungen der Privatwirtschaft. Der Staat verpflichtet sich, das Geld über mehrere Jahrzehnte zurückzuzahlen, und verschuldet sich damit mehr als er es sonst tun würde, hält aber diese öffentlichen Ausgaben und Schulden aus den Büchern(2) und vermeidet jede Verantwortung für die ArbeiterInnen und für Schaden an der Infrastruktur und den Nutzern dieser "Dienstleistungen". Der Mythos relativ sicherer Jobs im "öffentlichen Sektor" wird also wahrscheinlich bald verschwinden, zusammen mit vielen "öffentlichen Dienstleistungen", weil die PFI-Unternehmen damit kämpfen, ihre privaten Schulden zu refinanzieren. Beteiligte Unternehmen konnten das Anfangskapital für große Projekte im letzten Jahr nicht aufbringen, und die Zahl neuer PFI-Projekte hat sich fast halbiert. Am selben Tag veröffentlichte Deloitte einen Bericht, der die Krise als Gelegenheit für "radikale Veränderungen" des öffentlichen Sektors in Richtung einer stärkeren "Marktnähe" bezeichnet.

So gewährleistet die gesamte Beschaffenheit der deindustrialisierten "Boomwirtschaft", die die Rendite vom Arbeitseinkommen trennte, dass weder profitable Industrie noch der "staatliche Sektor" Zuflucht vor der Krise bieten. Bisher gibt es kaum Zeichen einer konfrontativen Antwort der Arbeiterklasse auf die Krise als solche, durch Streiks, Unruhen wie in Griechenland und Lettland oder nur symbolischen Protest über die "offiziellen Kanäle".(3) Die Gewerkschaften boten von sich aus Lohnkürzungen an, um Jobs bei JCB und Corus zu retten; JCB nahm das Angebot an und entließ die Arbeiterinnen trotzdem. Diese Angst und Demoralisierung hat sicher damit zu tun, dass die Privathaushalte ohne Hypotheken durchschnittlich mit 9600 Pfund verschuldet sind, mit Hypotheken mit 59.670 Pfund, das sind insgesamt etwas mehr als das Bruttoinlandsprodukt von 1456 Milliarden Pfund.

Das private Kapital (abgesehen von Banken) hat Feindseligkeiten bisher abgebogen, indem es sich hilflos stellt. In der Zwischenzeit hat der Staat sich entlang aller Linien der Klassenkonfrontation behauptet, indem er als Planer, Finanzier, "Arbeitgeber" und Manager von Arbeitslosigkeit/Ausschluss auftritt. Die Antwort der Regierung auf die bevorstehende Massenarbeitslosigkeit läuft auf eine Aufrüstung für den direkten Krieg gegen die Arbeitslosen hinaus, mit neuen Gesetzen ab dem Frühjahr, die ab 2010-11 vollständig in Kraft treten und in Pilotprogrammen in "sozial ausgegrenzten" Gegenden(4) schon vorher angewendet werden sollen.(5)

Die Überwachung der Arbeitslosen in der Privatwirtschaft und im ehrenamtlichen Sektor und der Angriff auf die Unterstützung bei Arbeitsunfähigkeit, in der hunderttausende Arbeitslose während früherer Angriffe auf das Arbeitslosengeld unterkamen(6), sind lange bestehende, aber bisher langsam fortschreitende politische Strategien. Die Entscheidung, jetzt neue Gesetze zu verabschieden, so dass das neue Regime in den nächsten zwei bis drei Jahren installiert wird, könnte andeuten, wann die staatlichen Planer der Depression entsprechende Arbeitslosenzahlen erwarten. Dieses Timing stellt sicher, dass die neue Politik mehr oder weniger gleichzeitig mit einer allgemeinen "Austerität" (d.h. Schließung staatlich finanzierter Dienstleistungen rund um die Reproduktion, Gebühren für die Übrigen, regressive Steuern) zusammenfällt, und erfordert durch das Beharren des Finanzministeriums, dass die Schulden für Rettungsaktionen und Konjunkturprogramme keine absoluten fiskalischen Auswirkungen haben sollen und der Haushalt 2015-16 wieder ausgeglichen sein soll.

All das wirft die Frage auf: welche "Strategie", wenn überhaupt eine, könnte dem Generalangriff auf Löhne und Arbeitslose zugrunde liegen in einer Rezession, in der die Zirkulation verkümmert ist und es keine Arbeit gibt, in die man jemanden zwingen könnte?

Trifft das Argument von George Caffentzis und Silvia Federici zu, dass das "westliche" Proletariat auf eine "Strukturanpassung" vorbereitet wird, in Anbetracht des Unterschieds zwischen einer bankrotten, vormals auf Industrie basierenden Wirtschaft wie Großbritannien und den von Landwirtschaft und Rohstoffexport geprägten Ökonomien, die in die Schuldknechtschaft gezwungen wurden, bevor eine volle Proletarisierung überhaupt stattfinden konnte? In dieser Hinsicht mag die Bezeichnung "Strukturanpassung" nicht zutreffen, aber einige Kapitalisten und ihre Intellektuellen fordern schon seit langem, dass die Erwartungen des "westlichen" Proletariats nach unten an die der Niedriglohnwelt angepasst werden müssten.

Wie kann eine Antwort der Klasse aussehen, wenn Massenarbeitslosigkeit, Teilzeitbeschäftigung und Druck auf die Löhne der noch Beschäftigten eine große Zahl von ArbeiterInnen in den Zustand bringen, der bis vor Kurzem "sozialer Ausschluss" genannt wurde? In der gegenwärtigen Stimmung von Angst und Rückzug kann man davon nur in der Zukunft sprechen (so nah diese Zukunft sein mag) oder in der Form sehr offener Fragen. Ein entscheidender Punkt muss die Entwicklung irgendeiner Art von Solidarität sein zwischen den neu "Ausgeschlossenen" und der sogenannten "Unterklasse", die schon in dieser Situation ist. Damit eng verbunden ist die Beziehung zwischen "Festangestellten" und LeiharbeiterInnen. Ein entstehendes Verständnis eines gemeinsamen Interesses wird mit den komplexen Formen individueller und mikrokollektiver Konkurrenz umgehen müssen, die es sowohl auf Seiten der (vormals) "respektablen Arbeiterklasse" als auch bei den (ständig) "sozial Ausgeschlossenen" gibt. Wird zum Beispiel die gemeinsame materielle Erfahrung die Feindseligkeiten um Migration (oder die halluzinierte allgemeine Vorstellung davon) und "ethnische Identität" auflösen oder verschärfen? Könnte die Bereitschaft vieler Proletarier, sowohl den Staat als auch sich gegenseitig aufgrund von Rassismus anzugreifen, merklich in Klassenfeindschaft gewendet werden, weil immer mehr Menschen sich über "ethnische" Grenzen hinweg in der gleichen Lage wiederfinden, oder muss sie von Staat, Medien und den Anführern der Communities in sektiererische Katastrophen innerhalb der Klasse umgelenkt werden?

Allgemeiner gefasst, werden die drastischen Veränderungen der materiellen Bedingungen ausreichen, um die tief verwurzelte ideologisch-kulturelle Annahme aufzulösen, dass "rauskommen" (aus dem Ghetto) oder individuell und in Konkurrenz zu anderen "aufsteigen" (ob als Geschäftseigentümerin oder qualifizierter Angestellter) die einzig vernünftige Zielsetzung für Proletarier ist? Diese Annahme wurde über Jahrzehnte durch reale Gegebenheiten gestärkt: die Überlebensgrundlage für die "arbeitenden Armen" wurde abgebaut, beispielsweise der soziale Wohnungsbau und staatliche Renten; Ausbildung und "persönliche Entwicklung" wurden unablässig als Lösung aller Probleme in den Vordergrund gerückt(7) jedes Beispiel einer Verbesserung der materiellen Bedingungen auf kollektiver Basis ist aus der kollektiven Erinnerung verschwunden.

Falls die Möglichkeiten und Schwierigkeiten irgendeiner Klassenkonfrontation in der näheren Zukunft überhaupt auf diese Weise erfasst werden können, ist es vielleicht möglich, sich noch vorsichtiger einige Faktoren vorzustellen, die zu ihrem Ausbruch beitragen könnten:

Neue Arbeitslosigkeit in großem Ausmaß, die mit der Einführung des repressivsten Regimes über die Arbeitslosigkeit seit jeher zusammenfallen wird. Die Arbeitsämter sind jetzt schon aufreibende, gewalttätige Orte; was wird das Auftauchen von Tausenden oder Millionen von Arbeiterinnen bedeuten, die solche Erniedrigungen nicht gewöhnt sind?

Opportunistische Arbeitgeber nutzen die Krise als Gelegenheit, alte Konflikte um die Arbeit und widerspenstige Belegschaften loszuwerden. Natürlich kann das genauso gut auf die schnelle Kapitulation der erpressten Arbeiterinnen rauslaufen, aber könnte sich ein Streik wie der letztes Jahr bei der Post ohne die Illusion, überhaupt etwas verlieren zu können, weiterentwickeln?

Neue Entlassungen, Kürzung von Löhnen und staatlichen Leitungen, Schließung wichtiger Dienstleistungen in Gebieten, in denen es eine starke kollektive Erinnerung an Kämpfe aus ähnlichen Gründen während oder seit der Deindustrialisierung gibt, z.B. im Nordosten (Bergarbeiterstreik 1984/85) und Liverpool (Streik der Hafenarbeiter 1995-98).

ständig wachsende Regulierung und Kontrolle der sozialen Reproduktion (Sammlung biometrischer Daten, Erlässe gegen anti-soziales Verhalten, staatliche Eingriffe in die Eltern-Kind Beziehung usw.). Das alles wird von Öffentlichkeitsarbeitern der Mittelklasse als "Bürgerrechtsthema" dargestellt, aber es hat in Wirklichkeit mehr mit dem Angriff auf halblegale oder illegale Überlebensstrategien der "sozial Ausgeschlossenen" zu tun: "Sozialleistungsbetrug", informelle Arbeit, Drogenhandel in kleinem Maßstab usw. Die Überwachung dieser Dinge wurde bisher recht erfolgreich genutzt, um die "respektable", überwiegend arbeitende Klasse und das sogenannte "Subproletariat" zu spalten. Aber wird das weiter funktionieren, wenn viel mehr Menschen plötzlich selbst von diesen "grauen Märkten" oder offiziell "antisozialen" Formen sozialer Zusammenarbeit abhängig sind?

Was man im Moment sehen kann, stimmt für die unmittelbare Zukunft eher pessimistisch, aber das muss nicht unbedingt auf die Lage in einem Jahr zutreffen. Eine Klassenauseinandersetzung, die aus Sicht des Proletariats im einen Moment wie ein Schlag ins Wasser aussieht, kann wenig später explosiv werden, weil die "objektiven" Bedingungen "subjektiv" auf eine stärker kollektive Art erfahren werden.

(Januar 2009)


P.S.:
Ende Januar brachen die kollektive Wut und ihre Widersprüche in wilden Streiks quer durch die Energieindustrie aus. In der Total-Raffinerie in Lindsey streikten Arbeiter gegen die durch eine EU-Verordnung bedingte Entscheidung, dass der sizilianische Sub-Subunternehmer IREM "seine eigenen" italienischen und portugiesischen Arbeiter für Bauarbeiten mitbringen sollte, die vor Ort nicht ausgeschrieben wurden. Diese Unterstützung der Arbeitslosen allein wäre als "politischer" Streik schon "illegal" gewesen, aber es schlossen sich auch noch Arbeiter an elf anderen Standorten mit doppelt-"illegalen" Solidaritätsstreiks an. Die Streiks machten sich Gordon Browns Slogan "Britische Jobs für britische Arbeiter" zu eigen, so dass arbeiterfeindliche Zeitungen sie "unterstützen" und eine Frage der "Nationalität" daraus machten konnten. Die Streikenden betonten, dies sei nicht der Fall, aber wie weit ihre Stimme wahrgenommen wurde, ist unklar, da der Konflikt mit der Zusage, hundert "Briten" einzustellen, beendet wurde. Deshalb wiederholen wir es hier: Was sie sagten, ist wahr. So verheerend diese Parole war, in dem Konflikt geht es ums Unterbieten von Löhnen in einer Einkommenskrise. Tarifverträge sind in Großbritannien nicht gesetzlich verbindlich, so dass europäische Arbeiter, die entsprechend der EU-Verordnung "entsandt" werden, nicht den branchenüblichen Lohn erhalten müssen. Die Streikenden in Lindsey wollten nicht den Ausschluss von Ausländern, sondern den gleichen Schutz für ortsansässige und ausländische Arbeiter und internationale (gewerkschaftliche) Solidarität. Hunderte polnischer Arbeiter schlossen sich einem Solidaritätsstreik im Atomkraftwerk Sellafield an.

Arbeitgeber sagen nun, sie wurden durch ständige Arbeitsniederlegungen "im Stil der 70er" provoziert, Ausländer anzustellen.


Randnotizen

(1) Die Vorhersagen über das Ausmaß des wirtschaftlichen Zusammenbruchs passen erstaunlich gut zum Ausmaß des vom Finanzmarkt getriebenen "Wachstums" des letzten Jahrzehnts. Z.B. prognostiziert das Chartered Institute of Personnel and Development den Abbau von ungefähr 750.000 Stellen in den kommenden 18 Monaten: "entsprechend dem gesamten Anstieg der Beschäftigung in den vergangenen drei Jahren". Oxford Economics führt die Tatsache, dass Großbritannien beim Pro-Kopf-BIP in der Liste der "führenden" Volkswirtschaften von ganz oben nach ganz unten abgestürzt ist, auf den "Zusammenbruch der Finanzmärkte" zurück. (Mehr dazu auf www.wsws.org).

(2) Diese Funktionsweise wird dargestellt von David Morrison: PFI: is Gordon Brown "financially illiterate"?
http://www.david-morrison. org.uk/pfi/pfi.htm

(3) Ausnahmen in Großbritannien waren kleine Streiks um Löhne bei den Londoner Busfahrern, im öffentlichen Dienst in Glasgow und Merseyside, in Betreuungseinrichtungen in Southampton, bei ArbeiterInnen in der Pharmaindustrie in Wembley und Angestellten in der "Weiterbildung" an verschiedenen Orten in England. Keiner davon stand in ausdrücklichem Zusammenhang zur Krise, aber in solchen Zeiten erheben Streiks für Lohnerhöhungen implizit eigene Ansprüche gegen die der abstrakten "Ökonomie" und Rendite. Berichte über alle Arten von Streiks in Großbritannien finden sich auf www.libcom.org/ und www.wsws.org

Auf libcom.org finden sich auch Informationen über die Unruhen in Griechenland, und unter
www.wsws.org/articles/2009/jan2009/latv-j16.shtml ein Artikel über die Unruhen gegen die Sparmaßnahmen in Lettland.

(4) Glasgow, West Midlands, Greater Manchester, Norfolk und Lambeth

(5) Der bekannteste Aspekt des Angriffs auf die "wirtschaftlich Inaktiven", ist eine massive Beschleunigung des Rauswurfs aus der Unterstützung für "Arbeitsunfähige" (also Kranke) und Alleinerziehende ins Arbeitslosendgeld, mit dem die Bezüge auf 60,50 Pfund die Woche reduziert und der Druck verstärkt wird, jegliche Arbeit anzunehmen, egal ob man körperlich dazu in der Lage ist und Betreuung für die Kinder bekommen kann. Weniger veröffentlicht, aber genauso explosiv ist das Regime, das für "Arbeitssuchende" vorgeschlagen wird und auf "arbeitsgleichen Aktivitäten" beruht, also von neun bis fünf in Arbeitsämtern sitzen, um sich per Computer für Jobs zu bewerben, unter Aufsicht und mit regelmäßiger Befragung durch die Angestellten der PFI-Unternehmen (die entsprechend der Zahl der Leute, die sie aus dem Bezug von Arbeitslosengeld gekickt haben, bezahlt werden). Abgesehen von der Frage, wieviele Jobs im Niedriglohnbereich man überhaupt auf diese Art findet, statt durch informelle soziale Kontakte oder indem man dort hingeht, wo es sie eben gibt, ist es auffallend, wie der Umgang mit Antragstellern offener als je zuvor mit Bestrafung gleichgesetzt wird, genau zu dem Zeitpunkt, an dem die Arbeitslosigkeit beginnt, unkontrollierbar zu wachsen. Widerspenstige Antragsteller, z.B. wenn sie zu spät zu einem Termin erscheinen, sollen schriftliche Verwarnungen bekommen, ein Begriff, der den Disziplinarmaßnahmen am Arbeitsplatz entlehnt ist; für wiederholte Vergehen sollen Bußgelder verhängt werden. "Arbeitsgleiche Aktivität" soll wie Nachsitzen in der Schule sein, d.h. die Situation einer Arbeitslosengeldbezieherin soll der eines in der Schulde bestraften Kindes entsprechen, und die Erfahrung soll eine ähnliche sein. Statt "Workfare" wird nun der Begriff "Gemeinschaftsdienst" für die Arbeitslosengeldempfängern auferlegte Zwangsarbeit verwendet, der bisher nur in Urteilen in Strafverfahren gebraucht wurde. Der Eindruck, dass die strafrechtliche Maschinerie ins Management der Arbeitslosigkeit importiert wird, wird verstärkt durch die testweise Anwendung von "Lügendetektoren" auf Antragsteller, die schon eine zeitlang in einigen Bereichen ins Rollen kommt und landesweit eingeführt werden soll, nach erfolgreichen "Versuchsverfahren" [sic!]. Die Software der Lügendetektoren wird auf Telefonanrufe von Arbeitslosengeldempfängern angewendet: sie findet angeblich Anomalien im Sprachmuster, so dass diejenigen, die falsch sprechen (so wie... Anruferinnen, die es aus irgendwelchen Gründen "anstrengend" finden, von 60 Pfund die Woche zu leben und das mit ihren Stimmen nicht verbergen können? Oder... Ausländer, die englische Wörter seltsam aussprechen?) zur weiteren Befragung vorgeladen werden können.

(6) Siehe die Artikelserie von Aufheben unter http://lobcom.org/aufheben
Vor allem die Broschüre "Dole autonomy gegen die Wiederdurchsetzung der Arbeit", auf deutsch auf:
www.wildcat-www.de/zirkular/48/z48dole.pdf und in einer Zusammenfassung in der wildcat 71,
www.wildcat-www.de/wildcat/7l/w71_dole.htm

(7) passenderweise "Crisis" genannte Wohlfahrtsverband, der den staatlichen Behörden hilft, Obdachlose in Jobtrainings zu zwingen, verwendet den Slogan "Wir sehen den Menschen, nicht die Obdachlosigkeit". Man kann sich kaum eine treffendere Beschreibung davon vorstellen, wo der Staat und seine Verbündeten im "ehrenamtlichen Sektor" das Problem vermuten.

Raute

Kalifornien: Die Auswirkungen der Krise

Mitte September 2008, nach der Pleite von Lehmann Brothers, wurden die Auswirkungen der Wirtschaftskrise so extrem, dass es anscheinend jeder merkte. Ich nahm an mehreren Nachmittagen in der Woche den Bus zur Arbeit und fuhr durch die schrumpfende afroamerikanische Community im Western Addition District. Die Angst war spürbar, und oft hörte ich Leute am Handy darüber sprechen, wie jemand entlassen worden war, wie Häuser zwangsversteigert wurden oder wie jemand einfach bis zur Privatinsolvenz verschuldet war.

Es ging oft um Zwangsversteigerungen in Vororten wie Antioch, Pittsburg, Brentwood und Stockton, das sind Parzellenbaugebiete, die vor kurzem noch boomten, mit vielen afroamerikanischen und Latino-Bewohnern, die vorher in den Innenstadtbezirken von San Francisco und in den armen Arbeitervierteln von East und West Oakland gewohnt hatten.

Viele Familien konnten während des Irrsinns des "Housing Boom" ihre Häuser in der Innenstadt, die im vorhergehenden Jahrzehnt stark im Wert gestiegen waren, verkaufen. Damit konnten sie es sich leisten, in die Vororte zu ziehen - wie die Weißen in den 50er Jahren.

Die Kredite, die ihnen seit den frühen neunzigern angeboten wurden, waren "subprime", mit zinsvariablen Hypotheken - selbst wenn sie eigentlich die Kriterien für stabilere Festzinskredite erfüllten. Bei Autokrediten passierte ab den späten 90er Jahren dasselbe.

Viele amerikanische Hausbesitzer aller "Hautfarben" benutzten ihr Haus als Bankautomat, indem sie Kredite auf ihre schnell im Wert steigende Immobilie aufnahmen. Einige taten das, um mit den seit Anfang der 70er Jahren stagnierenden Löhnen zurechtzukommen, andere gerieten in einen regelrechten Kaufrausch.

Ich arbeite in der öffentlichen Bibliothek von Berkeley mit einigen Afroamerikanern zusammen. Berkeleys afroamerikanischer Bevölkerungsanteil ist dramatisch geschrumpft, weil viele Leute in die Vorstädte gezogen sind, sie arbeiten aber immer noch in Berkeley, Oakland oder San Francisco. Eine meiner "schwarzen" Kolleginnen ist nach Antioch gezogen, einem der beliebtesten Vororte, wohin sie mindestens eine Stunde pro Strecke braucht. Vielen anderen Nicht-Weißen Kollegen geht es ähnlich. Der Staat Kalifornien hat den Etat für Bildung, Bibliotheken und öffentliche Parks zurückgefahren, so dass die Programme durchschnittlich zehn Prozent weniger Geld bekommen. Wahrscheinlich heißt das, dass entweder unsere Gehälter oder unsere Stunden um zehn Prozent gekürzt werden. Bei den Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen ist es genauso, alle einfachen Angestellten sind betroffen. Meine Kollegin aus Antioch steht sehr unter Druck, denn wenn ihr Gehalt gekürzt wird, kann sie ihre Hypothek nicht mehr zurückzahlen und verliert vielleicht ihr Haus. Ihr Haus ist eindeutig underwater, das heißt, sie hat darauf mehr Schulden, als es derzeit wert ist. Einige Banken würden ihr erlauben, "leer zu verkaufen", d.h. sie könnte das Haus für einen geringeren Betrag verkaufen, als sie der Bank schuldet, und sie würden ihr den Rest erlassen. Aber wenn sie zu tief "unter Wasser" ist, bleibt ihr nur, sich entweder in Folge der Zwangsvollstreckung räumen zu lassen, oder das Haus einfach zu verlassen, so dass die Bank es wieder in Besitz nehmen und zwangsversteigern lassen kann.

Einige der Vorstadtgegenden an den äußeren Rändern des Metropolengebiets San Francisco Bay, in denen Afroamerikaner, Latinos und Filipinos den amerikanischen Traum vom Hausbesitz verwirklicht hatten, führen die Liste der Zwangsversteigerungen in den gesamten USA an. Die drei Spitzenreiter 2007 und 2008 waren Modesto, Stockton und Merced. Vallejo, eine weitere Stadt der Bay Area, war auf dem achten, das nahe gelegene Sacramento auf dem zehnten Platz.

Im November 2008 machten einige von uns eine Rundfahrt durch ein paar der am schlimmsten betroffenen Gebiete. Zuerst besuchten wir Modesto. Auf dem Weg dahin kamen wir durch ein kleines, komplett neu bebautes Gebiet namens Mountain House, das das Pech hat, momentan die Stadt mit den meisten upside down-Hypotheken(4) in den USA zu sein. Im November 2008 waren dort laut New York Times 90 Prozent der Hausbesitzer mit durchschnittlich 122.000 Dollar "unter Wasser".

Auf dem Heimweg fuhren wir durch Patterson, direkt an der Interstate 5 weiter im Süden. Hier hat sich die Einwohnerzahl kürzlich durch Langstreckenpendler der Bay Area auf fast 20.000 verdoppelt, weil auf der I-5 nicht der übliche Verkehrskollaps stattfindet. Wir trafen einen jungen Latino, der in Modesto im Maklerbüro der Familie arbeitet und der mit seinem Vater, dem Firmeninhaber, Hauptorganisator der Aktion der mehr als 10.000 Latino-Arbeiter war, die am Ersten Mai 2006 in Modesto die Arbeit niederlegten; beide wurden monatelang von Polizeiwagen verfolgt. Er sagte uns, dass mehr als 80 Prozent der brandneuen vier- und fünf-Zimmer-Häuser in den Neubaugebieten direkt an der I-5 leerstehen, fast alle entweder in Zwangsvollstreckung oder unverkauft. Bei Sonnenuntergang fuhren wir dort durch, es war ziemlich dunkel und gruselig; es schien, als ob die Gegend von einer Neutronenbombe getroffen worden wäre - alle Gebäude intakt, aber kein Lebenszeichen.

Junge AnarchistInnen aus Modesto haben uns auf diese Tour mitgenommen. Mehrere von ihnen sind selbst Hausbesetzer, und sie kennen Dutzende von Leuten, meist Familien, die nach der Zwangsvollstreckung wieder in ihre Häuser eingezogen sind und immer noch da wohnen. Aber sie meinten, dass man sehr, sehr vorsichtig sein muss. Die Polizisten in Modesto sind brutale Schläger und nehmen die geringste Provokation zum Vorwand, um Leute zu drangsalieren und festzunehmen. Allerdings sind die Nachbarn in den betroffenen Gebieten, die noch legal in ihren Häusern wohnen, ganz froh über die Besetzer, weil sie die Grundstücke in Ordnung halten, also Rasen mähen, den Garten pflegen und saubermachen, so dass der Schein gewahrt bleibt und der Wertverfall und ein Sichtbarwerden der Krise hinausgezögert werden. Einerseits bremst es das Abrutschen der Immobilienwerte ein kleines bisschen, und andererseits hält es Drogenabhängige davon ab, alle Kupferleitungen und Rohre herauszureißen und beim Schrotthändler zu verkaufen. Einige, die noch legal in ihren Häusern wohnen, legen den Besetzern aus Solidarität Elektroleitungen hinüber. In einigen Städten in der Nähe von Modesto wurde es gesetzlich verboten, in einem Haus mit abgestellten Wasserleitungen zu wohnen. Also müssen die Besetzer oft das Wasser illegal wieder anstellen. Aber die meisten Besetzer tun alles, um nicht von der Polizei und anderen Behörden entdeckt zu werden.

Die häufigste Form des Widerstandes gegen diese Zwangsvollstreckungen, die uns bisher aufgefallen ist, waren Massenversammlungen, die in einigen der von Zwangsvollstreckungen und fallenden Immobilienpreisen am schwersten betroffenen äußeren Vororte von Kirchengruppen organisiert wurden, so beispielsweise in Contra Costa County östlich von Oakland. Obwohl meistens hunderte von wütenden Menschen auf diesen Treffen sind, kommt doch nicht mehr dabei heraus als reformistische Versuche, Einfluss auf Politiker zu nehmen und damit die Banken zu Verhandlungen über die Hypothekendarlehen zu zwingen. Städte wie Oakland haben schon eingegriffen und versuchen über Gesetze, eine Umwandlung der zinsvariablen Hypothekendarlehen (ARMs) in eher bezahlbare Festzinskredite zu erreichen und Räumungen von noch bewohnten Häusern zu erschweren.

Eine außergewöhnliche Form des Widerstands war die inspirierende Aktion der AktivistInnengruppe ACORN am 15. Dezember 2008 in Oakland: Aus Protest gegen die Räumung einer sechsköpfigen Familie zogen 25 Leute symbolisch in das Büro des Maklers ein, wobei sie es mit Stühlen, Tischen, einem Kinderbett, Familienfotos und sogar einem Weihnachtsbaum einrichteten.

Wie bei der Fabrikbesetzung der Republic Windows and Doors in Chicago, die letztes Jahr im Dezember dichtgemacht wurde, fangen die Leute an, sich auf die historische Lektion der Kämpfe gegen Zwangsräumungen und der Arbeitslosenproteste in den 30er Jahren zu beziehen.

Die Arbeitslosen nutzten eine Reihe spontaner Überlebensstrategien, etwa formelle und informelle Kooperativen, familiäre und nachbarschaftliche Netzwerke der Unterstützung, Plünderung von Supermärkten, Kohlenschmuggel, entschlossene Suche nach Arbeit und einfallsreiches Strecken der Einkommen. Gleichzeitig regten radikale Organisatoren(5) formellere und politischere Arbeitslosenproteste an, wie sit-ins bei Fürsorgestationen, landes- und bundesstaatweite Hungermärsche, Demonstrationen vor dem Rathaus und direkten Widerstand gegen Räumungen... Sie haben es nicht nur geschafft, Räumungen zu verhindern und die Fürsorgegelder zu erhöhen, sondern sie haben auch das Klassenbewusstsein vieler ihrer Mitglieder gestärkt.(6)


Randnotizen

(4) Wie "underwater": Hypotheken, bei denen die Leute mehr Schulden haben, als ihre Häuser wert sind.

(5) Diese gehörten zur Kommunistischen und Sozialistischen Partei und trotzkistischen Gruppen

(6) s. Roy Rosenzweig: "Organizing the Unemployed: The Early Years of the Great Depression, 1929-1933". In Radical America 10/4, 1976.

Raute

Proletarisierung, Weltarbeiterklasse, China und wir

Bildet sich in den gegenwärtigen Umwälzungen eine Weltarbeiterklasse heraus? Dieser Frage sind wir im Artikel Was kommt nach der Bauerninternationalen im letzten Heft nachgegangen. Die "Internationale" des 20. Jahrhunderts als Bündnis von Arbeiter- und Bauernbewegung hat immer auf den Staat gesetzt. Ihre Politik war eingeklemmt zwischen Entwicklung/Unterentwicklung und nationalen Befreiungsbewegungen. Heute entsteht die Internationale in der weltweiten Proletarisierung.


Industrialisierung und Bauern

Die weltweite Verlagerung der Produktion war eine der kapitalistischen Gegenstrategien seit den 1970er Jahren. Dabei entstand keine "homogen industrialisierte Welt" - das könnte im Kapitalismus auch gar nicht funktionieren! -, aber beim Anzapfen immer neuer Arbeitskräftereservoirs ist spätestens heute eine Scheidelinie überschritten, wo Unternehmer aus China weiterziehen, weil dort die Löhne "zu hoch" sind, und gleichzeitig aus denselben Gründen (nach Westeuropa) rückverlagert wird. Es gibt zwar weltweit Millionen von KleinbäuerInnen, aber ein immer kleinerer Teil der Landbevölkerung kann noch von Subsistenzproduktion leben, d.h. von einer Produktion für den Eigenbedarf, bei der Überschüsse getauscht werden. Immer mehr Landarbeit ist zu mittelbarer oder unmittelbarer Lohnarbeit geworden. Die Gleichsetzung von Nahrungsmittelproduktion und Bauern stimmt immer weniger. Auch die Lebensperspektiven der Menschen auf dem Land hat sich verändert, sie liegt für die Mehrheit in der Stadt - die "Slumcities" sind auch Ausdruck davon, dass die Menschen Teil der globalen Klasse sein wollen. Wenn in der aktuellen Krise WanderarbeiterInnen keine Arbeit mehr finden und zurück aufs Land müssen, liegt darin ein erheblicher sozialer Sprengsatz. Denn sie sind keine Bauern mehr. Aus all dem haben wir geschlossen: Vorstellungen von Bauernkriegen oder Arbeiter/Bauern-Bündnissen haben keine materiellen Grundlagen mehr.


Proletarisierung bedeutet nicht Homogenisierung

Proletarisierung verläuft zwischen relativ abgesicherter Lohnarbeit einerseits und Formen von Sklaven-ähnlicher oder "unfreier" Arbeit andererseits, die sich in den letzten Jahrzehnten in vielen Ländern neu entwickelt hat. Seit Jahren beschäftigt sich die linke sozialwissenschaftliche Debatte damit, die Teile dieses Fächers immer weiter aufzufalten, voller Sorge, eine Ausbeutungsform gegenüber der anderen zu privilegieren oder vorschnell "zu vereinheitlichen", wie sie das vielleicht selbst im früheren antiimperialistischen Überschwang getan hat. Auf diese Art lassen sich zwischen den beiden Polen fast beliebig viele Schubladen einfügen. Aber diese ethnografische Sichtweise ist der augenblicklichen Beschleunigung der Proletarierungsprozesse und den unterschiedlichen Ausbeutungsformen, die dieselben Subjekte nacheinander durchleben, nicht mehr angemessen! Und das ewige Herumhacken auf dem "männlichen weißen Fabrikarbeiter" aus dem Museum der Arbeiterbewegung ist von der Entwicklung längst überholt. Diese Schubladen - "Bauern", "Landarbeiter", "Landlose" usw. - wurden z.B. gerade wieder auf dem Weltsozialforum in Brasilien von den Präsidenten von Venezuela, Bolivien, Paraguay und Ecuador als "Säulen (ihres) Sozialismus des 21. Jahrhunderts" genannt. Die Antiglob-Bewegung muss sich entscheiden, ob sie einen Blick auf die Welt von unten einnehmen will - oder von oben, aus staatlicher Sicht. Der Pragmatismus, der nach Genua 2001 (die Strafverfahren ziehen sich bis heute!), der verschärften Repression nach dem 11. September 2001 und durch die "Kriege gegen den Terror" Raum ergriffen hat, ist vor allem den inhaltlichen Grenzen des Gipfelstürmens und realpolitischen Verengungen geschuldet - weniger einem Rückgang der Mobilisierungsfähigkeit. Die Bewegung ist locker in der Lage, Großereignisse wie in Heiligendamm 2008 oder gegen den Natogipfel in Straßburg/Baden-Baden Anfang April 2009 zu organisieren. Aber die wirklichen Fragen werden kaum noch diskutiert: wie steht es mit der lokalen Verankerung, wie kann die Bewegung "im Alltag" weiterwirken, was hat sie mit unseren Hoffnungen auf Revolution zu tun? "Bündnispolitik" ist das Gegenteil von dem Versuch, sich auf die skizzierten Proletarisierungsprozesse, die veränderten Lebensperspektiven in den Kämpfen z.B. der MigrantInnen zu beziehen. Sie steht mit beiden Beinen in den Fußstapfen Lenins, der aus einer Analyse der damaligen Klassenzusammensetzung (ein Agrarland mit kleiner, aber wachsender Industriearbeiterklasse) seine Vorstellung eines Bündnisses von Arbeitern und Bauern entwickelt hatte. Das erklärt nebenbei, warum sich linke Debatten immer wieder im Für und Wider des "neuen" linken Parteiprojekts verheddern, da leider oft Bündnispolitik ohne Untersuchung der Klassenzusammensetzung gemacht wird.

In der Doppelentwicklung von Proletarisierung und Krise sehen wir die Möglichkeit einer politischen Neuzusammensetzung von Arbeiterkämpfen und Bewegung. Die aktuelle Krise wirkt wie eine Lupe: weltweit könnten wir z.B. die Zahlen der entlassenen Leiharbeiter entlang der globalen Produktionsketten - manchmal eher regionale Flecken - zusammenzählen. Die Gleichzeitigkeit und Tiefe, mit der beide die Krise zu spüren bekommen, zeigt, dass die ArbeiterInnen in einem Sweatshop in Indien und die ArbeiterInnen in einer Autofabrik hier im selben weltweiten Zusammenhang produzieren. Die verschiedenen Ausbeutungsformen existieren nicht "nebeneinander", sondern bedingen sich gegenseitig. Die relative Mehrwertproduktion (höchstmögliche Nutzung der teuren Maschinerie durch Schichtarbeit) ist auf die Ausweitung von absoluter Mehrwertproduktion (schlechte maschinelle Ausstattung bei langer Arbeitszeit) angewiesen.


Proletarisierung und Krise - Verbindungen ohne Automatismus

Die Weltarbeiterklasse gibt es schon - als unter das Kapitalverhältnis subsumierte Arbeitskraft, aber auch als Lebensperspektive der ProletarierInnen. Die in einer Zulieferklitsche in den Slums von Delhi in internationalen Produktionsketten malochenden Arbeiter können in dieser Stellung wahrscheinlich keine "Produktionsmacht" (B. Silver) entwickeln, aber ihre Ansprüche entwickeln sie trotzdem am Lebensstandard "der Städter". Ein Zusammenhang, der sich in aller Deutlichkeit in der aktuellen globalen Krise zeigt. Welche Organisierungsformen, welche Kämpfe können sich daraus entwickeln? (siehe Indienbeilage der letzten Wildcat)

Schon einmal sah es nach der Entwicklung einer weltweit kämpfenden Arbeiterklasse aus: ab 1905 gab es in den USA, in Russland, in ganz Europa, in Schanghai, Südafrika und Australien Arbeiterräte und Wobblies. Diese Entwicklung wurde durch Krieg, Krise, National(sozial)ismus, New Deal und wieder Krieg unterbrochen. In dieser Phase entstanden auch die heutigen Organisationen der Arbeiterbewegung, die mit dem Fabriksystem verwobenen (Industrie-)Gewerkschaften. Sie sind mit dem Beginn der "langen neoliberalen Krise" des Kapitals seit Anfang der 1970er Jahre spiegelbildlich ebenfalls in die Krise gerutscht. Heute braucht es neue Ideen zu Organisierung unserer Kämpfe. Einer Antwort kommen wir nur näher, wenn wir in den aktuellen Krisenprozessen und Kämpfen nach diesen Zusammenhängen suchen.

GenossInnen aus der Schweiz haben mit einer Broschüre den Versuch gemacht, die globale Entwicklung der Ausbeutung und die weltweiten Klassenkämpfe zu untersuchen: Den Multis die Stirn bieten, ein Rebellion-Dossier. Ihr Startpunkt ist die Krise der radikalen Linken in der Schweiz. Ausgehend von den Erfahrungen in der Antiglobalisierungsbewegung schlagen sie ein Einmischen in die "globalen Sozialrevolten" vor. Dazu spüren sie dem "objektiven" globalen Zusammenhang nach und fragen von da aus nach dem Zusammenhang in den Kämpfen. In den Fokus stellen sie dabei die BRIC-Länder (Brasilien, Russland, Indien und China) und die "Next-Eleven" (Ägypten, Vietnam usw., von denen sich eine ähnliche Entwicklung erhofft wird) und überprüfen mit offiziellen Statistiken zu Streiks und Hungerrevolten ob es einen "Zusammenhang zwischen kapitalistischer Expansion und Revolte" gibt. Bei der Einordnung der Kämpfe bleibt das eine oder andere Fragezeichen, aber wir hoffen, dass die Broschüre zum Ausgangspunkt weiterer Diskussionen wird.

Am deutlichsten zeigt sich dieser Zusammenhang momentan in China: die dortige (industrielle) Entwicklung schien dem krisengeschüttelten Kapitalismus neues Blut einzuflößen. Aber ebenso entwickelten sich die Ansprüche der ArbeiterInnen und die Fähigkeit, sich bessere Bedingungen zu erkämpfen. Der weltweite Kriseneinbruch trifft die WanderarbeiterInnen in der Exportindustrie als erstes. Mit einem Schlag werden sie auf ihre Ausgangssituation als ProletarierInnen vom Land zurückgeworfen - und sie haben bereits angefangen, sich dagegen zu wehren. Nicht zum erstenmal in der chinesischen Geschichte droht die Entwicklung auf dem Land eine politisch explosive zu werden, aber die Auswirkungen könnten über das Land, und wohl auch über die Grenzen Chinas hinaus wirksam werden. Die Spaltung in Land/Stadt funktioniert nicht mehr, das Regime sucht nach Möglichkeiten der Abfederungen - unter angespannter Beobachtung durch das transnationale Kapital. Und großen Hoffnungen von unserer Seite!


Randnotizen

Gleichzeitig ist der Anteil an den ländlichen Einkommen aus "Nicht-Farmarbeit" (also irgendeine Art von Dienstleistung, Tourismus, Handel...) z.B. in Lateinamerika von ca. 17 Prozent in den 1970er Jahren auf heute um die 50 Prozent angestiegen. Nur noch eine Minderheit der KleinbäuerInnen verkauft mehr Lebensmittel als zugekauft werden müssen (z.B. Bolivien 5,6 Prozent, Äthiopien acht Prozent, Bangladesh 8,4 Prozent) - und kann durch "gerechte Weltmarktpreise" gar nicht erreicht werden. (Tomas Fritz, Dem Weltmarkt misstrauen. Die Nahrungskrise nach dem Crash).


Die Argumente und das Material sind in dem Artikel in der Wildcat 82 ausführlicher entwickelt.


"Die Linke" muss auch die "eigene Proletarisierung" und die "eigene Krise" zum Thema machen, um überhaupt politisch aktiv bleiben zu können, um wirksam sein zu können, um mehr zu werden! Die Linke hat sich immer schwer damit getan, die eigene Existenz als Lohnarbeiter (oder Studierende) zu thematisieren. Vor "lauter Proletarisierung" kommen viele kaum noch zu regelmäßiger politischer Aktivität. Solche Fragen bewegen sich immer an den Schnittstellen zwischen kollektiven Ansprüchen und individueller Perspektive. Deswegen sind Diskussionen um Proletarisierung und Krise auch kein abstraktes Theoretisieren.

Den Multis die Stirn bieten kann unter http://globalrevoltpress.wordpress.com als PDF runtergeladen oder als Hardcopy bestellt werden.

Raute

China in der Krise: Grund zur Panik?

Formiert sich in den gegenwärtigen immensen sozialen Umwälzungen eine Weltarbeiterklasse, die der kapitalistischen Produktionsweise den Todesstoß versetzen kann? Bei der Beantwortung dieser Frage spielen die Klassenkämpfe in China eine bedeutende Rolle. China, mit über 1,3 Milliarden Menschen das größte Land der Welt, ist in den letzten Jahren zur drittgrößten Ökonomie aufgestiegen. Durch die Öffnung und Industrialisierung in den achtziger und neunziger Jahren entwickelte es sich zum Fließband der Welt, eingebunden in globale Zirkulations- und Produktionsketten, und tritt heute weltweit als Investor und Kreditgeber auf. Die Industrialisierung hat Millionen WanderarbeiterInnen vom Land in die Städte und Sonderwirtschaftszonen gezogen, wo sie in den Fabriken, auf dem Bau, als Hausangestellte u.a. arbeiten. In der Krise werden nun die sozialen Beziehungen in China erneut umgewälzt.


Krise und Kämpfe

Von Mitte der neunziger Jahre bis Anfang diesen Jahrzehnts bestimmten noch die Kämpfe der alten städtischen Arbeiterklasse die Klassenkonflikte in China. Während der immensen Industrialisierung im Sonnengürtel Chinas wurden in den Rostgürteln der alten Staatsindustrien riesige Mengen Kapital vernichtet. Die Belegschaften kämpften gegen die Zerschlagung der sozialistischen Industriekombinate und für den Erhalt ihres Lohn- und Sozialleistungsniveaus. Letztlich konnten sie den Prozess aber nur verzögern: Durch Massenentlassungen und Umstrukturierungen fanden sich insgesamt etwa fünfzig Millionen von ihnen auf der Straße wieder. Ein Teil von ihnen gehört heute zum prekären städtischen Armutsproletariat.(1)

Der Boom und die Proletarisierung großer Teile der jungen LandbewohnerInnen ab Anfang der neunziger Jahre führte zur Herausbildung einer neuen Arbeiterklasse der jungen WanderarbeiterInnen. Ihre Zahl nahm seit Anfang der 90er Jahre stetig zu und liegt heute bei geschätzten 150 bis 200 Millionen. Etwa zehn Jahre nach Beginn des Industrialisierungsschubs in den Sonderwirtschafts- und Exportzonen nahmen ab 2003 die Kämpfe der WanderarbeiterInnen zu. Gegen die horrenden Ausbeutungsbedingungen, für Verbesserungen und Lohnerhöhungen und für die Teilhabe an den Früchten des Booms organisierten sie Petitionen, Kundgebungen, Streiks, Bummelstreiks, Demonstrationen und Riots.


Überlappende Prozesse

Die Konsequenzen der globalen Krise (Einbruch bei den Exporten und der Industrieproduktion) werden verschärft durch das Platzen der chinesischen Immobilienblase im Herbst; sie überlagern sich mit Entwicklungen, die schon früher anfingen. Die stetigen Lohnzuwächse in der Industrie, aber auch die hohe Nachfrage nach Energie, Rohstoffen und Lebensmitteln und die (langsame) Aufwertung des Yuan gegenüber dem Dollar zogen ab 2006 erhebliche Preiserhöhungen nach sich. Die Unzufriedenheit mit den Löhnen führte von 2005 bis Mitte 2008 zu einer weiteren Zunahme der Kämpfe. Die Regierung sah sich gezwungen, die Mindestlöhne regelmäßig zu erhöhen. Als Reaktion darauf wurden seit 2007 vermehrt Betriebe geschlossen oder verlagert, zum Beispiel Teile der Textil- und anderer Konsumgüterindustrien ins chinesische Hinterland oder nach Vietnam (wo es seit dem auch vermehrt zu Arbeiterkämpfen kommt).

Die chinesische Zentralregierung versucht seit Jahren, die sozialen Konflikte zu entschärfen durch direktes staatliches Eingreifen bei Streiks, durch Beschwerde- und Schlichtungsverfahren, durch flexibles Anwenden der Arbeitsgesetze und die Öffnung der Staatsgewerkschaften für WanderarbeiterInnen. Mit mäßigem Erfolg - zu prekär ist die Lage der ArbeiterInnen, zu groß sind die Erwartungen, und viele ArbeiterInnen lassen sich nicht weiter billig abspeisen.

Die Haltung der Kapitalisten, die die Arbeitsgesetze systematisch unterlaufen, gefährdete in zunehmendem Maße die Legitimation des KP-Regimes. Das neue Arbeitsvertragsgesetz vom Januar 2008 ergänzte das Arbeitsgesetz von 1995 mit Sanktionsmechanismen. Beim Inkrafttreten warfen in- und ausländische Unternehmen ArbeiterInnen hinaus, andere kündigten die Schließung und Verlagerung ihrer Unternehmen an. ArbeiterInnen verlangten Arbeitsverträge und Lohnerhöhungen. AktivistInnen aus dem Perlfluss-Delta berichteten von einer Zunahme der Konflikte Anfang 2008 im Zusammenhang mit dem neuen Gesetz.


Die aktuelle Krise

Nicht nur Chinas herrschende Klasse träumte zunächst von der Abkopplung Chinas von der krisenhaften Entwicklung, auch im Westen machten sich manche Hoffnungen auf China (und Brasilien, Russland, Indien). Die hohe Exportquote der chinesischen Industrie - vor allem in die EU und die USA, nach Japan und in die Tigerstaaten - machte Chinas Wirtschaft extrem krisenanfällig.(2) Im Herbst 2008 platzte der Traum: Einbruch des Wirtschaftswachstums allgemein und insbesondere der Industrieproduktion, Rückgang der Exporte, Rückgang der Investitionen, Rückgang des Energieverbrauchs, Rückgang der Staatseinnahmen usw. Das alles nach 15 Jahren Boom mit Wachstumsraten von durchschnittlich zehn Prozent.

Die Haltung innerhalb der KPCh zur Krise ist nicht einheitlich. Es gibt einen Konflikt zwischen denen, die die Krise nutzen wollen, um die Wirtschaft zu modernisieren und dabei auch soziale Verwerfungen riskieren würden (Regierungen der reichen Ostprovinzen wie Guangdong und Shanghai), und denen, die das Modell China (Exportfabriken für billige Konsumgüter) erhalten wollen, auch um die soziale Lage ruhig zu halten (Zentralregierung).

Die Unternehmer versuchen, die Krise zu benutzen. Sie drücken die Löhne, ziehen Schließungen und Verlagerungen durch, greifen staatliche Unterstützungszahlungen ab und setzen eine Duldung ungesetzlicher Arbeitsbedingungen durch.(3) Die Regierung hat für 2009 eine erneute Anhebung des Mindestlohns durch die Regionalregierungen verboten, um weitere Lohnerhöhungen zu verhindern.

Schon im November 2008 berichteten AktivistInnen und WanderarbeiterInnen im Perlfluss-Delta von Unterbeschäftigung und Entlassungen vor allem in der Textil- und Spielzeugbranche.(4) Befristet Beschäftigte wurden entlassen, Kernbelegschaften erstmal gehalten, allerdings oft ohne Überstunden und mit unregelmäßigen Arbeitszeiten. Einige wurden auch aufgefordert, bis auf weiteres unbezahlten Urlaub zu nehmen. Die Konfliktpunkte hatten sich im Vergleich zu den Auseinandersetzungen vorher geändert: Gekämpft wurde nicht mehr für Lohnerhöhungen, bessere Bedingungen in den Wohnheimen, Einhaltung des Arbeitsgesetzes, besseres Kantinenessen usw., sondern in stärkerem Maße als vorher um die Zahlung ausstehender Löhne und gesetzlich vorgeschriebener Abfindungen bei Betriebsstilllegungen oder Entlassungen.(5)

Mitte Januar meldete das Arbeitsministerium, dass über zehn Millionen WanderarbeiterInnen ihren Job verloren hätten, Anfang Februar hieß es dann, es seien 20 Millionen.


Neue Kämpfe

Während sich im Spätsommer 2008 die Krise offen zu entfalten begann, brachen weitere Kämpfe aus: FabrikarbeiterInnen, TaxifahrerInnen, LehrerInnen. TaxifahrerInnen und LehrerInnen sind interessant, weil die Kämpfe in einer Provinz begannen und ganz offensichtlich weitere Auseinandersetzungen in anderen Teilen des Landes auslösten (copycat-Effekt). In den industriellen Exportzonen im Perlfluss- und im Yangtse-Delta kam es Ende 2008 aufgrund von Entlassungen, Lohnrückständen oder strittigen Abfindungszahlungen zu Kundgebungen und Riots. Auch in der Baubranche gab es Demonstrationen wegen ausstehender Löhne. Die meisten Beobachter berichten von einer Zunahme an Konflikten seit Herbst 2008. Genaue Zahlen dazu gibt es aber nicht.

Angesichts eines drohenden Wirtschaftskollapses und möglicher sozialer Explosionen musste das Regime erneut reagieren. Nach innen tut es weiter so, als hätte es alles im Griff. Es bezeichnet die Krise als vorübergehend, sie soll nur ein halbes Jahr dauern. Die Arbeitslosigkeit und andere Folgen der Krise gefährdeten die "soziale Stabilität", die Regierung würde aber geeignete Maßnahmen ergreifen - ökonomische wie polizeiliche. Berichte über konkrete Arbeiterkämpfe werden weiterhin zensiert und unterdrückt.(6)

In ihrer Außenpolitik kann die Regierung mit "drohenden Unruhen arbeitsloser WanderarbeiterInnen" Druck machen. Denn soziale Tumulte in China sind für die Herrschenden überall ein Alptraum. Diese Bedrohung halten sie der US-Regierung und anderen vor, wenn diese eine Aufwertung des Yuan fordern.

Um eine Ausbreitung von Kämpfen zu verhindern, griff der Staat in den letzten Wochen sofort in Auseinandersetzungen um ausstehende Löhne und Abfindungen ein und übernahm die Geldauszahlungen. Viele Städte und Industriezonen haben Sonderfonds eingerichtet, mit denen schlingernde Firmen vor dem Zusammenbruch gerettet, Entlassungen verhindert und Lohnrückstände beglichen werden sollen. Der Staat pumpt zudem mit einem Konjunkturprogramm 4 Billionen Yuan (etwa 450 Milliarden Euro; 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts Chinas) in Infrastrukturprojekte und den Wohnungsbau, um den Zusammenbruch der Bauindustrie zu verhindern, die Zunahme der Arbeitslosigkeit zu begrenzen und einen weiteren Rückgang des Wirtschaftswachstums zu stoppen. Bei einem Wachstum unter acht Prozent können angesichts des Bevölkerungswachstums und der weiter vom Land in die Städte drängenden Menschen nicht genug Arbeitsplätze geschaffen werden, um alle zu beschäftigen. Wachstum unter sechs Prozent gilt als kritisch. Ende Januar 2009 kündigte die Regierung dann an, bis 2011 eine umfassende Krankenversorgung zu gewährleisten und dafür 850 Milliarden Yuan (ca. 100 Milliarden Euro) aufzubringen, um weiteren sozialen Sprengstoff zu vermeiden. Ursprünglich sollte das bis zum Jahr 2020 geschehen.


Aussichten

Das Regime spielt auf Zeit, um den möglichen Crash hinauszuzögern oder gar eine "weiche Landung" hinzukriegen. Damit will es auch verhindern, dass sich die Situation der WanderarbeiterInnen in der Stadt dramatisch zuspitzt. Ein großer Teil der Fabrik- und BauarbeiterInnen lebt in Wohnheimen, die den Unternehmen gehören, und wird über die Firmenkantinen ernährt. Falls es zu Massenentlassungen kommt, verlieren diese ArbeiterInnen nicht nur den Job, sondern auch Unterkunft und Verpflegung. Mitte Februar ist das Neujahrsfest und viele WanderarbeiterInnen sind wie jedes Jahr nach Hause gefahren. Offen ist, was danach passiert. Erst wenn sie bei ihrer Rückkehr in die Stadt keine Arbeit finden, wird ihnen klar werden, dass die Krise ihr Leben drastisch ändern wird.

Es gibt zwei Szenarien:

a) Die zweite Generation der WanderarbeiterInnen will nicht mehr auf dem Land leben. Sie könnten also in der Stadt bleiben und müssten sich, sofern arbeitslos, Alternativen für die Beschaffung von Einkommen, Unterkünften und Lebensmitteln suchen, sich diese aneignen oder erkämpfen. In vielen Großstädten stellen sie 30-80 Prozent der Bevölkerung. Dazu kommen die Millionen von städtischen Armen, die sich mit Kleinhandel und Minijobs über Wasser halten. Wird es gemeinsame Kämpfe geben?

b) Die WanderarbeiterInnen könnten zu ihren Familien aufs Land gehen, wo sie noch das Recht auf eine Parzelle haben. Möglicherweise könnten sie auch eine Zeit lang von Erspartem leben, aber das Ausbleiben der städtischen Löhne wird die Familien mittelfristig in die Krise treiben. Es gibt keine Jobs, keine Perspektive, Armut und Langeweile. Auf dem Land kam es in den letzten Jahren schon zu vielen Aufständen gegen die korrupten Kader, Landvertreibungen und Landverseuchungen. Falls die WanderarbeiterInnen massenweise zurück aufs Land gehen, entsteht eine explosive soziale Mischung.(7)

Viele Experten rechnen mit einer Rezession in China und einem Wirtschaftswachstum von fünf bis sieben Prozent, also unterhalb der "kritischen" Grenze. Möglicherweise wird es zu einer Fabrikschließungswelle kommen. Ein Drittel aller Exportfabriken sollen in den nächsten drei Jahren dichtmachen. Ein Beobachter schätzt, dass dieses Jahr die Zahl der arbeitslosen WanderarbeiterInnen 50 Millionen erreichen könnte. Dazu kämen einige Millionen arbeitsloser Akademiker, die dieses Jahr ihr Studium beenden und keinen Job finden werden. In dem Zusammenhang verweist er auf eine eine ähnliche Situation vor der Tian'anmen-Bewegung 1989, in der StudentInnen eine zentrale Rolle spielten (und die sich in diesem Jahr zum zwanzigsten Male jährt).(8)

Fest steht, dass die WanderarbeiterInnen zunächst von der Krise überrascht worden sind und bisher kaum längere Phasen von Rezession und Arbeitslosigkeit erlebt haben. Andererseits haben sie in den letzten Jahren Erfahrungen gesammelt mit Formen alltäglichen Widerstands, Streiks und Selbstorganisation. Es haben sich AktivistInnen herausgebildet, die diese Erfahrungen weitergeben und in neue Kämpfe einbringen. Sie kennen die Komplizenschaft von Kapitalisten und Kadern, die Konfrontation mit Wachschützern und Bereitschaftspolizei. Die WanderarbeiterInnen stellen selbstbewusst Ansprüche. All dies bringen sie ein in die Prozesse von gesellschaftlicher Neuzusammensetzung, die durch die Krise ausgelöst werden.

Entscheidend wird auch sein, wie sich Chinas "Mittelschicht" verhält. Sie, die Stütze der KP-Herrschaft, ist bereits von der Krise betroffen, hat sie doch in den Crashs von Aktien- und Immobilienmarkt viel Geld verloren. Es gab schon Aktionen von unglücklichen Aktienbesitzern und Ladeninhabern. Können aber proletarische, bäuerliche und "Mittelschichts"-Kämpfe zusammenkommen (Argentinien-Szenario)? Wenn die "soziale Instabilität" durch arbeitslose WanderarbeiterInnen als Bedrohungsszenario an die Wand gemalt wird, schürt das auch die Ängste der Intellektuellen und der "Mittelschicht" vor dem "Mob".(9) Will man so einer möglichen Allianz vorbeugen?


Auswirkungen

Eine soziale Zuspitzung in den chinesischen Exportzonen hätte weltweit Auswirkungen, auch in den alten Industrieländern. Chinas billige Konsumgüter waren eine Voraussetzung dafür, dass die Prekarisierung großer Teile der ArbeiterInnen auch in den USA und Europa nicht zu einem deutlichen Rückgang des Lebensniveaus geführt hat. Die Krise, der Zusammenbruch der internationalen Handelswege und die Kämpfe der ArbeiterInnen in China können zu einem Einbruch des Lebensniveaus und einer Zuspitzung der sozialen Lage in den alten Industrieländern führen.

Zentrale Branchen der alten Industrieländer, wie die Automobil-, die Chemie- und die Maschinenbauindustrie, haben zudem stark in China investiert und hängen über die weltweiten Produktionsketten eng mit der Wirtschaft Chinas zusammen. Sollte es dort zu Kämpfen kommen, werden die Auswirkungen in den hiesigen Industriesektoren spürbar sein: weitere Angriffe auf die Bedingungen und Löhne, Massenentlassungen.

Sollte das Produktions- und Konsumtionsgefüge zwischen China und den USA ("Bretton Woods II")(10) - zugleich Rückgrat und Achillesferse des globalisierten Wirtschafts- und Währungsgefüges - aufgrund von Kreditkrise und Konsumrückgang in den USA oder aufgrund von Arbeiterkämpfen in China zugrunde gehen, drohen weltweite Verwerfungen, die weit über das hinausgehen, was wir bisher gesehen haben: Zusammenbruch des Dollars und des Weltwährungssystems, Bankrott der Hegemonialmacht USA, Zusammenbruch des Welthandels, zunehmende kriegerische Auseinandersetzungen.


Was tun?

Wir sollten die Prozesse dort verfolgen, um sie zu verstehen und hier in die Diskussionen sowohl der Klassenlinken als auch neuer Klassenbewegungen einzubringen. Dabei geht es auch darum, bürgerlichen Krisenerklärungen und nationalistischen Tendenzen den Boden abzugraben. Mit Strategien der Angst (vor der Krise) werden wir auf das Gürtel-enger-schnallen vorbereitet. Wir sollen Angst haben vor den Fremden, wie den billigen ChinesInnen, die uns die Jobs wegnehmen. Dagegen müssen wir herausstellen, welche Chancen sozialer Umwälzung in der Krise und den Kämpfen entstehen, was ProletarierInnen aus allen Ecken der Welt voneinander mitkriegen und lernen können. Die Zirkulation der Kämpfe und die Entstehung sozialer Netzwerke kann dann zur Formierung einer Arbeiterklasse auf Weltebene führen. Auch wenn wir noch ein ganzes Stück davon entfernt zu sein scheinen: Nur eine weltweite Klassenbewegung hat die Macht, die kapitalistische Krisendynamik zu brechen und eine neue solidarische Gesellschaftlichkeit zu schaffen.

rr, 8.2.2009


Randnotizen

(1) Siehe Wildcat-Beilage "Unruhen in China" auf www.gonchau.org, insbesondere die Artikel zu städtischen ArbeiterInnen und WanderarbeiterInnen. Zum Kampfzyklus der "alten" Arbeiterklasse siehe auch Wildcat-Zirkular64 / Juli 2002:
http://www.wildcat-www.de/zirkular/64/z64china.htm

(2) 40 Prozent des chinesischen Bruttoinlandsprodukts gehen in den Export, der Exportüberschuss entspricht 12 Prozent des BIP (nach zwei Prozent vor ein paar Jahren, siehe:
http://cnreviews.com/china_economy/china_financial_crisis_20081125.html)

(3) Siehe dazu auch Staphany Wong: Impacts of the Financial Crisis on Labour Conditions in China , 19.12.2009, auf: www.eu-china.net.

(4) Die Sunday Times schrieb am 1.2.2009, dass in Linfen, Shanxi, TV-Journalisten entlassen wurden, nachdem sie versucht hatten, über die Besetzung einer Fabrik durch 6000 ArbeiterInnen zu berichten.

(5) Hier überlagern sich Prozesse: Der Spielzeugsektor ist auch von den Umweltskandalen betroffen, der Textilsektor durch die Verlagerung nach Vietnam.

(6) Quelle sind Gespräche mit ArbeiterInnen vor Ort.

(7) Entscheidend wird auch sein, ob die im Oktober 2008 angekündigte Landreform zu einem Konzentrationsprozess in der Landwirtschaft führen und die Zahl landloser LandbewohnerInnen zunehmen wird. Die ständigen "Umweltkatastrophen" (Dürren, Schneestürme, Wüstenausdehnung) verschärfen zudem die Krise auf dem Land.

(8) Victor Shih auf rgemonitor.com, 09.01.2009. Zu 1989 siehe Wildcat 58, Februar/März 1992: "Rückkehr nach China":
http://www.wildcat-www.de/wildcat/58/w58china.htm

(9) In gewisser Weise eine Fortsetzung der rassistischen Propaganda der neunziger Jahre, als die WanderarbeiterInnen als naive HinterwäldlerInnen dargestellt wurden, die verantwortlichen seien für Kriminalität, Krankheiten und moralischen Verfall in den Städten.

10 Siehe Wildcat 68, Januar 2004: China und die USA in der Weltwirtschaft
http://www.wildcat-www.de/wildcat/68/w68china.htm


Anmerkung

Proteste bei Osram-Tochter in China
Foshan, Guangdong: Im November 2008 stellten die ArbeiterInnen der Osram-Tochter Felco fest, dass der Lohn deutlich niedriger war als vorher. ArbeiterInnen mit einem Monatslohn von 1800 Yuan bekamen nach der Kürzung 500 bis 600 Yuan weniger. Sie arbeiten aber weiterhin zwölf Stunden täglich, sieben Tage die Woche. Wütend blockierten sie ein Fabriktor. Da sie mit ihren Protesten auf taube Ohren stießen, verstellten 40 ArbeiterInnen am 25.12. erneut ein Fabriktor. Einige wurden verhaftet und geschlagen. Am 26. blockierten dann Hunderte fünf Stunden lang die Hauptverkehrsstraße. Die Polizei ging mit Tränengas und Schlagstöcken gegen sie vor. Einige ArbeiterInnen wurden verletzt, 30 wegen "Verkehrsbehinderung" verhaftet. Eine Arbeiterin erlitt so schwere Knieverletzungen, dass sie nie wieder normal laufen kann. Eine Woche später nahm die Polizei weitere fünf oder sechs ArbeiterInnen als "RädelsführerInnen" fest. Auf der Polizeistation wurden sie geschlagen, drei schwer verletzt. Die Firma weist die Forderungen der ArbeiterInnen zurück. Das Management soll enge Kontakte zur lokalen Regierung haben. Noch bevor die Fabrik am 18.01. wegen des chinesischen Neujahrsfestes schloss, wurden die meisten der Festgenommenen freigelassen. Felco zahlte die Löhne für November und Dezember in der alten Höhe aus. Einige ArbeiterInnen sind aber weiter in Haft und werden wohl vor Gericht gestellt oder in ein Arbeits- und Umerziehungslager geschickt.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
ArbeiterInnen vor Ort. Wanderarbeiter protestieren in Peking wegen nicht gezahlt er Löhne.

Raute

Die globale Krise in Indien

Indien ist der subkontinentale Testfall für das Weltsystem. Das Land durchlief alle Entwicklungsmodelle: von Kolonialherrschaft, nachholender marktorientierter Planwirtschaft bis - nach Kollaps und Zahlungsunfähigkeit 1991 - zur neoliberalen Vorzeigeökonomie. Ein Testfall auch in Hinblick auf die Legitimation kapitalistischer Entwicklung: ob diese nicht nur die Klassenverhältnisse reproduziert, sondern dabei auch die Lage der verarmten Dorf- und Slumbevölkerung verbessert. Die aktuelle Krise stellt zumindest letzteres in Frage.


In Indien basierte der Boom der letzten Jahre auf einem massiven Zufluss internationalen Kapitals und dem Export von IT-Dienstleistungen, was zu einer Überbewertung der Rupie, zu steigender Inflation und steigenden Zinsraten führte. Die klassischen und arbeitsintensiven Exportbranchen wie z.B. Textil- oder Agrarindustrie, wurden von der Last der Wechselkurse und den teuren Krediten erdrückt. Mit dem Einsetzen der globalen Krise im Herbst 2008 wurde deutlich, dass die Krise nicht auf die Aktienmärkte, die Währung oder die Immobilienblase begrenzt ist, sondern alle Sektoren der indischen Wirtschaft erfasst.

Der Hauptaktienindex (Sensex) schrumpfte im Verlauf des Jahres 2008, von 20.800 Punkten im Januar auf unter 10.000 Mitte Oktober. Der Kollaps im Oktober betraf vor allem jene Firmen, die als Aushängeschilder des Booms der 1990er galten, wie z.B. der Immobilienriese DLF, die Unternehmensgruppe Reliance oder Firmen des Bio-tech Sektors wie Ranbaxy. Im Oktober verlor der indische Aktienmarkt rund eine Billion US-Dollar, mehr als das gesamte indische Bruttosozialprodukt des Jahres 2007-08. Der Hauptgrund für die massiven Verluste waren die Panikverkäufe von ausländischen Investorengruppen, die rund ein Viertel der umlaufenden Aktien hielten. Die Verkäufe lösten einen massiven Verlust an ausländischen Währungsreserven aus, die von 300 Milliarden Dollar im Juli 2008 auf 250 Milliarden im November fielen. Regierungspolitiker hatten immer wieder auf diese Reserven verwiesen, wenn Kritiker vor Überhitzung und dem Gespenst der Zahlungskrise 1991 warnten. Jetzt zeigt sich, dass die hohen Reserven weniger den "gesunden Exporteinnahmen", sondern Spekulationsanlagen geschuldet sind. Indische Unternehmen reagierten auf den Kollaps, indem sie Extrakredite bei indischen Banken aufnahmen, um die geliehenen Rupien in Dollar-Fonds zu sichern. Dies löste eine Kreditklemme aus, die sich unmittelbar bis in den ländlichen Raum auswirkte und Mikrokredite der Landwirtschaft austrocknete. Der massenhafte Tausch von Rupien in Dollar erodierte den Wert der Rupie: im Frühjahr 2008 kostete ein US-Dollar 40 Rupien, im November 50 Rupien. Da gleichzeitig die Auslandsmärkte einknickten, führte diese Abwertung nicht zu einer Atempause für die Exportindustrie, sondern schärfte die Krisenlage angesichts der enormen Abhängigkeit der indischen Wirtschaft von Öl- und Düngemittelimporten. Diese Importe haben das Handelsbilanzdefizit im Verlauf des Jahres 2008 anwachsen lassen. Im August 2008 stand es bei rund 14 Milliarden US-Dollar und damit doppelt so hoch wie im August des Vorjahres - ein weiteres Leck in den Währungsreserven. Die indischen Exporte knickten im Oktober um 20 Prozent ein, die Containerfracht um 50 Prozent, speziell Textilien für den US-Markt und Eisenerz für die chinesische Stahlindustrie: mit dem Resultat, dass nach mehr als einem Jahrzehnt des Wachstums die indische Industrieproduktion im Oktober in die Rezession rutschte. Die Zeitungen füllten sich nun mit Meldungen über Entlassungen und temporäre Produktionsstopps, und zwar von den Call Centern in Gurgaon über die Automontagewerke in Pune, die Teeplantagen West-Bengalens bis zu den Sandsteinbrüchen Rajasthans.


Die Reaktion des Staats

Die große Frage ist, welche Ressourcen der indische Staat mobilisieren kann, um die Krise abzufedern. Hier entblößt sich der neoliberale Kurs der letzten Jahre - die Zoll- und Steuersenkungen und wachsenden Privatkredite - als defacto Schuldenwirtschaft. Im Jahr 2007/08 betrugen die Staatseinnahmen rund 160 Milliarden US-Dollar. Von den 174 Milliarden US-Dollar Staatsausgaben wurden 45 Milliarden allein für die Zahlung von Zinsen und Schuldentilgung verwendet. Im Dezember 2008 schnürte die Weltbank ein Kreditpaket von 14 Milliarden US-Dollar für den indischen Staat. Dieser verkündete, im Laufe des Jahres 2009 rund 8,5 Milliarden für ein Konjunkturpaket auszugeben. In den Medien wurde diese Summe mit den 560 Milliarden US-Dollar verglichen, die China für die Binnenmarktankurbelung aufbringen will. Die finanziellen Mittel zur Abfederung der Krise sind also begrenzt, das Krisenregime in Indien muss an zwei Fronten Luft für eine grundlegende Umstrukturierung schaffen: erstens in der Auseinandersetzung mit der sozialen Unruhe auf dem Land, zweitens im Kampf mit dem Proletariat der städtischen Industriegebiete. Für beide Umstrukturierungen braucht es billige Energie, die dritte Größe in der Krisenbewältigung. Indien muss 80 Prozent des Ölbedarfs importieren. Versuche, die eigene Ölförderung zu steigern, sind heikel, da mehr als ein Fünftel der Ölvorkommen im Bürgerkriegsgebiet von Assam liegen. Geopolitisch ähnlich prekär ist die anvisierte Gasversorgung durch den Iran via Pakistan oder das Nuklearabkommen mit den USA, an dem 2008 die Regierungskoalition zerbrach. Auch die fallenden Ölpreise führten nicht zu einer Aufbesserung des Staatshaushalts. Der indische Staat als Monopolanbieter hatte die fallenden Preise des Weltmarkts zunächst nicht an den lokalen Markt weitergegeben, um nach langer Zeit der Subvention von der Differenz profitieren zu können, aber dieser Versuch wurde bereits im Januar 2009 durch den Generalstreik der LKW-Fahrer und Spediteure und massive Lohnforderungen der ArbeiterInnen der staatlichen Ölgesellschaften unterbunden.


Die soziale Krise auf dem Land

Die Ökonomen kritisieren zudem, dass die Finanzspritzen des indischen Staats weniger in produktive Investitionen, sondern vor allem in "populistische Maßnahmen" fließen, wie z.B. in den Schuldenerlass für Kleinbauern, die Subventionen für Düngemittel, die ländlichen Beschäftigungsprogramme (NREGS) und die Erhöhung des staatlich garantierten Mindestpreises für Agrarprodukte wie Baumwolle. Allein für Schuldenerlass, Subventionen und Beschäftigungsprogramm plant der Staat für 2009 Ausgaben von 48 Milliarden US-Dollar, also fast ein Drittel der gesamten Staatseinnahmen von 2007-08! Diese Ausgaben sind weder populistische Maßnahmen noch profitversprechende Investitionen. Sie sind ein verzweifelter Versuch, die massenhafte Proletarisierung und die wachsenden Bedürfnisse der ländlichen Bevölkerung einzudämmen. Der Staat weiß, dass Kleinbauern eher dazu neigen, ihre Misere zu individualisieren, was die steigenden Suizidraten in den Cash-Crop-Gebieten zeigen, während die Bewegungen des ländlichen Proletariats unberechenbarer sind und tendenziell kostspielige sozialstaatliche und repressive Maßnahmen verlangen. Der indische Staat zahlt einen hohen Preis, um die Balance zwischen Agrarpreisen, also dem Reproduktionslimit der Millionen von Bauernfamilien, und den Nahrungsmittelpreisen für das wachsende Proletariat zu halten. Konnten der indische und chinesische Staat auf dem WTO-Gipfel 2008 die Agrarhandelsbarrieren noch hochhalten und dadurch die einheimischen ProduzentInnen vor der Überproduktion der Agrarwirtschaft des Nordens schützen, so stellt die aktuelle Krise eben diese Balance in Frage. Zum einen, da die Auslassventile für die ländliche Unterbeschäftigung, sprich die prekären Jobs auf dem Bau und in der Industrie, auf Grund der Krise verstopft sind, zum anderen, da die Preise für Agro-Produkte dramatisch fallen. Der Weltmarktpreis für Baumwolle ist im Laufe des Jahres 2008 um fast 40 Prozent gefallen, China ist von einem Hauptabnehmer indischer Baumwolle zu einem Konkurrenten auf dem Weltmarkt geworden, beide Länder gehen von einer Überproduktion von einem Fünftel der Jahresernte aus. Zwar hatte der indische Staat die garantierten Mindestpreise für Baumwolle im Herbst 2008 um fast 20 Prozent angehoben, um die Lobby der zehn Millionen Baumwollbauern ruhigzustellen, die Händler und Textilunternehmen weigern sich aber, diesen Preis zu zahlen. Im Punjab wurde der Staat zum defizitären Alleinabnehmer der gesamten Ernte - ähnlich sieht es im Tee- und Zuckeranbau aus. Ende 2008 hob die indische Regierung die Exportrestriktionen für Mais auf und stellte die Erlaubnis für den Export von Reis in Aussicht - das damals geltende Exportverbot wurde als ein Grund dafür gesehen, dass Indien im Frühjahr 2008 Unruhen um die Nahrungsmittelpreise weitestgehend erspart geblieben sind.


Der industrielle Engpass

Hauptprofiteur der sozialen Krise auf dem Land waren bisher die industriellen Cluster, die dank des massiven Zustroms an BauernarbeiterInnen die Löhne auf das Existenzminimum drücken, die täglichen Arbeitszeiten auf 12 Stunden festsetzen und Leute bei Marktschwankungen oder zu Saisonende entlassen und zurück aufs Land schicken konnten. Auch deshalb blieben proletarische Binnennachfrage und kapitalintensive Investitionen in der Industrie auf niedrigem Niveau. Diese physische Grenze der Ausbeutung wurde in den letzten Jahren durch eine weitere Grenze ergänzt, die Grenze der globalen Auslagerung. Die Auslagerung der IT- und Textilindustrie nach Indien ist abgeschlossen, die Beschäftigtenzahlen wachsen nicht weiter und die Abhängigkeit von den Märkten der USA und Europas steht fest. Die aktuelle Krise traf diese Branchen hart, die indische IT-Gewerkschaft Union of Information Technology Enabled Services (UNITES) geht davon aus, dass zwischen September und Dezember 2008 rund 10.000 Jobs verloren gingen und bis Mitte 2009 rund 50.000 weitere auf dem Spiel stehen. Mit 1,5 Millionen direkt Beschäftigten macht die Branche zwar kaum 0,3 Prozent der Erwerbsbevölkerung aus, trägt aber rund 30 Prozent zum Gesamtexport bei. Ähnlich hoch ist der Exportanteil der Textilbranche, mit 35 Millionen offiziell Beschäftigten der größte Beschäftigungszweig nach der Landwirtschaft. Die TextilarbeiterInnen wurden kurz hintereinander von zwei Entlassungswellen getroffen: im Herbst 2007, als US-Firmen auf Grund der aufgeblasenen Rupie ihre Aufträge nach Bangladesh und Vietnam vergaben, und im Herbst 2008, als der US-Markt einbrach. Die Zeit zwischen diesen Einbrüchen haben die ArbeiterInnen mit 80-Stunden-Wochen überbrückt. Ende 2008 rechneten die indischen Textilunternehmerverbände der Regierung vor, dass in der zweiten Hälfte des Jahres 500.000 Jobs in der Exportindustrie verloren gingen und dass im nächsten halben Jahr 700.000 weitere folgen könnten. Die Absatzmärkte der indischen Textilindustrie schrumpfen, und der Binnenmarkt wird von der chinesischen Überproduktion überrollt.

Ein ähnliches Bild ergibt sich in der Eisenerzgewinnung und der Stahlindustrie. Im Herbst wurden tausende von Minenarbeitern auf die Straße gesetzt, die Eisenerzpreise sind von 120 US-Dollar pro Tonne im Jahr 2007 auf 45 US-Dollar Ende 2008 gefallen. China plant, Anfang 2009 seine Exportzölle für Stahlprodukte aufzuheben, wodurch die in Indien bereits um 20 Prozent gedrosselte Stahlproduktion weiter unter Druck geraten würde, insbesondere da die indische Automobilindustrie als Hauptabnehmer selbst in arger Bedrängnis ist. Der Absatz von LKWs ging zur Jahreswende 2008/09 um 30 bis 40 Prozent zurück, Tata entließ hunderte von ZeitarbeiterInnen und reduzierte die Arbeitszeit im LKW-Werk auf eine Drei-Tage-Woche. Der Absatz der PKW-Produktion ging ebenfalls um durchschnittlich 20 Prozent zurück, allein Hyundai entließ 2000 ZeitarbeiterInnen zur Jahreswende. Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich die Anzahl der PKW-Montagewerke in Indien auf über ein Dutzend erhöht, mit ähnlichen Belegschaftsgrößen und Jahreskapazitäten wie in Europa. Für eine rentable Auslastung müsste der Absatz in den nächsten Jahren von knapp 2 Millionen im Jahr 2008 auf mindestens 3,5 Millionen steigen. Der Boom der letzten Jahre ist auf eine bestimmte Kombination zurückzuführen: einerseits eine enorme Prekarisierung der AutoarbeiterInnen - ZeitarbeiterInnen stellen die Mehrheit der Arbeitskraft, ihrem Monatsverdienst von rund 7000 Rupien stehen Preise für Kleinwagen von 500.000 bis 700.000 Rupien gegenüber; andererseits eine neue Mittelschicht (IT- und Call-Center-Manager sowie durch den Immobilienboom reich gewordene Großbauern) - die aber seit Einsetzen der Krise kein vielversprechendes Klientel für zukünftige Absatzsteigerungen mehr darstellt.


Klassenspaltung oder Neuzusammensetzung

Angesichts schrumpfender Staatseinnahmen wird die Zentralregierung Schwierigkeiten haben, die Last der Krise zwischen den verschiedenen Bundesstaaten und Wirtschaftslobbies zu jonglieren und die politische Integration zu wahren. Seit Einsetzen der Krise gab es verschiedene Anzeichen der Desintegration, die auch das ländliche und urbane Proletariat auf soziale Abwege zu bringen droht. Im Oktober 2008 griffen Mitglieder der nationalistischen Maharashtra Navnirman Sena (MNS) ArbeiterInnen aus Nord-Indien an, die sich in Mumbai auf zentral ausgeschriebene Stellen bei der Staatsbahn bewerben wollten. In Folge kam es zu Riots im nordindischen Bundesstaat Bihar und zu Spannungen zwischen den involvierten Regierungen. Auf dem Land drückt sich die Desintegration vor allem im Anwachsen der bewaffneten maoistischen Bewegungen aus, die in einigen Bundesstaaten einen Parallelstaat der Unterentwicklung etabliert haben. Im Dezember 2008 kündigten Minister von sieben betroffenen Bundesstaaten einen koordinierten Feldzug gegen diese Naxaliten an.

Hauptproblem aller Fraktionen der herrschenden Klasse wird die politische (Des-)Integration der ArbeiterInnen auf dem durch die Krise aufgewühlten Terrain der Klassenauseinandersetzung sein. Der erste Schritt des Staats und einiger Großunternehmen nach Einsetzen der Krise bestand darin, die vorhandene Hierarchie innerhalb der ArbeiterInnenklasse zu bestätigen. Im Spätherbst sicherten die Zentralregierung und einige Bundesstaaten den Staatsbediensteten Lohnerhöhungen zu, Tata gewährte den fest angestellten StahlarbeiterInnen Einkommenszuwächse und entließ zur gleichen Zeit hunderte von ZeitarbeiterInnen.

Nach den ersten Ankündigungen von Massenentlassungen bei Jet Airlines im Oktober 2008 wurde ein politisches Schauspiel aufgeführt: nach einigen symbolischen Gewerkschaftsprotesten und der Intervention des Arbeitsministers nahm Jet Airlines die 1500 Entlassungen zurück. Tatsächlich hatte Jet Airlines bereits im September hunderte von Angestellten entlassen, und Air India schickte kurz darauf rund 14.000 Beschäftigte in unbezahlten Urlaub. In einigen Branchen wie der Textilindustrie in Bangalore oder der Diamantindustrie in Surat, tun sich die Unternehmerverbände mit den offiziellen Gewerkschaften zusammen, um im Brancheninteresse der Branche Druck auf die Regierung auszuüben. In der Autozulieferindustrie häufen sich die Aussperrungen, so z.B. beim Reifenhersteiler Apollo oder bei Bosch in Jaipur. Aussperrungen als Mittel der Umstrukturierung der Belegschaft sind in Indien weit verbreitet.

Die Krise wird die drei wichtigsten Szenerien des Klassenkampfs der letzten Jahre umwälzen - die neuen industriellen Cluster, die Bewegungen gegen industrielle Großprojekte und die Bewegungen des ländlichen Proletariats.

In den Industrieclustern trifft die Krise sowohl die ZeitarbeiterInnen der Auto- und Textilindustrie wie die akademisch-proletarisierte Mittelschichtsjugend der Call Center. In den letzten Monaten hat es viele selbstbewusste Auseinandersetzungen in den noch boomenden Branchen gegeben - von wilden Fabrikbesetzungen durch ZeitarbeiterInnen bei Hero Honda bis hin zu Riots der Diamantpolierer in Surat für mehr Lohn. Es stellt sich die Frage, wie sich die Krise auf ihre Bedürfnisse und Kampferfahrungen auswirken wird. Dies auch vor dem Hintergrund ihres prekären Aufenthalts als migrantische Arbeitskraft in der Stadt.

Die Bewegungen gegen industrielle Großprojekte - z.B. gegen Bauxitminen in Kashipur/Orissa, Sonderentwicklungszonen in Maharashtra oder Autofabriken in Singur/West-Bengalen - wurden von den örtlichen Kleinbauern getragen. Sie laufen Gefahr, zwischen den Versprechungen von Arbeitsplätzen für die ländlichen (landlosen) Armen und der Gewalt des Staats aufgerieben zu werden. Die Krise hat nun vor allem die Versprechungen relativiert - in den Minengebieten und Exportzonen sitzen tausende entlassener ArbeiterInnen auf der Straße. Andernorts wird die Staatsgewalt in Frage gestellt. Im November und Dezember 2008 kam es in den verarmten 'tribal areas' des Distrikts Lalgarh in West-Bengalen zu einem Massenaufstand gegen Polizeigewalt. Polizeikasernen wurden umzingelt, Zufahrtsstraßen blockiert und schließlich die Forderungen nach Abzug der Polizei und Entschädigung durchgesetzt.

Auf dem Land stellt sich die Frage, ob die Krise die fatale Teilung der proletarisierten Bevölkerung in verschuldete suizidgefährdete Kleinbauern und saisonale WanderarbeiterInnen in der Plantagen- und Steinbruchökonomie zerrütten wird. Mit der Ausweitung des arbeitsintensiven Beschäftigungsprogramms NREGS auf über 50 Millionen ländliche Haushalte und dem durch die Krise mehr oder minder verstaatlichten Markt für Cash Crops und Kredite könnten die ländlichen Kämpfe in der Auseinandersetzung mit dem Staat zusammenkommen.

Raute

Polen: Exportplattform im Sturzflug

Am 5. Februar protestieren 4000 MetallarbeiterInnen aus Stalowa Wola vor dem Sitz des staatlichen Stromversorgers PGE in der Regionalhauptstadt Rzeszow. Auf der Demo geht es richtig ab: Die ArbeiterInnen dürfen Dampf ablassen, schmeißen mit Böllern und zünden Autoreifen an. Die Demo in Rzeszow hat die Gewerkschaft Solidarnosc organisiert, weil der Maschinenbaubetrieb ZZM, ein Tochterunternehmen der Stahlhütte, Konkurs angemeldet hat. Alle wissen, dass ZZM die Aufträge von seinem größten Kunden in Österreich ausbleiben und dass Solidarnosc im Gegenzug für Beschäftigungsgarantien schon im Dezember einer Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich zugestimmt hat. Die Gewerkschaft behauptet aber, schuld an der Pleite, die die Beschäftigungsgarantien jetzt hinfällig macht, sei nicht die Krise, sondern die Strompreise, die sich im Lauf des letzten Jahres fast verdoppelt haben.


Boom

Seit dem EU-Beitritt sind die neuen Mitgliedsstaaten in Osteuropa konsequent zur verlängerten Werkbank Westeuropas umgebaut worden. Das gilt auch für Polen als mit Abstand größten dieser Staaten(1). Speziell fürs deutsche Kapital stellte sich Polen geradezu als Paradies dar: direkt vor der Haustür, niedriges Lohnniveau, eine gut ausgebildete, aber durch 15 Jahre "Transformation" gründlich demoralisierte Arbeiterklasse, eine Arbeitslosenquote von 20 Prozent (beim Beitritt im Mai 2004), geburtenstarke Jahrgänge verließen die Schulen und Universitäten, und die niedrige Erwerbsquote von 51,5 Prozent deutete auf "mobilisierbare Arbeitskraftreserven" ...

Westliche Firmen aus der Auto- und Autozuliefer-, der Hausgeräte- und der Elektronikbranche bauten in kurzer Zeit sehr viele Werke in Polen. In der Autobranche produzieren VW, Fiat und Opel PKW, MAN und Volvo LKW, Toyota, GM und Fiat Motoren. Die beiden mit Abstand größten Exporteure Polens sind VW und Fiat. Außerdem haben sich fast sämtliche namhaften Zulieferer in Polen angesiedelt. In der Hausgerätebranche sind u.a. Bosch-Siemens, Indesit, Electrolux, LG und Whirlpool präsent.(2) Ein Großteil der Produktion geht in den Export - in der Autobranche über 90 Prozent, davon über 80 Prozent in die EU. Das Bruttosozialprodukt stieg jährlich um über sechs, die Industrieproduktion um zehn Prozent, der Export um mehr als zwanzig Prozent.

Die lohnabhängige Beschäftigung stieg von 9,3 im Jahr 2002 auf 12,3 Millionen 2008, den höchsten Stand seit 1989. Die Arbeitslosigkeit fiel gleichzeitig von 3,2 Millionen (20 Prozent) 2002 auf 1,4 Millionen (9,1 Prozent). Das ist der niedrigste Stand seit 1990. Gleichzeitig emigrierten fast zwei Millionen Menschen v.a. nach Großbritannien und Irland, und die nicht Erwerbstätigen stellten sich als nur schwer mobilisierbar heraus: Ein Teil nutzte weiterhin eine Kombination von staatlich garantierter Subsistenzlandwirtschaft und informeller Lohnarbeit, v.a. Saisonarbeit im Ausland(3), ein anderer Teil war über Früh- und Berufsunfähigkeitsrenten dauerhaft raus aus dem offiziellen Arbeitsmarkt(4). Dass wenige gern in Polen arbeiten wollten, war kein Wunder: 2005 lag der Durchschnittslohn im verarbeitenden Gewerbe bei etwa 470 Euro brutto im Monat. Außerdem waren die meisten neuen Jobs befristet. Die Zahl der befristeten Arbeitsverhältnisse stieg von 600.000 im Jahr 2000 auf 3,2 Millionen Mitte 2008. Das sind 27 Prozent aller Arbeitsverhältnisse. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Leiharbeitsverhältnisse offiziell von 30.000 auf 250.000.

Mit der schnellen Austrocknung des Arbeitsmarkts stieg die Konfliktbereitschaft: Die Zahl der offiziell erfassten Streiks stieg von 8 im Jahr 2005 auf 1736 im Jahr 2007 und 11.987 allein im ersten Halbjahr 2008(5). In der Industrie wurden die Lohnerhöhungen meist durchgesetzt, bevor es zu offiziellen Arbeitskämpfen kam. Aus einigen Betrieben wissen wir von informellen Auseinandersetzungen, etwa von der Verweigerung von Überstunden bei Toyota 2007 oder von der geplanten Verweigerung von Überstunden bei VW 2007, die zu einer weitgehenden Gleichstellung der Leiharbeiter mit den direkt Beschäftigten führte. Nach einer materiell erfolglosen Welle von wilden Streiks bei der Post Ende 2006(6) kam es 2007 und 2008 zu einer Welle von Lohnstreiks im öffentlichen Dienst, die sich über Monate hinzog. Diese Streiks setzten Lohnerhöhungen von bis zu 30 Prozent (auf zwei Jahre gerechnet) durch. Sie blieben zwar unter gewerkschaftlicher Kontrolle, da aber Hunderttausende aktiv wurden, sorgten sie für einen grundlegenden Umschwung der gesellschaftlichen Stimmung: Kämpfen schien sich wieder zu lohnen.(7) Insgesamt stiegen die Löhne 2006 um zehn, 2007 um zwölf und allein von Januar bis Ende September 2008 um gut elf Prozent. Damit waren die Lohnsteigerungen zwar nicht so rasant wie in Lettland und Bulgarien (wo sie 2008 bei 28 bzw. 24 Prozent lagen), aber schon 2006 doppelt so hoch wie das Wirtschaftswachstum. Um die "Überhitzung" zu bremsen, erhöhte die Nationalbank den Leitzins zwischen März 2006 und Juni 2008 insgesamt achtmal von 4,25 auf 6,25 Prozent, konnte die Lohndynamik damit aber nicht stoppen. Dafür wurde der Zloty aufgewertet - gegenüber dem Euro und erst recht gegenüber dem britischen Pfund(8), was erstmals die Auswanderung nach Großbritannien bremste.

Dadurch, dass die britischen Löhne nach der Umrechnung in Zloty immer weniger wert waren, ging die klassische "Gastarbeiterrechnung" (ein paar Jahre unter miesen Bedingungen schuften und sich dann in Polen ein Häuschen kaufen) immer weniger auf. Es gab aber keine große Rückkehrwelle. Offensichtlich rechneten sich immer mehr Polen in Großbritannien aus, dass ein britischer Lohn dort immer noch mehr Kaufkraft hat als ein polnischer Lohn in Polen, und stellten sich drauf ein, dauerhaft dort zu bleiben.

Unter dem Eindruck des Booms sahen besonders Teile der Mittelschichten eine Perspektive, ihrer Wohnungsnot ein Ende zu setzen, und kauften auf Kredit eine Eigentumswohnung. Das heizte den Bauboom an und trieb die Immobilienpreise bis zum Sommer 2008 auf bisher ungekannte Höhen - in Warschau stiegen die Quadratmeterpreise auf 9000 bis 10.000 Zloty (zum damaligen Kurs zwischen 2500 und 2900 Euro). In dieser Situation hatten die Aufwertung des Zloty und die hohen Zinsen einen weiteren Nebeneffekt: Viele Leute gingen auf die lautstark angepriesenen Angebote der Banken ein und nahmen niedriger verzinste Kredite in ausländischen Währungen auf; besonders in Schweizer Franken.(9) Fast 70 Prozent aller Hypothekenkredite in Polen laufen in Schweizer Franken.

Mit den Erschütterungen im globalen Banken- und Währungssystem im September fing der Kurs des Zloty plötzlich an zu fallen und hört seitdem nicht mehr damit auf Anfang Februar hat er wieder den Stand von 2004 erreicht. Der Wert der Wohnungen ist inzwischen um 15 bis 20 Prozent gesunken, während die monatlichen Zloty-Raten für Kredite in ausländischer Währung - also die effektiven Kaufpreise - um 25 bis 30 Prozent gestiegen sind. Ende Oktober betrug die Gesamtsumme der Hypothekenkredite 171 Milliarden Zloty bis Ende des Jahres stieg sie auf 192 Milliarden, obwohl die Banken im November und Dezember praktisch keine neuen Kredite mehr vergeben haben.


Krise

Die Autoindustrie war die erste Branche der "Realwirtschaft", in der die Krise sich bemerkbar machte: Schon im Mai 2008 liefen bei VW in Poznan Gerüchte über Absatzprobleme und mögliche Entlassungen um. Im Toyota-Motorenwerk in Jelcz wurde im September die dritte Schicht gestrichen. Bei Opel in Gliwice ruhte im Oktober synchron mit Eisenach und Bochum tageweise die Produktion. Inzwischen wurden die Zahlen für Januar 2009 bekannt: Die PKW-Produktion ist gegenüber dem Vorjahr um 30 Prozent eingebrochen, die Produktion von leichten Nutzfahrzeugen sogar um 58 Prozent.

Bezeichnenderweise sehen Regierung und "Experten" in Polen bis heute keinerlei Zusammenhang zwischen Finanzkrise und Autoproduktion. Dabei war die historisch einzigartige Ausweitung der weltweiten Autoproduktion von 58 auf 73 Millionen Stück zwischen 2002 und 2007 nur auf Kredit möglich. Die Autoindustrie hat die Finanzkrise maßgeblich mit angetrieben, da nur die Ausweitung des Kredits verhinderte, dass Überproduktion und Überkapazitäten sichtbar wurden. Gleichzeitig wurden immer neue Fabriken gebaut, besonders in den neuen EU-Staaten in Osteuropa: Die Produktionsausweitung in der EU um 1,7 auf 19,7 Millionen Autos zwischen 2002 und 2007 fand im wesentlichen hier statt, wo sie sich um 1,5 auf 2,9 Millionen mehr als verdoppelte.(10)

Die Kapitalisten mussten wissen, dass das "neue Detroit" ihre Probleme nicht langfristig lösen konnte. Zum einen hat sich historisch mit jeder Verlagerungswelle die Geschwindigkeit erhöht, in der die ArbeiterInnen an den neuen Standorten ähnliche Bedingungen wie an den alten Standorten durchsetzen.(11) Zum anderen ist EU-Osteuropa viel zu klein, um die ganze Autoindustrie Westeuropas dorthin zu verlagern, ohne die Bevölkerung komplett in AutomobilarbeiterInnen zu verwandeln.(12) Sie mussten wissen, dass ihnen nur ein kleines Zeitfenster blieb, auch wenn sie wohl nicht ahnten, wie schnell überall die Arbeitsmärkte austrocknen und die Löhne in Bewegung geraten würden und wie schnell damit Osteuropa seine Erpressungs- und Abschreckungsfunktion gegenüber Westeuropa verlieren würde. Nun kehrt - noch bevor dieser Zyklus politisch "reifen" konnte - die Krise der Autoindustrie als Kreditkrise zurück und reißt das ganze regionale Entwicklungsmodell der letzten Jahre mit.

Noch im Oktober bestritten in Polen Regierung und Ökonomen, dass das Land überhaupt von der "Finanzkrise in den USA" betroffen sei. In den meisten Branchen wurden immer noch Leute eingestellt(13), und noch Anfang November sagten die meisten, der in einer Umfrage der Gazeta Wyborcza befragten Unternehmen, sie seien von der Krise nicht betroffen und planten keine Entlassungen.

Ende November hatte sich die Situation vollkommen geändert. Seitdem bringt die Presse ständig neue Listen geplanter Entlassungen. Plötzlich meldeten Firmen reihenweise "Gruppenentlassungen" beim Arbeitsamt an(14). Landesweit wurden schon im November 38.000 Gruppenentlassungen gegenüber 55.000 im ganzen Jahr 2007 registriert.(15) Tatsächlich gibt es in Polen keine Puffer wie die Kurzarbeit, so dass die Entlassungswellen nicht wie in der BRD verschoben werden können.

In der Klasse kommt die Krise aber erst langsam an. Wegen laufender Kündigungsfristen stehen die meisten angekündigten Gruppenentlassungen noch bevor. Rausgeflogen sind bisher hauptsächlich Befristete und LeiharbeiterInnen, ähnlich unsichtbar wie in der BRD: Auslaufende Zeitverträge wurden nicht verlängert, LeiharbeiterInnen (bei VW in Poznan etwa waren es noch im Herbst 900) sind verschwunden. Einige Leiharbeitsfirmen wie Randstad in Lodz haben selbst schon Gruppenentlassungen angemeldet, aber die meisten LeiharbeiterInnen hatten selbst befristete Verträge, die inzwischen ausgelaufen sind.

Wie die Autoindustrie kündigen auch die anderen exportabhängigen Branchen Entlassungen an: Hausgeräte, Elektronik, die oft mit polnischem Kapital, aber für den Export produzierende Möbelindustrie, die Stahlindustrie. Auch die Baubranche steht vor der Krise, da nach dem Zusammenbruch des Immobilienmarkts Neubauprojekte storniert werden. Sobald durch die Massenentlassungen die Kaufkraft spürbar nachlässt, wird wohl auch der Einzelhandel dran sein.

Ein Teil der Entlassenen versucht noch in letzter Minute, auf den Zug der Frührente aufzuspringen oder sich erwerbsunfähig schreiben zu lassen. Aber alle Prognosen zu den Arbeitslosenzahlen fallen von Woche zu Woche düsterer aus. Nur die Rückwanderung von ArbeitsmigrantInnen spielt bisher keine große Rolle. Lediglich zehn Prozent der arbeitslos Gemeldeten sind Rückkehrer aus dem Ausland. Allerdings ist durch den Absturz des Zloty das Pfund wieder mehr wert, und mit dem Ende des Booms auf dem polnischen Arbeitsmarkt gibt es auch sonst wenig Anlass, nach Polen zurückzukommen. Die polnischen ArbeiterInnen, die sich an den Streiks in der britischen Ölindustrie Anfang Februar beteiligt haben, zeigen damit auch, dass sie ihren Platz in der Krise eher dort sehen.

Die Arbeitgeberverbände fordern erwartungsgemäß Zugeständnisse wie die weitere gesetzliche Flexibilisierung der Arbeitszeit. Die Gewerkschaften bieten vorauseilend Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohnausgleich zur Rettung von Arbeitsplätzen an, aber die Unternehmen zeigen wenig Interesse an solchen Abkommen, sondern gehen gleich zu Entlassungen über.

Die Regierung muss zur Verhinderung eines Staatsbankrotts den sinkenden Zloty stabilisieren, will aber nicht den Leitzins erhöhen, weil sie befürchtet, damit nur Panik zu schüren und das Vertrauen in die Währung vollends zu untergraben wie Ungarn und Island im Oktober.(16) Außerdem würden hohe Zinsen die Kreditklemme verschärfen und die Konjunktur noch weiter abwürgen. Stattdessen hat sie den Leitzins in drei großen Schritten auf 4,25 Prozent gesenkt und versucht die Währung über radikale Haushaltseinsparungen zu stabilisieren. Als politische Begründung muss die möglichst schnelle Einführung des Euro (bzw. die dafür zu erfüllenden Konvergenzkriterien) herhalten, da nur die EZB in der Lage sei, Liquidität in die Märkte zu pumpen. Da Polen frühestens 2012 der Eurozone beitreten kann, ist diese Begründung äußerst fragwürdig, sie hilft aber, die öffentliche Diskussion über die sozialen Folgen der Sparpolitik zu blockieren.

In Lettland wurde ein "Notkredit" des IWF an Auflagen wie eine Lohnsenkung um 15 Prozent im öffentlichen Dienst und die Erhöhung der Mehrwertsteuer geknüpft. Am 13. Januar demonstrierten über 10.000 Menschen dagegen und versuchten, das Parlament zu stürmen. Ähnliche Proteste gab es am selben Tag vor dem bulgarischen Parlament in Sofia und am 16. Januar vor dem litauischen Parlament in Vilnius. Demgegenüber gibt es in Polen bisher keinerlei politische Mobilisierung gegen die Krise. Tatsächlich fügt sie sich schwer in das politische Koordinatensystem ein: Die Arbeiterbewegung versteht sich mehrheitlich immer noch als "rechts". Eine Kundgebung von Busfahrern vor dem Warschauer Rathaus im Sommer 2008 endete mit minutenlangen "Kommunisten raus!"-Sprechchören gegen die neoliberale Stadtverwaltung. "Kommunismus" funktioniert immer noch als Chiffre für "die Herrschenden". Im nationalen Kontext mag das funktionieren. Aber die aktuelle weltweite Krise lässt sich nur schwer dem "Kommunismus" in die Schuhe schieben.

Aktionen wie die eingangs erwähnte Demo gegen die Strompreise sind Ausdruck der Krise, vermeiden aber den ausdrücklichen Bezug auf sie. Darin ähneln sie den wilden Streiks in der britischen Ölindustrie gegen die Vergabe von Bauaufträgen an ausländische Firmen. Sie thematisieren lokale Einzelprobleme und suchen ein Gegenüber, mit dem es einen Weg zurück zu einem "gerechten" Deal geben könnte. In den letzten Wochen gab es auch mehrere an den Gewerkschaften vorbei organisierte Betriebsbesetzungen zur Einforderung ausstehender Löhne: Beim indischen Display-Hersteller Videocon in Piaseczno bei Warschau, der im Lauf der letzten Jahre bereits 4700 von früher 5000 Beschäftigten entlassen hatte, besetzten ab dem 22. Januar 200 ehemalige ArbeiterInnen das Verwaltungsgebäude, bis die ausstehenden Löhne und Abfindungen auf ihren Konten waren. Beim Elektronikproduzenten HanPol in Lodz hatte sich der koreanische Eigentümer über Weihnachten ins Ausland abgesetzt, und die ArbeiterInnen fanden Anfang Januar nur noch eine leere Halle vor. Das Arbeitsamt wollte sie mangels Kündigungen nicht mal als arbeitslos registrieren. Ab dem 14. Januar besetzen sie drei Tage lang den Betrieb, bis schließlich ein Konkursverwalter eingesetzt wurde, der die Schließung jetzt ordnungsgemäß abwickeln soll.

Es wird noch mehr solcher Auseinandersetzungen um nicht gezahlte Löhne, Pleiten und betrügerische Unternehmer geben - wie im benachbarten Nicht-EU-Land Ukraine (das mangels internationaler Investitionen nicht über die allerersten Schritte zur Exportplattform hinausgekommen ist). Dort wurden die ArbeiterInnen der Busfabrik LZA in Lviv am 12. Dezember in unbezahlten Weihnachtsurlaub geschickt. Als sie am 26. Januar wieder zur Arbeit wollten, ließ sie der Werkschutz nicht aufs Gelände: "Die Geschäftsführung hat beschlossen, euren Urlaub zu verlängern." Daraufhin blockierten sie eine Hauptstraße vor dem Betrieb. Die ArbeiterInnen der Landmaschinenfabrik ChMZ im südukrainischen Cherson hatten seit September keinen Lohn mehr bekommen. Sie gründeten einen Arbeiterrat und besetzten am 3. Februar das Verwaltungsgebäude mit der Forderung nach Nachzahlung der Löhne und Verstaatlichung des Betriebs.

Beim eingangs erwähnten Maschinenbaubetrieb ZZM in Stalowa Wola sind die Januarlöhne ebenfalls nicht mehr ausgezahlt worden. Am 9. Februar erklärten die Chefs der Firma und der Stahlhütte als Eigentümer achselzuckend, sie könnten nur einen Abschlag von 200 Zloty pro Person zahlen, den Rest sollten die ArbeiterInnen sich von der Konkursverwalterin holen. Am 10. Februar besetzte eine große Gruppe von ArbeiterInnen das Verwaltungsgebäude der Stahlhütte, um die Auszahlung der Löhne zu fordern, und zündete einen Reifenstapel unter dem Fenster des Geschäftsführers an.

Eine wichtige Frage ist, wie lange sich solche Auseinandersetzungen politisch als Ausdruck von Tragödien und Skandalen isolieren lassen. Bisher greift das bis weit in die Linke hinein, wie das Statement eines Funktionärs der Linksgewerkschaft Sierpien 80 zu HanPol zeigt: "Sie sagen, die Krise sei schuld, aber wenn das wirklich so wäre, dann könnte der Arbeitgeber den Betrieb legal und zivilisiert schließen." Legales und zivilisiertes Vorgehen führte zuletzt der Autositze-Hersteller Lear in Tychy vor. Dort wurden gerade knapp 300 von 2000 Beschäftigten entlassen, hauptsächlich Näherinnen. Die ersten Kündigungen wurden am 30. Januar während der Nachtschicht verteilt. Zuerst nahmen die Teamleiter den ArbeiterInnen alle scharfen Werkzeuge ab, dann wurden die Kündigungen mit sofortiger Freistellung ausgehändigt und anschließend wurden die Entlassenen vom Werkschutz zu draußen bereitstehenden Bussen eskortiert.

Stand vom 10.2.2009


Randnotizen

(1) In Polen leben 38 von insgesamt 102 Millionen EinwohnerInnen der 12 neuen EU-Staaten. In Rumänien leben 21, in Tschechien und Ungarn je 10, in Bulgarien 8, in der Slowakei 5, in Litauen 3,4, in Lettland 2,2, in Slowenien 2, in Estland 1,3, in Zypern 0,7 und in Malta 0,4 Millionen.

(2) siehe "Das gelobte Land der Hausgeräteindustrie", Wildcat 75.

(3) Ein Landwirtschaftsbetrieb mit 1 ha Fläche reicht, um sich in der Bauernsozialkasse KRUS günstig kranken- und rentenzuversichern. 2008 waren dort über 1,5 Millionen Menschen versichert.

(4) Das durchschnittliche Renteneintrittsalter liegt bei 57 Jahren. Speziell im öffentlichen Dienst gibt es Vorruhestandsregelungen, die erst jetzt angegriffen wurden: Angehörige von Polizei, Zoll und Militär konnten bis Ende 2008 nach 15 Jahren in Frührente gehen, Bergleute nach 20 und Lehrer nach 25 Jahren. Die Zahl der Bezieher von Berufsunfähigkeitsrenten ist nach 1989 innerhalb weniger Jahre um 50 Prozent gestiegen und beträgt heute 5 Millionen!

(5) An den Streiks beteiligten sich 196.700 ArbeiterInnen. Dabei fielen 1.354.900 Arbeitsstunden aus, also 7 Stunden pro TeilnehmerIn. Die Zahlen erklären sich durch viele kurze Warnstreiks v.a. im öffentlichen Dienst, bei denen jede beteiligte Arbeitsstelle wie Schule und Krankenhaus einzeln erfasst wird.

(6) siehe "Wilde Streiks der Briefträger bei der polnischen Post", Wildcat 78.

(7) siehe "Die ersten offensiven Streiks. Polen: Nachschlagbewegung im öffentlichen Dienst" in Wildcat 81.

(8) Gegenüber dem Euro stieg der Zloty von 4,70 zu 1 im Januar 2004 auf 3,20 zu 1 im August 2008; gegenüber dem Pfund im gleichen Zeitraum von 7,10 zu 1 auf 4,05 zu 1, gegenüber dem Schweizer Franken von 3 zu 1 auf 2 zu 1.

(9) Die Verschuldung der Privathaushalte (größtenteils Hypothekenkredite) stieg von 2006 bis 2008 von 145 auf 230 Milliarden Zloty.

(10) "Die Autoindustrie in Tschechien als Motor der Kapitalakkumulation - und des Klassenkampfs?" in Wildcat 76 und "Slowakei: das neue Detroit?" in Wildcat 78.

(11) Siehe Beverly Silver: Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870, Berlin: Assoziation A 2005.

(12) "Zweite Luft für die Autoindustrie", Wildcat 76.

(13) In gerade fertiggestellten Fabriken wie bei Gillette in Lodz wurde sogar noch Anfang Dezember in großem Umfang eingestellt.

(14) Wenn eine Firma mehr als 20 Beschäftigte oder mehr als 10 Prozent ihrer Belegschaft entlässt, muss sie beim Kreis-Arbeitsamt eine "Gruppenentlassung" anmelden.

(15) Zum Vergleich: die bisher größte Welle von Gruppenentlassungen ereignete sich während der "Schocktherapie" zwischen 1991 und 1994. 1992 waren es über 600.000.

(16) erhöhte am 22. Oktober den Leitzins um 3 Prozentpunkte auf 11,5 Prozent, Island am 28. Oktober um 6 Prozentpunkte auf 18 Prozent.

Raute

Rumänien: Drehkreuz der Migration

Die Rückkehr der "Erdbeerpflücker"

Zum Jahreswechsel platzt der Flughafen Bukarest-Baneasa aus allen Nähten wie eine zu eng gewordene Jeans. Schon im Normalbetrieb hat der Airport für Billigfluglinien ein enormes Passagieraufgebot, nun sind die Grenzen der Kapazität weit überschritten. Endlose Schlangen, unbestimmte Wartezeiten und stickige Luft. Die meisten Menschen, die sich hier durch die Halle schieben, quetschen und drängeln, sind im Ausland arbeitende RumänInnen: capsunari, Erdbeerpflücker, wie sie in Rumänien genannt werden, egal, ob es sich dabei um Bauarbeiter in Bologna, Altenpflegerinnen in Paris, Hafenarbeiter in Rotterdam oder LandarbeiterInnen in Andalusien handelt. Schätzungsweise arbeiten 10-20 Prozent der rumänischen Bevölkerung - bis zu fünf Millionen Menschen - permanent oder vorübergehend im Ausland, vor allem in Italien und Spanien. Die Feiertage am Jahresende verbringen die meisten "zuhause" in Rumänien. Und so kann man zum Jahreswechsel auf den Busbahnhöfen und Flughäfen im Land eine der größten innereuropäischen Migrationsbewegungen beobachten.


Die Auswanderung hat Unternehmen im Inland schon seit einiger Zeit vor massive Probleme gestellt. Laut einer Studie von Manpower war Rumänien 2008 weltweit das Land mit der höchsten Arbeitskräfteknappheit. Besonders stark betroffen waren das Baugewerbe, wo die Hälfte der Arbeitsplätze nicht besetzt werden konnte, die Tourismusbranche und die Schuh- und Textilindustrie.

Obwohl das Lohniveau in Rumänien in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen ist, liegt es im EU-Vergleich noch immer an letzter Stelle. In den Textilfabriken wird auch heute landesweit nur etwas mehr als der gesetzliche Mindestlohn gezahlt. Zu diesen Löhnen ist kaum noch jemand bereit, in der Fabrik zu schuften. Bemühungen der Firmen, mehr Leute vom Land zu rekrutieren, scheiterten immer wieder an mangelnder Qualifikation, häufigen Fehlzeiten und unmotivierter Haltung der ArbeiterInnen gegenüber der Fabrikarbeit. Um die übriggebliebenen einheimischen Beschäftigten zu halten, kommen ihnen viele Unternehmen entgegen und gewähren für die Saisonarbeit im Ausland neben dem regulären zwei weitere Monate unbezahlten Urlaub. Doch auch damit ließ sich der Arbeitskräfteschwund nicht aufhalten, der zudem durch die Abwanderung in neue Betriebe der Autozulieferer- und Elektronikindustrie verstärkt wurde, wo höhere Löhne gezahlt werden.

Die Arbeitskräfteknappheit sollte schließlich durch den Import von Arbeitskräften aus Asien gelöst werden. Dabei kam es von Anfang an zu Konflikten und Widerstandsaktionen der migrantischen ArbeiterInnen aus China, Indien, Pakistan, Vietnam, Bangladesch und von den Philippinen.

Dazu zwei Beispiele aus der Textilindustrie:

Dem Bekleidungshersteller Mondostar in Sibiu waren von 1200 einheimischen Beschäftigten weniger als 350 geblieben. Um nicht in den Konkurs zu gehen, stellte die Firma im Mai 2008 zunächst 95 philippinische Textilarbeiterinnen ein. Der Arbeitsvertrag mit einer Vermittlungsagentur in Manila sicherte den Philippinas einen Basislohn von 400 USD, 100 Prozent Überstundenzulagen sowie freie Kost und Logis. Aufgrund dieser Zusagen gingen die Frauen das Risiko ein, sich für die anfallenden Vermittlungsgebühren inklusive Reisekosten mit je 2500 USD zu verschulden.

Mit einem zweiten Vertrag, den sie nach ihrer Ankunft in Sibiu unterschreiben mussten, versuchte Mondostar die vertraglichen Bestimmungen zu unterlaufen, ein Maximum an Leistung aus ihnen herauszupressen und die eigenen Kosten zu senken. Bei einer Arbeitszeit von 60 Stunden pro Woche erhielten die philippinischen Frauen 235 USD Lohn am Monatsende! Von dem vereinbarten Basislohn wurden ihnen 165 USD für Essen und Unterkunft abgezogen, die Überstunden wurden überhaupt nicht bezahlt.

Die philippinischen Frauen sahen sich in einer Zwangslage: Ihr Aufenthaltsrecht in Rumänien war an den Arbeitsvertrag gebunden. Sollten sie den Job aufgeben, warteten in den Philippinen horrende Schulden auf sie.

Die meisten von ihnen haben langjährige Arbeitserfahrungen in Textilfabriken in Taiwan, Japan, Südkorea, Namibia, Südafrika oder Brunei oder als Hausangestellte in Hongkong und Singapur. Sie können Bedingungen vergleichen und wissen sich zu organisieren. Nach zwei Monaten begannen sie einen Überstundenboykott und stellten der Firmenleitung ein Ultimatum. Mit ihrer Beschwerde bei der philippinischen Botschaft bewirkten sie einen Einstellungsstopp weiterer Arbeitskräfte von den Philippinen für die Firma Mondostar. Als Reaktion kündigte die Firma sechs Frauen, darunter den vier von den Arbeiterinnen gewählten Sprecherinnen, wegen "mangelnder Disziplin" und kürzte den Lohn noch weiter mit der Begründung, die Näherinnen hätten die betrieblich vorgegebene Norm nicht erfüllt. Im September fassten daraufhin 78 Arbeiterinnen den Entschluss, sich nicht weiter verarschen zu lassen und kündigten ihren Arbeitsvertrag mit Mondostar.

Zurück auf den Philippinen gehen sie mit Unterstützung einer Wohlfahrtsorganisation für die OFW(*) die auch für die Rückflugkosten aufkam, gerichtlich gegen die Vermittlungsagentur in Manila und gegen Mondostar vor. Einen ersten Erfolg hat das Verfahren gebracht: die Arbeiterinnen müssen nicht für die 2500 USD Vermittlungsgebühren aufkommen.

Die Voraussetzungen, unter denen die migrantischen ArbeiterInnen für eine Verbesserung ihrer Bedingungen kämpfen, sind keineswegs günstig. Ihr Aufenthaltsrecht ist an den Arbeitsvertrag gebunden. Damit haben die Arbeitgeber ein wichtiges Druckmittel in der Hand. Die TextilarbeiterInnen sind in der Regel in Wohnheimen auf dem Fabrikgelände untergebracht und dadurch leichter kontrollierbar. Weiter erschwert wird der Kontakt zu einheimischen KollegInnen dadurch, dass sie innerhalb der Produktion meist getrennt von diesen arbeiten. Hinzu kommen sprachliche Barrieren.

Welche Ausmaße die Repressionen der Unternehmer gegenüber migrantischen ArbeiterInnen annehmen, zeigt das Beispiel des italienischen Textilfabrikanten Gamba, der in Bacau zwei größere Werke betreibt, Sonoma und Wear Company. Er hatte vor drei Jahren als erster Unternehmer in Rumänien eine Lizenz für 1000 chinesische Näherinnen beantragt. Wenige Monate später, im Januar 2007, wurde die Wear Company international bekannt, als 400 chinesische Frauen in einen spontanen Streik traten, da ihnen die versprochenen Löhne nicht gezahlt wurden. Ein Teil der Frauen kehrte nach dem Streik nach China zurück, ob auf eigenen Wunsch oder abgeschoben, ist bis heute nicht bekannt.

In der Wear Company startete Gamba einen neuen Versuch, diesmal mit 500 Kontraktarbeitern aus Bangladesch. Doch auch hier ließ sich die Unzufriedenheit der Arbeiter nur durch massive Einschüchterung und Repressionen unterdrücken. Als im Sommer 2008 mehrere Textilarbeiter aus Bangladesch nicht in die Fabrik zurückkehrten, wurden ihre Kollegen zwei Monate lang auf dem Fabrikgelände eingesperrt. Weitere Arbeiter verließen die Fabrik und kamen nicht wieder. Wieder wurden die verbliebenen Arbeiter eingesperrt, dieser Zustand wurde zur Regel. Obwohl die rumänischen Medien und das für arbeitsrechtliche Fragen zuständige Inspectorat Teritorial de Munca (ITM) über diese Tatsachen informiert waren, ging niemand dem Fall nach. In der englischsprachigen Presse aus Bangladesch erschien Anfang Januar 2009 ein Artikel, demzufolge von den insgesamt 800 in Rumänien beschäftigten Kontraktarbeitern aus Bangladesch bereits die Hälfte ihren Job verlassen hat und über die Grenze in andere europäische Länder gegangen ist. Auch wird ein einwöchiger Streik von 200 Arbeitern aus Bangladesch in einer rumänischen Textilfabrik erwähnt. Über die aktuelle Situation der verbliebenen Arbeiter in der Wear Company ist nichts bekannt. Bekannt ist aber, dass der Texilunternehmer Gamba das Amt des Generalkonsuls für Bangladesch in Rumänien anstrebt.


Auswirkungen der weltweiten Krise

Die weltweite Krise wird die sozialen Verhältnisse in dem jungen EU-Land drastisch verändern. Ein Wirtschaftswachstum von 9,3 Prozent, wie 2008 verzeichnet, Lohnerhöhungen um 25 Prozent und eine Arbeitslosenquote unter vier Prozent - diese Dynamik dürfte vorerst gebrochen sein. Derzeit gibt es in größerem Ausmaß Kurzarbeit und erstmalig seit Jahren Einstellungsstopps auf dem rumänischen Arbeitsmarkt. In der Automobilindustrie und bei ihren Zulieferern, in der Stahl- und der Chemiebranche stehen Entlassungen bevor.

Die Textilindustrie ist aufgrund des Wegfalls der Importquoten, der steigenden Löhne und der Arbeitskräfteknappheit bereits auf dem Rückzug aus Rumänien. Der rumänische Textil-Unternehmerverband teilte mit, dass diese Tendenz nun durch den Mangel an Aufträgen verschärft werde. Wahrscheinlich wird der Import von Arbeitskräften, der über eine Experimentierphase noch nicht hinausging, ein rasches Ende finden.

Das Drehkreuz der Migration kann auch für die "Erdbeerpflücker"in naher Zukunft die Richtung ändern. In Spanien ist aufgrund der weltweiten Krise der Immobilienmarkt und damit die Baubranche zusammengebrochen. 500.000 rumänischen Bauarbeitern droht nun die Arbeitslosigkeit. Werden die Flughäfen und Busbahnhöfe in Rumänien bald mit Rückkehrern überfüllt sein? Welche Perspektiven haben sie? Werden sie, an deutlich höhere Löhne gewöhnt und über neue Erfahrungen verfügend, bereit sein, sich erneut den in Rumänien herrschenden Bedingungen von langen Arbeitszeiten und niedrigen Löhnen zu unterwerfen?

Ana Cosel


Randnotizen

- Laut einer am 22. April 2008 veröffentlichten Manpower-Studie gaben 73 Prozent der in Rumänien befragten Unternehmen an, nicht genügend Arbeitskräfte finden zu können.

- Zwischen 2000 und 2008 hat sich der gesetzliche Mindestlohn von 35 Euro auf derzeit etwa 135 Euro vervierfacht. In den Textilfabriken werden selten mehr als 200 Euro Lohn im Monat gezahlt.

(*) OFW = Overseas Filipino Workers, mehr Informationen dazu unter http://en.wikipedia.org/wiki/OFW

- In der rumänischen Presse erschien Ende 2008 lediglich die Meldung, dass von den 500 in Bacau arbeitenden Bangladeshi 100 verschwunden seien. Die Polizei bitte um Mithilfe.

- Seit Januar 2005 gibt es keine Importquoten für Textilien mehr. Davon profilierte vor allem die Textilindustrie in China und Indien, da ihre Produkte billiger auf den US-amerikanischen und den europäischen Markt eingeführt werden konnten. Mit dieser neuen Konkurrenz konnten Textilfirmen in Rumänien schwer mithalten.

Raute

Lampedusa: Grenzregime und Schwarzarbeit

Lampedusa wurde in den letzten Jahren zum Landeplatz für, vor allem aus Afrika kommende, Migranten ohne Papiere. Ihre sechstausend Einwohner, die vom Tourismus und Fischfang leben, hatten so viel mediale Aufmerksamkeit, dass die ausländerfeindliche Regierungspartei Lega Nord der Ex-Vizebürgermeisterin der Insel, Angela Maraventano, 2008 einen Listenplatz zur Verfügung gestellt hat.

Bisher ist Lampedusa für Migranten ohne Papiere nur ein erster Landungsplatz, von dem sie nach einigen Tagen Aufenthalt im Erstaufnahmelager in die verschiedenen, in ganz Italien verstreuten "centri di detenzione" verlegt werden. Es hat in den letzten Jahren auch direkte Rückschiebungen in die Herkunftsländer gegeben, aber viele Migranten können nicht ausgewiesen werden, weil sie entweder das Recht auf politisches Asyl haben oder aus Ländern kommen, mit denen Italien diesbezüglich keine bilateralen Abkommen unterzeichnet hat. In den letzten Jahren ist die Anzahl der in Lampedusa angekommenen Flüchtlinge gestiegen: Im Jahr 2008 haben Dreiviertel der ungefähr 36.000 Menschen einen Antrag auf politisches Asyl gestellt, von denen die Hälfte irgendeine Form von Aufenthaltsberechtigung erhalten haben. Die Leute kommen aus Ostafrika (Somalia, Eritrea, Äthiopien, Sudan) und in geringerem Ausmaß aus Westafrika (Nigeria, Senegal, Ghana), aus Nordafrika (Tunesien, Marokko), aus asiatischen Ländern (z.B. Pakistan), aus Palästina und aus anderen Konfliktregionen.

Nun will die Lega Nord zusätzlich zum Erstaufnahmelager ein Identifizierungs- und Abschiebelager in Lampedusa errichten. Dort sollen Migranten, die kein Asyl bekommen, bis zu ihrer Abschiebung untergebracht werden. Man hätte somit eine "Gefängnisinsel" mitten im Mittelmeer. Die Proteste der Bewohner von Lampedusa hängen einerseits mit den bisher spärlichen finanziellen Hilfen, andererseits mit der Aussicht auf einen zurückgehenden Tourismus zusammen. Ein Teil der Menschenliebe der lokalen Bevölkerung gegenüber den Migranten war und ist ein Instrument, um "Schadensersatz" dafür zu erhalten, dass die Insel als Aufbewahrungsort für Migranten ohne Papiere verwendet wird. 45 Millionen Euro oder den Bau eines Freihafens, so viel kostet die Duldung von zwei Gefangenenlagern. Auch wenn in den letzten Jahren einige Migrantenorganisationen immer wieder eingegriffen und versucht haben, die Bevölkerung zu sensibilisieren, konnte der derzeitige Mitte-Rechts Bürgermeister Bernardino De Rubeis noch vor einiger Zeit erklären: "Wir wollen keine farbigen Menschen, weil sie stinken." Die oben genannte Angela Maraventano, deren Unterstützung in der Bevölkerung schwindet, schrie bei ihrer Volksrede Ende Januar 2009: "Lampedusa wird alle seine Probleme lösen. Wir werden Straßen, Schulen und Blumen haben. Wir werden wieder einen Flug nach Rom haben und einen Sommer voller Touristen. Das verspreche ich euch ... Meint ihr denn, ich will die Neger auf den Straßen haben ..."

Vor diesem Hintergrund gelang es am 24. Januar 2009 Migranten aus dem sogenannten Erstaufnahmezentrum, auf die Straße zu gehen. Der Innenminister ließ wissen, das sei keine Flucht, weil sie nicht verpflichtet wären, sich im Lager aufzuhalten. Der gerissene Berlusconi ließ verlauten, die Migranten seien ins Dorf gegangen, um ein Bier zu trinken. In Wirklichkeit sind die Migranten eingeschlossen und von Ordnungskräften bewacht. Man munkelt, die Gittertore seien absichtlich geöffnet worden. Der Spaziergang von etwa tausend vorwiegend tunesischen Migranten Richtung Stadtzentrum ist Ausdruck der unmenschlichen Behandlung in einem Lager für 800 Personen, in dem 2000 untergebracht sind.

Es gab auch Momente der Solidarität, inklusive einem bewegenden Brief in Il manifesto. Die Bewohner von Lampedusa machen sich aber vor allem über sich selber Sorgen. Sie sehen Investitionen, die die Migrantenströme blockieren sollen, aber kein Geld für sie. Einige Tage vor den Vorkommnissen war das Dach der Schule eingestürzt.

Natürlich sind nicht alle wie ihr Bürgermeister oder die Parlamentarierin. Als ich vor drei Jahren in Lampedusa war, habe ich auch ein paar "Genossen" getroffen. Aber das Chaos ist ausgebrochen, weil die Bewohner von Lampedusa nicht wollen, dass ihre Insel zu einem Verbannungsort wird - nicht, weil sie solidarisch sind.

Es kommen aber weiterhin Boote nach Lampedusa, geschoben einerseits von der Weltwirtschaftskrise, andererseits von der politischen Lenkung der Migrationsströme. Viele von den Ende Januar angekommenen Tunesiern waren beim Streik in der Bergbauregion von Gafsa im Süden Tunesiens beteiligt. Die tunesische Regierung steckt im Widerspruch, einerseits widerspenstige Arbeitskraft loswerden zu müssen, andererseits gute Beziehung mit Italien, einem seiner wichtigsten Handelspartner, aufrechterhalten zu wollen. Nicht zufällig hat die tunesische Regierung nicht nur höhere Zuwanderungsquoten verlangt, sondern auch die Möglichkeit, einen Teil davon selber einzuteilen. Die Selektion der Arbeitskräfte wird zur Staatsangelegenheit, und die tunesische Regierung bereitet sich - in Zusammenarbeit mit der italienischen Regierung - darauf vor, zu einer Art internationale Anwerbeagentur zu werden. Andererseits verhandeln Tunesien und Libyen mit der italienischen Regierung über finanzielle Hilfen, offiziell zur Abwehr der Flüchtlingsströme.

"Lampedusa" verschleiert eine wichtige Tatsache: Während die italienischen Regierung den Zuwanderungsströmen aus Afrika und Asien ein grausames Gesicht zeigt, gibt sie sich milde gegenüber den Frauen aus Osteuropa, die als Pflegerinnen in Schwarzarbeit den italienischen Sozialstaat aufrecht erhalten, der nach und nach demontiert worden ist. Ein Mittel wie jedes andere, um den Unternehmern beizustehen: Italien glaubt, mit Schwarzarbeit die Krise überwinden zu können.


Anmerkung

Es gibt keine deutsche Entsprechung für "centri di detenzione", am ehesten ließe es sich mit Internierungslager übersetzen. Von der Funktion ähneln sie den deutschen Abschiebeknästen, nur dass in ihnen nicht abgelehnte AsylbewerberInnen sitzen, sondern überwiegend Papierlose, die über Italiens Küste nach Europa kamen und bei Kontrollen aufgegriffen wurden. Manche von den Internierten leben schon lange in Italien, waren "illegal" eingereist oder haben ihren Aufenthaltsstatus verloren. Die centri di detenzione gerieten in die öffentliche Aufmerksamkeit, nachdem acht MigrantInnen dort aufgrund der Bedingungen gestorben waren.

Siehe: http://www.nolager.de/blog/node/109

Raute

Spanien: Backsteine, Blasen und Bankrott

In der jetzigen Krise implodiert ein durch Fördermittel und Kredite subventioniertes Entwicklungsmodell. Sie markiert das Ende einer Epoche, die mit dem Übergang vom Frankismus begann und über die Integration in den europäischen Markt bis zu der Einbindung in den Weltmarkt führte. Die Krise ist aber auch ein medial vermarktetes Großereignis, das täglich zelebriert wird wie ein kollektiver Selbstversuch, in dem alle ihre neuen Rollen suchen. Die Politiker wirken dabei verunsichert, weil in einer Situation, die sie immer offenkundiger zu Statisten macht, die Manipulation des Wählerwillens schwieriger wird und sie bei der ersten Gelegenheit als Sündenbock abgestraft werden können. Die Medien ermahnen uns ständig, beim Einkauf auf die Sonderangebote zu achten, der Wirtschaftsminister empfiehlt den Kauf einheimischer Produkte, während an allen Ecken über den Einbruch der kreditfinanzierten Nachfrage gejammert wird, die für das spanische Wirtschaftswunder so wichtig war.


Nationalökonomie als Versuchslabor des Krisenmanagements

Ein Albtraum tritt nun an die Stelle jener heiteren Jahre, in denen alle wussten, dass das irgendwie verrückt ist und nicht ewig so gehen kann: Das ganze Land eine gigantische Wachstumsmaschine, wenn auch mit einigen Besorgnis erregenden Nebeneffekten, wie dem, dass ganze Landstriche mit schäbigen Wohnschachteln verschandelt wurden - für die Zweitwohnung am Meer, für die wachsende Bevölkerung, für die anlagesuchenden Ersparnisse aus aller Welt oder für das Waschen von Schwarzgeld. "Damals", als in Spanien soviel Zement verbraucht wurde, wie in den vier größten europäischen Volkswirtschaften zusammen, als hier ein Drittel aller 500-Euro-Scheine zirkulierte, um die korrupten Seilschaften aus Politikern, Beamten und Bauunternehmen zu schmieren, als die kommunalen Einnahmen aus der Verwandlung von Ackern in Bauland nur so sprudelten.

In den letzten zehn Jahren wuchs das Bruttoinlandsprodukt durchschnittlich um 3,5 Prozent und lag damit deutlich über dem EU-Durchschnitt. Da war es zu verkraften, dass die Subventionen aus EU-Fördermitteln, 118 Mrd. Euro seit 1986, ab 2006 verebbten, und es kümmerte wenig, dass man im globalen Wettbewerb zunehmend ins Hintertreffen geriet, weil die Produktivität nicht mit dem Lohnzuwachs Schritt hielt.(1) Die wachsende Verschuldung und das Handelsbilanzdefizit (10 Prozent des BIP) wurden aus schier unerschöpflichen, globalen Kapitalströmen auf der Suche nach renditeträchtigeren Anlagen finanziert. Spätestens mit dem Kollaps von Lehman Brothers ist das Märchen aus und haben sich alle Beschwichtigungen blamiert, die eine weiche Landung versprachen.

Von 1993 bis Anfang 2008 stieg die Beschäftigtenzahl von 12 auf über 20 Millionen. Im Juli 2007 konnte erstmals seit 1978 mit 1,76 Millionen Arbeitslosen eine Rate unter 8 Prozent gemeldet werden. Allerdings waren über ein Drittel der neuen Arbeitsplätze befristet (in der Bauindustrie über die Hälfte), was nun mitverantwortlich ist für die rasant steigende Arbeitslosigkeit, die gerade offiziell auf 3,3 Mio. (14,4 Prozent) gestiegen ist - mit täglich 6400 neuen Arbeitslosen. In der Baubranche hat sich die Arbeitslosigkeit innerhalb eines Jahres mehr als verdoppelt (307.000); in der Industrie stieg sie um 43 Prozent (120.000), im Dienstleistungssektor um 38 Prozent (492.000). Mindestens 80.000 ArbeiterInnen sind in die Schattenwirtschaft abgetaucht. 29,5 Prozent der Jugendlichen unter 25 sind arbeitslos.

Anfang 2009 waren im Automobilsektor, wo neun Prozent der Beschäftigten arbeiten, bereits 70.000 von Kurzarbeit oder Entlassungen betroffen, darunter 18.000 Entlassungen bei den Vertragshändlern. Zunächst wurden vor allem Befristete und indirekt Beschäftigte entlassen. Aufgrund der tiefen Spaltung der Belegschaften in garantierte und prekäre ArbeiterInnen blieb der Protest bislang relativ marginal. Bis auf wenige Ausnahmen waren die Aktionen und Demonstrationen isoliert und gewerkschaftlich kontrolliert. Mobilisierungen fuhren häufig zu einer Reduzierung der Stammbelegschaften über Sozialpläne und Frühverrentung.

Die Regierung versucht sich als Krisen-Feuerwehr wie eben alle Regierungen derzeit. Beinahe im Wochentakt werden neue Programme zur Stützung des Finanzsektors, der Immobilienunternehmen, der Kommunen, des Konsums verkündet. Darunter u.a. abgestufte Moratorien für die nicht mehr einforderbaren Hypotheken und Versuche zur Feinregulierung der Immigration - was politisch als Prophylaxe gegen die xenophobe Bedrohung von rechts legitimiert wird.

Die Staatsverschuldung liegt inzwischen bei fast 40 Prozent. Die Schulden der privaten Haushalte allein aus Hypothekenverpflichtungen belaufen sich auf eine Billion Euro; für die Tilgung muss jeder Haushalt durchschnittlich fast 50 Prozent seines Einkommens aufbringen. Immobilien- und Baufirmen sind mit 400 Milliarden Euro verschuldet. Die Summe der faulen Kredite hat sich 2008 auf 60 Milliarden Euro vervierfacht.


Die Chancen der Krise: Senkung des Lohnniveaus

Analysten und Regierungsvertreter reden von der "Chance", die sich jetzt biete, um die überfälligen Strukturreformen einzuleiten. Spanien müsse endlich seinen "Sandwich-Status" überwinden, wo das Lohnniveau in den weniger kapitalintensiven Sektoren der Konkurrenz aus Osteuropa und Asien nicht standhalten kann und die technologisch fortschrittlicheren Sektoren von der Überlegenheit der "reiferen" Volkswirtschaften erdrückt werden. Finanzmittel flossen in den letzten Jahren in den Bausektor; für Investitionen zur technologischen Innovation blieb da nichts übrig. Und jetzt fehlt das Geld sogar für dringend notwendige Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur. In einem sind sich alle "Analysten" einig: Das Lohnniveau muss gesenkt werden.

Tatsächlich hat der Bauboom dazu beigetragen, dass trotz relativ bescheidener Lohnzuwächse das verfügbare Einkommen der Haushalte - bedingt durch gestiegene Beschäftigung, verbilligte Kredite, gewachsene Vermögenswerte und verschiedene Steuerreformen - deutlich zunahm.(2)

Die Herunterstufung der Bonität der schwächsten Volkswirtschaften der EU durch die Rating-Agentur Standard&Poor's und Ende Januar auch für Spanien treibt die Refinanzierungskosten in die Höhe. Wollen diese Länder einem langfristig drohenden Staatsbankrott entgehen, müssen sie die Reproduktionskosten massiv und direkt senken. Die Rating-Agenturen selbst sind ein (stark umstrittenes!) Werkzeug im Gerangel um die Neuordnung globaler Herrschaftsstrukturen, und der politische und ökonomische Kollaps des kapitalistischen Weltsystems nagt an der Legitimität dieser Institutionen, die ihre drastischen Sparpläne als "Rechnung für die Übertreibungen der Vergangenheit" präsentieren. Andererseits geben von supranationalen Institutionen wie IWF, Weltbank oder Ratingagenturen "aufgezwungene" Strukturanpassungen den Regierungen die Möglichkeit, die eigene Verantwortung und Rolle zu vertuschen. In diesem Kontext sind die Schwierigkeiten der Herausbildung einer europäischen Regierungsgewalt, aber auch der zwischenstaatlichen Solidarität angesiedelt.

Die sozialistische Regierung traut sich bislang nicht, die Bedingungen der ArbeiterInnen frontal anzugreifen. Früher hätte man in einer vergleichbaren Situation die Peseta abgewertet - was einem Rabatt auf die gesamte spanische Arbeiterklasse auf dem Weltmarkt gleichkam, sich aber leichter durchsetzen ließ als die direkte Senkung der Einkommen. Die Absenkung der gesetzlichen Abfindungen von 45 Tagen pro Arbeitsjahr bei Kündigung wird immer wieder gefordert, ist der Regierung aber zu riskant.(3) Steuererhöhungen würden die Binnennachfrage weiter drosseln. Ausgabenkürzungen sind zur Zeit auch nicht umsetzbar. Die öffentlichen Dienstleistungen, insbesondere die Gesundheitsversorgung, haben bereits erhebliche Funktionsprobleme, u.a. deshalb, weil sie nicht dem Bevölkerungswachstum angepasst wurden. Die im Gesamtvolumen erheblich gewachsenen Lohnersatzleistungen reichen schon jetzt kaum zur Deckung des Lebensbedarfs; eine Kürzung würde außerdem den Ausfall der Immobilienhypotheken weiter beschleunigen. Zu erwarten ist allenfalls eine "Modernisierung" der Wohlfahrt, um mit mehr Kontrolle und Kursen die Rotation der Arbeitslosen zu erhöhen (und die Statistik zu schönen: Wie in der BRD werden 700.000 in Kursen zwischengeparkte Arbeitslose nicht mehr als arbeitslos gezählt).

Deshalb stehen vorerst die Löhne und die dafür geforderte Leistung im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. In der Privatwirtschaft ist der Angriff bereits voll in Gang als Abbau von Überkapazitäten und den damit einhergehenden Wellen von Kurzarbeit und Entlassungen. Die Regierung sah sich kürzlich sogar veranlasst, die Unternehmen zu ermahnen, "die Krise nicht auszunutzen".(4) Ein massiver Abbau der Stammbelegschaften provoziert erfahrungsgemäß militantere Mobilisierungen. In den letzten Jahren wurden sie vor allem beim Personalabbau in der Autozulieferindustrie zum Ritual, um die Abfindungen in die Höhe zu treiben. Gerade Jüngere verfolgten das Ziel, mit einer hohen Abfindung aus der Fabrik abzuhauen, statt "um den Arbeitsplatz" zu kämpfen. Aber wenn die Alternative Arbeitslosigkeit heißt, dürften solche Konflikte an Schärfe gewinnen. Deswegen empfehlen immer mehr "Analysten" als bestes Mittel zur Einkommenssenkung die Rückkehr zu den konzertierten Abkommen der 70er Jahre, den nach dem Regierungssitz benannten "Pactos de la Moncloa" zwischen Gewerkschaften, Unternehmern und Regierung.


Bauboom und Migranten

Das spanische Wachstumsmodell hat Parallelen zur irischen und in gewissem Maße zu allen angelsächsischen Ökonomien. Der Einstieg in den Euro 1999 verschaffte der seit 1994 andauernden Wachstumsphase eine neue Grundlage, auf der die unterbewertet konvertierte Peseta einige Jahre lang für einen Wettbewerbsvorteil sorgte; zugleich bereitete die Aussicht auf währungspolitische Stabilität die Basis für die Verschuldung. Negative Realzinsen und aufgeblasene Finanzmärkte ermöglichten die schnelle Expansion der Bauwirtschaft, die in zehn Jahren von 5 auf 13 Prozent des BIP wuchs.

Die "Modernisierung" Spaniens drückte sich seit Beginn der 70er Jahre und besonders mit den Krisen 1984 und 1992 darin aus, dass die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft und in der Industrie zugunsten des Dienstleistungssektors und vor allem des öffentlichen Sektors stark zurückging. Diese als Tertiarisierung bezeichnete Transformation reduziert die strategischen, konjunkturbestimmenden Branchen auf ein Minimum. In der Industrie arbeiten heute noch gut 16 Prozent aller Beschäftigten, in der Bauwirtschaft 13 Prozent. Dem stehen jeweils 30 Prozent in den Bereichen "Handel/Finanzen" und "andere Dienstleistungen" gegenüber. Der aktive Bevölkerungsanteil erreichte mit 60 Prozent eine historische Höchstmarke. Als Ursachen gelten die gestiegene Beteiligung der Frauen am offiziellen Arbeitsmarkt und die Arbeitsimmigranten.

Die mit Wohnsitz registrierte Bevölkerung wuchs von 2002 bis 2008 durchschnittlich um 720.000 Personen jährlich, zu 90 Prozent durch Zuwanderung. Im Jahr 2004 nahm Spanien ein Drittel aller EU-Einwanderer auf - hauptsächlich aus Marokko, Lateinamerika und Osteuropa. Nur durch die massive Arbeitsmigration war die fieberhafte Bautätigkeit mit bis zu 800.000 Wohnungen jährlich möglich.


Die Baubranche...

Die großen Baufirmen sind alle aus Familienunternehmen hervorgegangen, die sich im Filz mit den Parteien entfaltet und unter aggressivem Gebrauch finanzieller Hebel zu global playern entwickelt haben. Fünf der zehn größten europäischen Baufirmen sitzen in Spanien. Sie haben bereits vor Jahren angefangen, ihr Geschäftsfeld zu diversifizieren, um dem drohenden Kollaps vorzubeugen.

Ein gutes Fünftel der Beschäftigten und mehr als ein Drittel des Umsatzes konzentriert sich auf nur 1,1 Prozent der Firmen. Unterhalb dieses starken Konzentrationsprozesses ist die Baubranche aber durch viele kleine und mittlere Unternehmen geprägt, 90 Prozent der Firmen haben weniger als elf Beschäftigte, die durchschnittliche Unternehmensgröße beträgt sogar nur fünf Beschäftigte bei einem hohen Anteil (schein-)selbstständiger Arbeiter. Baufirmen kommen und gehen, allein 2007 wurden 2036 Firmen geschlossen und 20729 neu gegründet bei insgesamt über 500.000 Firmen. Die kaskadenförmige Beschäftigungsstruktur mit vielverzweigten Ketten von Subunternehmen ermöglicht Heuern und Feuern beinahe just in time nach Bedarf - ganz ähnlich übrigens im Transportsektor.


... und ihre Beschäftigten

Die Beschäftigung in der Baubranche hat sich von 1995 bis 2006 mehr als verdoppelt auf 2,6 Millionen bzw. 13 Prozent der Gesamtbeschäftigung. 30 Prozent der Arbeiter sind 16 bis 29 Jahre alt, womit die Branche die jüngste Arbeiterschaft aufweist. Der Immigrantenanteil wird mit 25 Prozent angegeben, ebenfalls Rekord. Für die illegale Beschäftigung werden Zahlen zwischen 500.000 und 1,5 Millionen für den Gesamtarbeitsmarkt gehandelt (23 Prozent des BIP). Der Anteil im Bausektor dürfte relativ hoch sein. 16 Prozent der illegalen Inmigranten arbeiten hier.

Die Zusammensetzung nach Qualifikationen: Verwaltungstätigkeiten und Techniker machen etwa 20 Prozent aus, qualifizierte Arbeiter über 60, Unqualifizierte 15 Prozent. 44 Prozent der Arbeitsverträge sind befristet, 20 Prozent arbeiten als Selbstständige. Die Löhne sind stark differenziert. Qualifizierte Bauarbeiter bekommen etwa 1400 bis 1600 Euro monatlich, was unter dem gesellschaftlichen Durchschnittslohn liegt (Ende 2008: 1692 Euro - Zahlen jeweils in brutto). Techniker oder Facharbeiter verdienen teils erheblich mehr. Bautechniker waren bis zum Kriseneinbruch stark gesucht und konnten große Zuschläge aushandeln. Dennoch gehören die Stundenlöhne auf dem Bau mit durchschnittlich 8,73 Euro zu den niedrigsten; gegenüber 10,43 Euro in der Industrie und 9,61 Euro im Dienstleistungssektor (2005 - neuere Zahlen nicht verfügbar).

Der gewerkschaftliche Organisierungsgrad der Bauarbeiter wird als sehr gering angegeben. Über Arbeitskonflikte in der Bauindustrie dringen nur selten Nachrichten an die Öffentlichkeit. Die außerordentlich hohe Unfallrate hat einige Male zu kürzeren lokalen Arbeitsniederlegungen geführt. Mit 308 Unfalltoten gab es 2005 einen Höchststand (31 Prozent aller tödlichen Arbeitsunfälle). Aber auch seither starben jährlich zwischen 250 und 300 Bauarbeiter.


Kriseneinbruch

Etwa ein Drittel des Bauumsatzes entfällt auf den Wohnungsbau, Investitionen in den übrigen Bereichen sind in großem Umfang Folgeleistungen des Wohnungsbaus. Der Überhang nicht verkaufter Neubauwohnungen wird jetzt schon auf über eine Million beziffert. Dennoch macht sich der Kriseneinbruch erst mit Verzögerung bemerkbar, weil angefangene Projekte in der Regel fertiggestellt werden. 2007 wurden noch fast 10 Prozent mehr Wohnungen fertiggestellt als 2006, während die Bauanträge schon um 16 Prozent fielen. 2008 brachen die Bauanträge um über 70 Prozent ein. Der erste massive Stellenabbau läuft in der Bauplanung und bei kommerziellen Dienstleistungen.

Der Staat versucht mit Kredit- und Mietsubventionen oder Manipulation der Grundstückspreise den Einbruch abzufedern. Investitionsprogramme sollen die Bautätigkeit im Nicht-Wohnungssektor anregen.


Migranten und Junge ohne soziale Netze

Trotz seiner zentralen Bedeutung im hinter uns liegenden Zyklus kam es aus dem Bausektor nicht zu offensiven Impulsen zur politischen Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse. Verhindert haben das anscheinend die prekäre Arbeitsorganisation einerseits und die für Migranten relativ hohen Einkommen andererseits, die über ausgedehnte Arbeitszeiten und leicht zugängliche Kredite verfügbar waren. Bauarbeit ist in unterschiedliche Gewerke organisiert. Spezifische Leistungen werden mit dem Baufortschritt meistens von Kolonnen unabhängiger Firmen erbracht. Diese sind meist wenige Wochen auf der Baustelle. Dieser im Vergleich zur Fabrikarbeit niedrige Grad der Kooperation begründet einerseits die geringere Produktivität (Studien sprechen von bis zu 30 Prozent; allein 15 Prozent Kosten durch Nacharbeit) - andererseits aber auch die elementaren Schwierigkeiten für jede Arbeiterinitiative.

In jedem Fall sind in den vergangenen Jahren Veränderungen in Gang gekommen, für deren Verständnis hier nur erste Materialien geliefert werden können. Anders als aus den Herkunftsländern betrachtet (siehe den Bericht aus Rumänien in diesem Heft!) sieht es hier so aus, dass die Immigranten wohl zum größten Teil hier bleiben werden, weil ihnen die Rückkehr keinerlei Vorteile bietet. Sie sind zu über 50 Prozent befristet beschäftigt, durch die Krise stärker betroffen und bewegen sich im Moment mehr als die autochthone Bevölkerung auf der Suche nach neuen Einkommensquellen.

Der zunehmende Ausschluss der jüngeren Generationen vom Arbeitsmarkt ist ein weiterer Punkt, der einer genaueren Analyse bedarf - wobei hier offensichtlich auch ein Moment der Verweigerung mitspielt. Die Ereignisse in Griechenland haben in Spanien sofort die Alarmglocken schrillen lassen. Werden die Bewegungen der SchülerInnen und Studierenden neue Anstöße geben, die über die Bildungspolitik (Bologna-Prozess) hinausweisen?

Die vielzitierten sozialen Netze, die bisher noch in jeder Krise eine stabilisierende Funktion erfüllten, befinden sich in fortgeschrittener Auflösung. Ein Indikator dafür ist z.B. das Rekordwachstum der inhaftierten Bevölkerung. Von 45.000 im Jahr 2001 ist die Zahl der Häftlinge auf über 72.000 gestiegen und mit 160/100.000 weist Spanien hinter den USA (und vor GB mit 137/100.000) die höchste Rate in der westlichen Welt auf.

Neben den traumatischen Erfahrungen, die das abrupte Ende des Booms auslöst, werden jetzt vielschichtige Prozesse der Neuorientierung beginnen. Eine entscheidende Frage drängt sich in den Vordergrund: Wie kann die gesellschaftliche Reproduktion verteidigt werden gegen die entfesselte Gewalt ihrer ökonomischen Strukturen?


Randnotizen

(1) Die im Vergleich zum Euroraum höhere Inflationsrate bildete die deutlich schneller steigenden nominalen Lohnstückkosten ab. Das Berliner DIW verkündete am 31.5.2007: "Gemessen am Durchschnitt der Eurozone haben sich die Lohnstückkosten seit dem Beginn der Währungsunion im Jahr 1998 bis zum Jahr 2006 in Spanien um gut 16 Prozent erhöht." Einfacher sagt es Ignacio Buqueras, Präsident der Nationalen Kommission zur Rationalisierung der Arbeitszeiten (ARHOE): "Was die Produktivität angeht, ist Spanien Schlusslicht. Das liegt daran, dass die Spanier die bloße Anwesenheit im Job schon für Arbeiten halten."

(2) Thomas Fricke schrieb am 22.10.2004 in der FTD: "Wie fortgeschritten Spaniens Aufschwung bereits ist, lässt sich an Dingen erahnen, die auch das Ende des New-Economy-Booms prägten. Alles scheint möglich und bezahlbar, auch bei der Beschäftigung. Die Firmen verdienen so gut, dass Jobs bezahlt werden, die in Deutschland vor lauter Krise längst wegrationalisiert sind. Da stehen an einer Supermarktkasse schon einmal zwei Kassiererinnen, während Obst und Gemüse eigens von einer Arbeitskraft gewogen werden. Schluss mit Selfservice. Es wimmelt von Leuten, die mehr oder weniger unqualifiziert mehr oder weniger sinnlose Jobs machen. Kein Wunder, dass Spaniens Produktivität seit geraumer Zeit um jährlich weniger als ein Prozent zulegt."

(3) Nach einer Studie der Weltbank liegen die Abfindungskosten in Spanien bei 56 auf einer Skala bis 100; zum Vergleich: OECD 25, USA 0, GB 22, BRD 69.

(4) Sony hat für die Fernseher-Produktion im Werk bei Barcelona nach Drohung mit Kurzarbeit, Entlassungen und Verlagerung in das zweite europäische Werk in der Slowakei den über 1000 Beschäftigten für eine zweijährige Standortgarantie eine Ausdehnung der Arbeitszeit um 40 Stunden und Arbeitszeitkonten von 60 Stunden pro Jahr und einen Lohnstopp bis 2010 abgerungen. Außerdem werden 185 Logistik-Arbeitsplätze ausgelagert, 93 Leute gehen "freiwillig". Darüber hinaus hat die katalanische Regierung Subventionen für technologische Entwicklung zugesichert.

Nissan droht, die Hälfte der 3332 ArbeiterInnen im Werk bei Barcelona zu entlassen. Die Verhandlungen hängen im Moment in der Luft; die Produktion stand eine Weile still, weil ein Zulieferer für Sitze pleite gegangen war.

Raute

Dequalifizierung - Proletarisierung - neue Konfliktwege

Seit dem letzten Gespräch mit den Aktivisten bei der Bahn haben sich die Bedingungen stark verändert. Im Güterverkehr hat die Krise massiv zugeschlagen, schon im Dezember lagen 40 Prozent der Kapazitäten brach. Die Just in time-Produktion der hochproduktiven Exportbranchen wird an strategischen Punkten über den Schienenverkehr organisiert. Mit dem Einbruch in der Auto-, Stahl- und Chemieproduktion verloren die Streiks der Bahner ihr großes Droh- und Blockierpotential. Auf einen Schlag fuhr beispielsweise kein Güterzug mehr Erzlieferungen nach Eisenhüttenstadt. Lohnverluste haben die Bahner dadurch noch keine, weil sie die erheblichen Überstunden aus den vergangenen Monaten abfeiern.

In Berlin-Brandenburg werden in diesem Jahr mit 23000 km große Streckenteile des Regionalverkehrs per Ausschreibung vergeben, maximal drei dieser Pakete dürfen an denselben Anbieter gehen. Nachdem DB Regio Nordost seit 2001 durch den Abbau von über 1000 Arbeitsplätzen zum produktivsten Bereich der DB Regio AG in ganz Deutschland geprügelt worden ist, ist nun erneut Stellenabbau zu erwarten. Aber hinter den großen Schlagzeilen über die Privatisierung der DB versteckt sich eine massive Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Der Intensivierung hat der GDL-Streik 2008 nichts entgegengesetzt.

Die "Beschäftigungssicherung" wird von Versetzungsandrohungen und Jagd auf Kranke unterlaufen. Der durch Produktivitätssteigerungen, Streckenstillegungen und Fremdvergabe erzeugte rechnerische Stellenüberhang ist die eine Seite der Medaille - Stress und Krankheit sind die andere.

Vor diesem Hintergrund spielte sich die letzte Tarifauseinandersetzung ab, in der Transnet und GDL scheinbar die Rollen getauscht hatten. Die Transnet versuchte über Mitgliederbefragungen, den Austausch der Führung und die Forderungnach einer 10-prozentigen Lohnerhöhung an Legitimität zurückzugewinnen. Sie ist die mit Abstand größte Gewerkschaft im Bahnkonzern und auf Gedeih und Verderb mit diesem verbandelt (viele Funktionäre bekleiden bei der Bahn eine Leitungsfunktion). Aber in Folge des Streiks 2008 sind 9000 ihrer Mitglieder ausgetreten und über die Hälfte der Verbliebenen befinden sich im Ruhestand.

Die GDL forderte 6,5 Prozent mehr Lohn sowie einen unkonkreten Jahresruhetageplan und spielt sich als vernünftiger Tarifpartner auf. Zur Erinnerung: die Durchsetzung eines Jahresruhetageplans hatte bei der S-Bahn zum "Berliner Modell" des kollektive Krankschreibens geführt. Wie unsere Interviewpartner richtig eingeschätzt haben, hat diese Tarifauseinandersetzung keinen Raum für eine Mobilisierung der KollegInnen aufgemacht. Den täglichen Auseinandersetzungen mit einer kontrollwütigen Geschäftsleitung, den Erpressungen mit Fremdvergaben und den Krisenauswirkungen müssen die Bahner ohne Institutionen begegnen.

Mitte Januar haben wir unser Gespräch mit den Aktivisten über die Kampf- und Organisierungsmöglichkeiten fortgesetzt. Der Kriseneinbruch macht die Grenzen der embryonalen betrieblichen Gegenstrukturen schmerzlich bewusst: Leiharbeiter und Befristete fliegen raus, die anderen sind auf Kurzarbeit und kommen im Produktionsprozess kaum noch zusammen. Wie können wir uns unter diesen Bedingungen gemeinsam wehren oder gar durchsetzen?


*


Früher gab es ein ordentliches Standesbewusstsein unter den Bahnern, man war zusammen im Verein, hat im Haus vom Eisenbahnbauverein gewohnt usw. Heute behandelt man Euch stattdessen als ganz normale Malocher...

Kai: Viele sehen die Zeiten von heute aus ein bisschen zu goldig, aber es stimmt: bei der Reichsbahn brauchtest du dir um existenzielle Sachen keinen Kopf machen.

Rolf: Es gab höchstens betriebliche Probleme, dass der Ölstand nicht stimmte, die Maschine nicht vernünftig gewartet war...

Kai: Dagegen waren z. B. die Prüfungen sehr viel schärfer als heutzutage - die haben ja die Lok nochmal neu erfunden. Früher musstest du die Öllaufpläne, die Stromwege von 1-700 usw. auswendig kennen. Heute bist du nur noch Bediener: "da hast du einen Knopf, den Rest sagt dir das Display". Und danach wollen sie uns auch bezahlen. Das schmerzt viele, dass wir zum normalen Malocher werden. Früher hatte der Lokführer einen höheren Stellenwert...

Rolf: ...und ist mit Problemen erstmal zum Chef, zum Vorgesetzten gegangen. Heute motzen die Kollegen erst über das Unternehmen, dann über die Teamleiter.

Wenn die Leute wie ganz normale "Malocher" behandelt werden, verhalten sie sich dann nicht auch irgendwann wie ganz normale Malocher?

Rolf: Ja klar handeln sie wie ganz normale "Malocher". Die Kollegen tun nur noch das Notwendigste, damit die Chefs einem nicht ans Bein pinkeln können. Der zunehmende Druck durch das Unternehmen erzeugt Gegenwehr. Aber für die Art und Weise der Gegenwehr haben die Kollegen immer weniger Antworten und suchen diese bei anderen. Derzeit immer noch bei den Gewerkschaften und Betriebsräten. Da sie aber von dort keine Antwort bekommen, stehen wir im Dialog mit den Kollegen in einer wichtigen Position. Auch die Geschäftsleitung macht eigentlich nur genau die Arbeit, für die sie bestellt sind. Unsere Arbeit ist eine andere: die Bahn am Rollen zu halten - eine Arbeit, die viele Kollegen nach wie vor als wichtig ansehen. In diesem Verhältnis bewegt sich die Frage: was können wir tun?

Wie tief geht die Krise der Transnet?

Rolf: Seit dem Streik laufen ihr die Mitglieder davon, und seit dem Hansen-Überlauf hat sie ein Legitimationsproblem.

Kai: Aber solange der Konzern hinter ihr steht, ist das kein wirkliches Problem. Die Bahn wird weiterhin viel Geld reinpumpen, damit die Transnet so funktioniert, wie sie für die Bahn funktioniert hat.

Rolf: Aber sie muss in ihrer Funktion unter den Arbeitern noch existent sein. Sonst hat das Unternehmen es auch schwer, seine Programme und Ideologie durchzukriegen. Sorum ist der Kampf um die Mitglieder wichtig.

Kai: Stimmt! Wenn ein Gewerkschafter kommt: "Wir haben eine Beschäftigungssicherung ausgehandelt, mehr war einfach nicht drin", dann klingt das für einen Malocher anders, als wenn der Chef ankommt: "Ihr müsst jetzt auf 300 Euro verzichten, aber dafür sichern wir Eure Arbeitsplätze". Das ist ja eigentlich die Funktion der Gewerkschaft. Ohne das Vertrauen in die Gewerkschaft gibt's natürlich für das Unternehmen die Gefahr, dass die Leute überlegen könnten, sich selbst zu organisieren. Wenn man den BVG- und den GDL-Streik miteinander vergleicht, kann man sagen, dass bei uns mehr gelaufen ist, weil die GDL so ein kleiner Apparat war und uns Freiraum lassen musste. Das war die Lücke, in die wir stoßen konnten.

Macht die aktuelle Tarifauseinandersetzung Raum auf für eigenständige Aktionen?

Rolf: Ich sehe geringe Möglichkeiten für eine eigenständige Dynamik, da die Transnet organisatorisch viel besser aufgestellt ist, straff vorgeht und nicht viel Eigeninitiative duldet. Und sie wird dem Unternehmen die Hand reichen für die Ausfälle im letzten Jahr und die kommenden harten Zeiten. Die haben ihre Eigenständigkeit, sind als Sozialpartner anerkannt, verhandeln mit Unternehmen und Politikern, da wird nichts kommen. Es wird maximal nen Warnstreik geben und dann werden die Leute isoliert auf ihren Zügen sein.

Könnt Ihr Eure Erfahrung und Lehren aus dem letzten Streik einbringen?

Kai: Wohl kaum, wir werden diesmal nicht die Gelegenheit haben, mit den KollegInnen zusammenzukommen. All das, was wir uns beim letzten Mal vorgenommen haben, wird es in diesem Warnstreik nicht geben: ein gemeinsames Streiklokal organisieren, eigene Öffentlichkeitsarbeit, von da aus weitere Schritte und Aktionen mit den KollegInnen entwickeln...

Rolf: Es wird eher in Richtung Transnet gehen müssen diesmal. Wir müssen unsere Kontakte zum Aufsichts- und Werkstattpersonal pflegen. Durch den Standpunkt können wir Diskussionen auslösen oder unterstützen. Wir berichten über Missstände, haben Artikel zur Privatisierung oder den Ausschreibungen. Die politischen Diskussion laufen in den vielen "individuellen" Diskussionen, die werden wir erst gemeinsam führen können, wenn wir in einer Kampfsituation zusammen kommen. Das macht die aktuelle Situation für uns so schwierig.

Im gewerkschaftlichen Streik kann eine Lücke für eigenständiges Handeln entstehen, doch man bleibt auch abhängig von der gewerkschaftlichen Tarifverhandlung. Habt ihr mal überlegt, wie ihr entlang des vorhandenen Frusts und der Verschärfungen der Arbeitsbedingungen zu eigenständigen Aktionen kommen könnt?

Kai: Gerade ist eine Frust-Phase. Wir zehren noch vom Streik und der Bewegung, aber es kocht runter. Die Leute meckern zwar und es gärt in ihnen, aber mit zwei, drei Leuten brauchste erst gar nicht anfangen. Die drücken dich gegen die Wand. Da hast du die Gewerkschaften, das Unternehmen gegen dich und dann vielleicht noch ein paar Kollegen, die sich profilieren wollen. Ab zehn hast du vielleicht eine Größe, mit der du was erreichen kannst. Aber zehn Leute zusammen zu bekommen, kann ich mir gerade kaum vorstellen. Es müsste schon was sein, wo man selbst mit drinsteckt, wo man nicht so raus sticht. Eine Explosion nach dem Motto: "Die wollen uns optimieren, jetzt optimieren wir mal unsere Arbeits(Kampf)kraft."

Dazu kommt, dass mit der Krise plötzlich wieder ein Überhang an Lokführern da ist. Jetzt gibt es in fast jeder Region Sozialpläne, selbst in Lehrte, das war immer eine Bedarfsregion, sind plötzlich zuviel Leute. Noch haben sie alle Überstunden, um zu puffern, aber wenn es sich noch ein Jahr zieht, dann werden wir rostende Gleise bekommen, wie nach der "Wende" im Osten. Im Westen sind einige Strecken von ein oder zwei Großunternehmen abhängig, wenn z. B. ein Hochofen runtergefahren wird, ist die gesamte Strecke tot.

Betreffen die Verdichtungen und Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen alle gleich? Ist darüber ein Zusammenkommen möglich oder gibt es (neue) Spaltungen, die genau das verhindern?

Rolf: Die Spaltung bestand bisher immer nur auf Grundlage der Gewerkschaften und den dazu gehörigen unterschiedlichen Tarifverträgen. Aber die Verdichtung und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen schweißt uns wieder zusammen. Die Mehrheit der Kollegen versteht den Krieg der Gewerkschaften nicht mehr und will ihn auch nicht hinnehmen. Allein die Funktionäre in den oberen Etagen der Gewerkschaften sehen diesen Krieg als wichtig an. An der Basis hält man mehr und mehr zusammen. Auch durch zunehmende Diskussion über die Arbeitsbedingungen halten die Kollegen mehr und mehr zusammen. Viele alten Denkweisen der Gewerkschaften müssen aber noch beiseite gerückt werden.

Was diskutieren die KollegInnen und wie reagieren sie auf die permanenten Verschlechterungen?

Rolf: Ich setze immer auf die Fragen: "Wer weiß denn, wie eine Weiche umzulegen ist?" und "Wer versteht denn was von der Eisenbahn, wer fährt denn?" Der Mut kommt durch das Verständnis. "Wer ist denn dafür verantwortlich?"

Kai: Da reagieren die Leute dann drauf "Pff, die haben es so gewollt, lass die mal machen." Widerstand ist jetzt Dienst nach Vorschrift. Im Sommer sind wieder massenhaft Dieselloks wegen Spritmangel liegen geblieben. Obwohl die Leute genau wissen, wenn die Klimaanlage an ist, dann ist die Strecke nicht zu schaffen. Nun hätten sie die Möglichkeit, den Füllstand nachzugucken, doch dann bleiben die Züge 30 km vorm Ziel liegen: "Ist mir doch egal".

Rolf: Darüber sind wir bei der S-Bahn hinaus, ist mein Eindruck. Die Existenz hängt an Verkehrsverträgen, das Unternehmen wird gegen die Wand gefahren und wir haben darunter zu leiden. Ausschreibungen und neue Anbieter - das heißt sicherlich auch niedrigere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen. Das hat Folgen für uns. Darauf haben wir keine Antwort!

Kai: Lokführer werden sie auch weiterhin brauchen und unsere Löhne werden auch bei der Bahn AG gesenkt. Also ist es egal, welche Farbe die Loks haben: gelb, rot oder blau. Aber offenen Widerstand sehe ich nicht.

Rolf: Ich würde es schon einigen Kollegen zutrauen. Da wundert man sich manchmal, wie offen die Diskussionen sind. Es bringt ja auch nichts, den Kollegen vorzuschreiben, was sie machen sollen, sie müssen schon selbst drauf kommen.

Gruppe "Standpunkt" weiteres Material auf
http://www.netzwerkit.de/projekte/standpunkt-gruppe

Raute

TRUST

1986 kam es in Heidenheim zu einem Zusammenschluss süddeutscher Punk-Aktivistinnen, die keine Lust mehr auf den destruktiven Deutsch-Punk mit seinen immergleichen Parolen hatten und mehr auf den neuen und wilden Sound aus den USA - Hardcore-Punk, noch schneller wie Punkrock und mit konstruktiver, positiver, anfangs aber auch undogmatischen Message - abfuhren. Ein regelmäßig erscheinendes Info-Fanzine, mit professionellem Vertrieb, non-profit, Format: DIN A4, wurde gegründet: das TRUST Fanzine (www.trust-zine.de), wobei Trust einerseits für "Kartell" und andererseits natürlich für "Vertrauen" als wichtige Grundidee von Punk stehen soll. Die erste Trust-Ausgabe # 1 erschien im Juni 1986, seitdem kommt das Heft bis heute alle zwei Monate Deutschlandweit über Szenestrukturen und seit einigen Jahren auch über den Bahnhofskiosk-Vertrieb heraus. In guter alter linker Tradition zerstritt sich das Gründungskollektiv des TRUST mit der Zeit. Einige alte Macher machen zusammen mit einer sich regelmäßig erneuernden Schreiber-Generation das Heft weiter, brachten verschiedene Schwerpunktausgaben (zu "Fotos", "Drogen", "Sex" und "Arbeit") heraus und überlebten Nirvana, Green Day, das Internet und den Tod von Joey Ramone.

2009 besteht das Trust Fanzine aus ca. 30 Leuten, die sich aufgrund ihres Alters, Bildungsgrades, Berufs, ihrer Ansichten, Geschmäcker, Lebensweisen, Wohnorten usw. sehr stark unterscheiden. Zwei Grundsätze, die alle verbinden, sind:

1) In einer kapitalistischen Gesellschaft werden alle Lebensäusserungen zur Ware, so auch selbstverständlich die (Sub-)Kultur. Musik wird nicht gemacht, weil ein Musiker Lust darauf hat, Ideen vermitteln will usw., sondern weil Profit gemacht werden soll. Es gibt ganz wenige originelle Bands. Und es gibt sehr viele "Künstler", die ihr Hobby - Musik machen - als wichtiger ansehen, als andere Hobbies wie Briefmarken sammeln. Daraus entstehen dann interessante Verhaltensweisen: während der Briefmarkensammler genauso wie der Bandmusiker all seine freie Zeit und Geld in sein Hobby reinbuttert, wird man von ersterem nie hören, dass er irgendwann das Recht hat, von seinem Hobby zu leben. Das wiederum hört man jedoch sehr oft von "Musikern". Dies gilt es, immer wieder kritisch zu beleuchten. Wenn eine Platte besprochen wird, dann wird das geschrieben, was der jeweilige Rezensent ehrlich dabei empfindet. Das wird gedruckt, egal, ob die Platte auf einem Label erschienen ist, dass gerade eine große Anzeige im Heft hat. Das heißt: Keinerlei redaktionelle Beeinflussung seitens Anzeigenkunden. Was im Heft steht, steht im Heft, weil die am Heft Beteiligten das wollen und nicht, weil eine Plattenfirma eine Anzeige gegen Interview geschaltet hat. Usw.

2) Nicht jede Trust-Ausgabe ist die beste der Welt. Der Grundsatz des "regelmäßig alle zwei Monate erscheinenden Info-Fanzines für Punk, HC, Underground-Musik, die sie stützende Subkultur plus ergänzende Berichte über Politik, Kunst usw." ist es jedoch.

Jan / Trust Fanzine

Raute

Impressum:

Eigendruck im Selbstverlag, V.i.S.d.P.: P. Müller

Abo: 6 Ausgaben (incl. Versand)
Deutschland und Österreich 18 Euro / Ausland 30 Euro
Förderabo 30 Euro
Einzelheft: Deutschland und Österreich 4 Euro
sonstiges Ausland 5 Euro (zzgl. Versand)
Für WeiterverkäuferInnen:
8 Exemplare des aktuellen Heftes (incl. Versand)
Deutschland und Österreich 16 Euro
sonstiges Ausland 20 Euro

Bestellung per
Brief: Wildcat, Postfach 80 10 43, 151010 Köln
E-Mail: versand@wildcat-www.de
oder per Aboformular auf unserer Webseite.

Kontakt: redaktion@wildcat-www.de

Archiv und Aktuelles
www.wildcat-www.de


*


Quelle:
Wildcat 83 - Frühjahr 2009
E-Mail: redaktion@wildcat-www.de
Internet: www.wildcat-www.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. März 2009