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WILDCAT/022: Ausgabe 87 - Sommer 2010


Wildcat 87 - Sommer 2010



Inhalt:
Nachruf auf Romano Alquati
Editorial
Aktionen in Bremen -
Interview zu Flashmobs, Blockaden usw.
Leiharbeit ist Scheiße
Interviews mit Leiharbeitern Schoko-Riegel und Schoko-Igel
Autoindustrie: "Wir sind nicht am Ende, wir fangen an!"
"Phase 3": Im Vorhof der Hölle
Notizen zu Großbritannien
"Lieber arbeitslos in Irland als Arbeiter in Polen"
Interviews mit Wanderarbeitern
Der iranische Aufstand vom Bahman 1357 (Februar 1979)
Indien: Die Strategie der Strohhalme
Griechenland
Chronologie der Krise
EU, Sparpolitik und die Linke
Kritische und erstickende Zeiten
Wir sind ein Bild der Zukunft
Buchbesprechungen:
Robert Brenner: The Economics of Global Turbulence
George Caffentzis: Der Marxismus nach dem Untergang des Goldes
Raúl Zibechi: Die Zersplitterung der Macht
Uruguay: Ein Land in Bewegung
Was bisher geschah...
Staatsschuldenkrise -
Euro-Krise - Globale Dimension
Spanien
China Update
Wuppertal - eine Stadt im Spartaumel

Raute

Zur Erinnerung an Romano Alquati

Von Sergio Bologna

Ich hatte seit etwa 30 Jahren keinen Umgang mehr mit Romano und weiß nur wenig über seine Tätigkeit als Dozent. Doch erreichten mich hin und wieder Signale und Botschaften von seinen Schülern, gewöhnlich Leute, die dank seiner Lehre "mehr drauf hatten". Deshalb scheint mir der beste Weg der Erinnerung zu sein, wenn ich in die Zeit zurückgehe, in der auch ich wohl oder übel von ihm und von den Genossen lernte, die die "Quaderni Rossi" auf die Beine gestellt hatten. Dabei kann ich nur wiederholen, was ich schon an anderer Stelle berichtet habe: Bei den Vollversammlungen der "Quarderni Rossi" habe ich kaum den Mund aufgemacht. Ich sprach nur, wenn ich dazu aufgefordert wurde. In der Mailänder Gruppe habe ich mich dann sogar ziemlich ins Zeug gelegt. Aber letztlich waren die Jahre bei den "Quaderni" für mich Bildungsjahre [im Original deutsch].

Und damit komme ich zur conricerca. Es ist gar nicht so leicht zu sagen, was dieses Wort bedeutet. Denn es handelt sich zwar um eine Technik, aber eine, die nicht formalisiert ist und vielleicht auch gar nicht formalisierbar ist. Wenn wir sie als Methode, als Ansatz bezeichnen, verflüchtigt sie sich. Versuchen wir deshalb, durch Exklusion an sie heranzukommen. Die soziologische Untersuchung kann formalisiert werden, besser noch: sie kann auf ein Verfahren reduziert werden, man hat dann eine Methode, ein Denksystem aufzuweisen. Auch die Methode der Oral History kann formalisiert werden in einer Reihevon Vorschriften, von der Technik her kann sie sogar auf einen Leitfaden reduziert werden.

Es ist klar, dass keiner dieser Ansätze Romano interessieren konnte, auch wenn er sie gut kannte und alle nützlichen Elemente herauszog. Aber ihm dürfte jeglicher fachorientierte Ansatz viel zu eng gewesen sein. Denn er und Viele seiner Generation hatten weniger ein Bedürfnis nach Erkenntnisinstrumenten; ihre Identität fanden sie in einem anmaßenden und hart erkämpften Bedürfnis nach Befreiung aus der Enge der inzwischen abgeschlossenen Geschichte des Konflikts zwischen Faschismus und Antifaschismus, des republikanischen Italiens, des Konflikts zwischen der Christdemokratischen und der Kommunistischen Partei. Die Konflikte waren anders gelagert, der globale Zyklus war ein anderer. Es handelte sich um eine gewichtige Angelegenheit, sie war so gravierend wie Jahre später der Fall der Berliner Mauer. Um die Konturen des neuen historischen Zyklus zu verstehen, in ihm vollkommen heimisch zu werden (das meine ich mit dem Bedürfnis nach Identitätsfindung), entschieden sich Romano und vor ihm Danilo Montaldi dem Alquati aus meiner Sicht außerordentlich viel verdankt - den "Kommenden Menschen" (L'uomo che verrà) zu erforschen, um auf den Titel eines erfolgreichen Films zurückzugreifen. Damit meine ich Folgendes. Wenn Danilo mit einem Basismilitanten oder mit Menschen aus der Mailänder Peripherie sprach, oder wenn sich Romano mit einem Stahlarbeiter unterhielt, der ebenfalls noch mehr oder weniger in die bäuerliche Welt eingebunden war, setzten sie ein vielfältiges System von Bewußtseinsstrukturen, Erinnerungen, Wahrnehmungen, Affekten, Lektürefetzen und Erfahrungen frei. Sie öffneten eine kleine "Büchse der Pandora", und heraus kamen Hinweise zu Fragen wie etwa: "Wer sind wir?" "Wie funktioniert diese Bruchbude eigentlich?" "Wer und was hindert uns eigentlich daran, frei zu sein?" "Wer legt uns da rein?" "Was sind die wichtigen Dinge, mit denen wir es auch in 30 Jahren zu tun haben?" "Unterdrückt uns die Technik nur, die wir anwenden, oder gibt sie uns auch bessere Werkzeuge in die Hand?" "Einen wie großen Teil deiner Erinnerung trage ich in mir, ohne es zu wissen?" "Um zurechtzukommen, um mich zu verteidigen, habe ich dies und dies gelernt", usw. usw. Das alles sind Dinge, die man in der Definition "Erforschung der Subjektivität anderer" zusammenfassen könnte. Ich glaube jedoch, dass sie zuallererst zur Klärung der eigenen Identität beitragen sollten, um selbst in einer Welt heimisch zu werden, deren Konturen sich klärten, je mehr der Dialog und die Teilnahme am Leben der Arbeiter voran kamen. Wer wirklich Mit-Untersuchung betreibt, nimmt sich selbst nie als "Forscher" wahr und hält sich nie für etwas "Anderes"; "anders" als die Person, mit der man spricht. Grundsätzlich geht es ihm nicht an erster Stelle um die Kenntnis der formalen Strukturen einer Disziplin oder einer Forschungsmethode. Er strebt vorrangig nach einem bestimmten Verhalten und einem Gesprächsstil, nach Verbundenheit und Komplizenschaft. Es ist eine Haltung, in der ich meine ganze eigene Schwäche und Unsicherheit ins Spiel einbringe, wobei sich die unklaren Ideen über die eigene Identität und die eigene historische Verortung allmählich aufklären. Es muss im selben Augenblick ein Habitus der gleichen Augenhöhe und der Distanz sein, nichts ist schlimmer als eine schleimige Beziehung; der Respekt vor den Anderen erfordert Distanz. Und hier zeigt sich, wem es gegeben ist, wer über die menschliche Substanz, die Sensibilität, die Intelligenz und die Leidenschaft verfügt, und wer sie nicht hat oder diese Qualitäten in anderen Feldern auszudrücken vermag. Romano war ein solcher Mensch, und hier war er unnachahmlich.

Auf diese Weise konnte er sehen, was andere nicht sehen konnten. Er sah die Bedeutung von Sachverhalten in Zusammenhängen, wie sie andere nicht wahrnahmen oder unterschätzten. Beispielhaft dafür ist seine Analyse der "Passivität der Arbeiterklasse". Für die traditionalistischen Dummköpfe existierten die Arbeiter nur dann, wenn sie kämpften. Die langen Perioden der Passivität der Arbeiterklasse in ihrer positiven oder noch besser in ihrer ambivalenten Bedeutung zu lesen, war ein großer Schritt vorwärts, um auch bestimmte historische Zeitabschnitte besser zu erforschen - man denke nur an das Problem des Konsenses während des Faschismus. So hat uns Romano gelehrt, die Nuancen, Facetten und die enormen Differenzierungen innerhalb des Körpers der Arbeiterklasse wahrzunehmen. Daraus entstand das Konzept der Klassenzusammensetzung, das sich dann als außerordentlich nützlich erwiesen hat, um nicht in jene sinnlosen Verallgemeinerungen zu verfallen, die nachgerade die Negation sowohl der Untersuchung als auch der Initiative darstellen. Der industrielle Konflikt startet in der Tat immer in einer spezifischen Situation. Um von den allgemeinen Ausbeutungsbedingungen (Löhne, Arbeitstempo, Arbeitszeit, Umwelt, Gefahr), die sozusagen die konstante Grundlage des Konflikts darstellen, zur Sache zu kommen, braucht es etwas Spezifisches, Exemplarisches.

Zwei Aspekte möchte ich noch hinzufügen. Romano hat uns durch die Tätigkeit der Mit-Untersuchung nicht nur gelehrt, die Rolle des "Forschers" zu vermeiden, er hat uns nicht nur gelehrt, eine formalprofessionelle Rolle beiseite zu schieben, um weitaus höhere und langfristige Ziele zu erreichen. Er hat uns auch gelehrt, das Konzept der "Führung" durch das Konzept des "Dienens" zu ersetzen. Er hat nie daran gedacht, "Führer" der Arbeiterklasse zu sein, noch solche auszubilden, und dadurch hat er die Nabelschnur zur kommunistischen Kultur und Tradition zerrissen. Er hatte im Kopf jedoch klar, dass es Leute gibt, die in der Lage sind, "zu ziehen", die klarere Gedanken haben als die anderen, die weiter voraus blicken, während das andere nicht tun. Es war ihm keinen Pfifferling wert, "für alle zu schreiben". Er hatte eine ganz und gar eigene Sprache entwickelt, einen unnachahmlichen Schreibstil. Gut für den, der ihn nachvollziehen konnte, Pech für den, der ihn abstrus fand. Offenkundiges Merkmal eines "schwierigen Charakters", wie man das so nennt. Aber gerade deshalb war er für die, die ihn gekannt haben, nicht nur ein gesuchter Lehrer, sondern sie mochten ihn auch.


Der italienische Originaltext wurde zuerst auf der Website der "Libera Università die Milano e del suo Hinterland" (LUMHI) veröffentlicht.

Raute

EDITORIAL

Topkill, Core-Exit

"Auch in Deutschland ist Griechenland"

Die griechischen Reeder hatten schon wieder zugekauft, Containerschiffe. "Schnäppchen" seien das gewesen. Kein Wunder! Als "antizyklische Investoren" hatten die doch schon immer den besten Riecher! Und beinahe wäre die Krise so wie die letzten Male ausgegangen: Kurzarbeit, extreme Arbeitsverdichtung und sozialverträglicher Arbeitsplatzabbau auf der einen - massive Kürzungen und Verbrauchssteuererhöhungen auf der anderen Seite. Und bevor sich noch was auf breiter Front dagegen tut, basteln sie mit Vervielfachung der Kredite einen neuen kleinen Aufschwung hin. Dann kämpfen die einen gegen Arbeitsplatzabbau und Kürzungen, während andere bereits wieder im "Aufschwung" stecken, oder zumindest daran glauben, dass ein solcher ihre eigene Situation erleichtern wird.

Beinahe, denn dann kam "Griechenland" dazwischen. Der dritte Kriseneinbruch führte in den letzten Wochen zu Panik und Hektik; die Rede war von "Notstand", verabschiedet wurde ein "Kredit-Ermächtigungsgesetz" (ohne Rücksicht auf historische Anklänge). In der Bundesregierung, in der EU und im deutsch-amerikanischen Verhältnis wurde auf offener Bühne gestritten und gekeift.

Woher die Aufregung? An den Summen kann es nicht liegen. Die BRD bürgt bei der sogenannten Griechenlandrettung lediglich für soviel, wie sie zuvor bereits real in der HRE-Bank versenkt hatte. Griechenland hält weniger als ein Prozent der weltweiten Staatsschulden, produziert gerade mal 2,5 Prozent vom BIP der Eurozone, und nur 0,8 Prozent der deutschen Exporte gehen dorthin...

Aber "Griechenland" ist nicht Ursache, sondern Symptom der Staatschuldenkrise. Die Einschläge kommen nicht nur näher, sie sind ganz deutlich ein globales Problem. Und zum ersten Mal in dieser Weltwirtschaftskrise steht ganz offen der Klassenkampf im Zentrum der Auseinandersetzung - und könnte ansteckend wirken. Deshalb "erschrecken die Märkte" manchmal vor dem Problem, manchmal vor seiner vermeintlichen Lösung. Zuviel "Blase" in Asien oder zu starkes Abbremsen? Zuviel Verschwendung in Spanien oder drohende Deflation? Und deshalb sind die Herrschenden seit Wochen so hypernervös. Diese Krise ist nicht politisch regulierbar.

Bubble in Asien, marode Banken in Europa, Berge an "toxischen" Hypotheken in den USA, titanische Staatsverschuldung. Zusammen mit dem Wissen über ihre Unlösbarkeit ist auch das Bewusstsein über den globalen Charakter der Krise zurückgekehrt. Und Fragen wie die "auf die Renten- und Krankenkassen der alternden Industrienationen zurollende Anspruchslawine" verbinden tendenziell den griechischen Rentner mit der amerikanischen Autoarbeiterin.

(Zur Krise weiter lesen auf Seite 70 der Printausgabe)


updates

Zu Zeiten des letzten Irakkriegs hatten viele Experten den peak oil für 2010 vorausgesagt - die Ölmultis stemmten sich dagegen u.a. mit Tiefseebohrungen und der Förderung von Ölsanden in Kanada. Am 2. September 2009 stellte BP der Presse einen "gigantischen Fund" vor, im Tiber-Feld im Golf von Mexiko sollen 4 bis 6 Milliarden Barrel Erdöl unter der Meeresoberfläche lagern. Die BP-Aktie stieg an einem Tag um 3,7 Prozent.

Um das Feld für die Ölförderung zu erschließen, wurde ein über 10.000 Meter tiefes Bohrloch in einer Meerestiefe von 1260 m angelegt, die weltweit tiefste Bohrung ihrer Art.

Am 20. April kam es auf der Ölbohrplattform Deepwater Horizon zu einer Explosion. Elf Arbeiter starben, 115 konnten sich retten. Zwei Tage später versank die Plattform. Seither laufen täglich nach Angaben von BP etwa 5000 Barrel (ca. 800.000 Liter), nach Berechnungen unabhängiger Forscher knapp acht Millionen Liter Erdöl ins Meer. BP versprühte nach eigenen Angaben in einem Monat über zwei Millionen Liter des Lösungsmittels Corexit.

Der Aktienkurs von BP ist seither nur um 23,6 Prozent gefallen. Der Konzern gibt seine bisherigen Kosten der Katastrophe mit "lediglich eine Mrd. US-Dollar" an. Nicht viel vor dem Hintergrund von 6,2 Mrd. Dollar Gewinn allein im ersten Quartal 2010. Gerade BP hatte propagandistisch das Zeitalter "Jenseits des Öls" ausgerufen und sein Kürzel als "Beyond Petrol" vermarktet.

Nun wurde öffentlich diskutiert, was sowieso schon alle wussten: die US-Behörden sind engstens mit "Big Oil" verklebt und hatten auf Auflagen und Überprüfungen - nicht nur in diesem Fall verzichtet. Bis Ende Mai konnte der Konzern sogar Vor-Ort-Untersuchungen durch unabhängige Experten über die auslaufenden Ölmengen verhindern! Am 26. Mai versuchte er mit "Top Kill" das Loch zu verschließen - vergeblich.

Die Pleite eines Öl-Multis? Das Tschernobyl der Öl-Industrie? Oder nur Obamas Katrina?

In den sechs Wochen seit dem 20. April sind weitere, weltbewegende Dinge passiert - nein, wir meinen nicht Lena und gogoKöhler. Zum Beispiel sehen viele den 27. April 2010 als Anfang vom Ende des Euro in die Geschichtsbücher eingehen. Denn an dem Tag griff die "Griechenlandkrise" auf Portugal und Spanien über.

Am selben Tag veröffentlichte die Deutsche Bank erneute Supergewinne. Ihre Gewinne sind die Verluste Griechenlands und mussten am 9. Mai mit einem gewaltigen, ebenfalls geschichtsträchtigen Euro-Bailout von insgesamt 860 Mrd. Euro abgefangen werden. Goldman Sachs und die Deutsche Bank hatten sowohl Griechenland wie der BRD geholfen beim Schummeln mit den Maastricht-Kriterien und waren dort dementsprechend stark "engagiert".

Ebenfalls am 27. April sahen die Topmanager von Goldman Sachs gar nicht gut aus. Sie mussten sich vor dem Untersuchungsausschuss des US-Senats dafür rechtfertigen, wie sie die Krise verschärft und damit viele Milliarden verdient hatten. Sie hatten ein "strukturiertes Produkt" nur zu dem Zweck aufgelegt, es pleite gehen zu lassen, und waren dann eine Wette gegen ihre eigenen Kunden eingegangen, u.a. die IKB-Bank in Düsseldorf und Bear Stearns, die beide später bankrott gingen.

Logisch, in dermaßen rasanten Zeiten mussten wir so ziemlich alles umschreiben und bringen zum wiederholten Mal Aktualisierungen zu Artikeln aus den letzten Heften. Das hat den Vorteil, dass wir Euch sehr aktuell auf dem Laufenden halten können mit Analysen und Einschätzungen, vor allem aber mit Material. Es hat aber den Nachteil, dass man die vorhergehenden Artikel gelesen haben sollte, bzw. zur Hand nehmen muss. Das gilt vor allem für die folgenden Artikel:

- Zu China haben wir die neuesten Zahlen verarbeitet. Im wesentlichen bleibt es bei der Einschätzung aus der Wildcat 85: Ein gewaltiges Konjunkturprogramm soll das Wirtschaftswachstum hoch genug halten, führt aber zu Blasen, hauptsächlich auf dem Immobilienmarkt. Die können aber nicht wirksam bekämpft werden, weil sonst das Wirtschaftswachstum einbricht - inzwischen fürchten viele eine "harte Landung" Chinas. Für eine Einschätzung, ob die Kämpfe bei Honda und die Entwicklungen bei Foxconn den Beginn einer neuen Phase markieren, ist es uns noch zu früh.

- Indien: Inflation, operation greenhunt, neue Streiks und Arbeiteruntersuchung. Auch das im wesentlichen ein update zur Indienbeilage in der Wildcat 82, Herbst 2008.

- Auto: Ende Mai sagte der Renault-Chef, die "Griechenland-Krise" würde den Automarkt für den Rest des Jahres belasten. Bereits Mitte Mai hatte der BMW-Chef erklärt: "Die Krise ist noch nicht vorbei. Die Staatsschulden in Europa drohen uns zu erdrücken. In Europa brennt es schon wieder." Derweil fahren die Autokonzerne überall die Produktion hoch...

- Auch beim Bericht zum Februar-Aufstand solltet ihr das letzte Heft zur Hand nehmen; er ist ein Nachtrag zum Artikel "Die iranische Revolution 1979" in der Wildcat 86.


Buchbesprechungen

Wir weisen auf einen Text von Robert Brenner zur aktuellen Krise hin, den er vor einem Jahr geschrieben hat, und der ganz gut eine Meldung aus der FTD von heute erklärt: Firmenkredite sind in der BRD im April auf das niedrigste Niveau seit fast zwei Jahren gefallen. "Geringer war die ausgereichte Kreditsumme zuletzt im Juni 2008 - also wenige Monate vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise."

Des weiteren besprechen wir zwei Bücher über Lateinamerika: Uruguay. Ein Land in Bewegung und ein eher theoretisches Buch zu den Bewegungen in Bolivien von Raul Zibechi. Und wir setzen die Diskussion zum Buch von Roth/van der Linden Über Marx hinaus fort. Darin hatte George Caffentzis den Beitrag "Der Marxismus nach dem Untergang des Goldes". In den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts war eine Rückkehr zum Goldstandard nicht möglich, weil den Arbeitern die Folgen der Krise nicht länger aufgebürdet werden konnten. Die Auseinandersetzungen um die aktuellen Staatsschuldenkrisen drehen sich um die gleichen weitreichenden Fragen nach der Werthaltigkeit der großen Währungen. Gold erlebt ein Comeback als internationale Reservewährung.

Caffentzis versucht die theoretischen Konsequenzen der Aufkündigung der Goldbindung des Dollars durch Nixon 1971 zu erkunden, kommt dabei aber unseres Erachtens auf "naturwissenschaftliche" Abwege. Aus der operaistischen Diskussion von Anfang der 70er Jahre haben wir im Text von Carlo Jäger: Arbeiterstundpunkt und politische Ökonomie eine Stelle zur Differenz zwischen Marxscher Kritik und Naturwissenschaften gefunden: "das Spezifische am Klassenstandpunkt des Proletariats ist, dass er sich selber negiert. Das Proletariat setzt sein Klasseninteresse durch, indem es die Klassengesellschaft zerstört, und es zerstört die Klassengesellschaft, indem es sich selbst als Proletariat, als Kapital produzierende Klasse, negiert. Das Interesse des Arbeiters ist, es nicht mehr zu sein. Deshalb ist die proletarische Theorie wesentlich Theorie der Zusammenbruchstendenz des Kapitals. Die Kehrseite davon ist, dass sie die Konstitution des Wertgesetzes, der Herrschaft des Tauschwerts, entwickelt - der proletarische Standpunkt weiß sich als historisch. Das Bürgertum fasste Natur wie Gesellschaft ahistorisch: Wissenschaft bestand in der Konstruktion eines deduktiven Gebäudes auf axiomatisch gegebener Grundlage. Marx entwickelt die Konstitution dieser Grundlage, weil ihn ihre Auflösung interessiert - eine Problematik, die in der Physik keine Parallele zu finden scheint." (nachgedruckt in TheKla 5; dort S. 209) Witzigerweise beschäftigt sich der Autor heute mit den ökologischen Konsequenzen des Kapitalismus - womit wir wieder bei Deepwater Horizon wären.

Ganz deepe horizons machte Anfang Mai folgender "Investor" auf: "Die Eröffnung der Expo in Schanghai in der letzten Woche ist kein besonders gutes Omen, denn auf die Weltausstellung 1873 in Wien folgte der Gründerkrach in Österreich und die weltweite long depression." (zitiert in der Business Week vom 4. Mai 2010). Zu diesem Thema kündigen wir schon mal ein update im nächsten Heft an. Auch zu unserem Block zu Leiharbeit in der BRD auf den Seiten 9-20 können wir angesichts der Bedeutung des Themas wohl schon vorhersagen, dass im nächsten Heft ein update kommt.

Aber wieso ist "auch in Deutschland Griechenland"? Das werdet Ihr nicht in unserem Schwerpunkt zu Griechenland erfahren. Das war ein Spruch vor wenigen Tagen im Streit um den Länderfinanzausgleich, den Baden-Württemberg und Roland gogoKoch aus Hessen angestrengt haben. Ein Schwabe wollte damit sagen, dass die Brandenburger und BremerInnen über ihre Verhältnisse leben, so wie die Griechen, und zwar mit schwäbischem Geld! Es wird Zeit, dass solche Politikersprüche mit einem glasklaren "dann wollen wir das auch!" gekontert werden. Dann wäre auch in Deutschland endlich wenigstens ein bisschen Griechenland angekommen.

In diesem Sinne rock'n roll! read on!

Europa, 31. Mai 2010

Raute

Zwischen Flashmob und Hafenblockade

- Aktionen in Bremen -

Nach dem Interview mit HafenarbeiterInnen vom Komitee im letzten Heft bringen wir nun Auszüge aus einem Gespräch mit AktivistInnen aus Bremen, die sich zwischen Mayday, Krisenbündnis, der Autonomen Vollversammlung, überbetrieblichen Gesprächskreisen und dem Komitee bewegen.


Flashmob bei Schlecker

Der Sehlecker-Flashmob ist ja über Bremen hinaus bekannt geworden. Warum Schlecker?

T: Mitte 2009 haben wir eine Soliaktion zur Emmely-Kampagne gemacht, mit Infotischen in verschiedenen Stadtteilen, um mit Leuten dazu ins Gespräch zu kommen. Dabei haben viele von ihren eigenen Arbeitsbedingungen erzählt. Damit das nicht im luftleeren Raum stehen bleibt, wollten wir einen Ort, wo Leute sich treffen können, um von ihren eigenen Sachen zu berichten und darüber hinaus auch was machen können. Also haben wir einen Filmabend geplant mit dem Film Das Ende der Vertretung zu Emmely und dazu nochmals über Infotische eingeladen. Zu dieser Veranstaltung kamen auch KollegInnen von Schlecker, so sind die ersten Kontakte entstanden. Über diesen Austausch kam es zu der Frage, wie könnte man die KollegInnen mit einer Aktion von außen unterstützen.

Die Schlecker-Kolleginnen waren alles Betriebsräte, oder...?

L: Ja, Betriebsrätinnen, die in einem sehr BR-feindlichen Unternehmen ziemlich allein stehen...

T: ... und ganz viel ihrer Zeit vor Gericht verbringen, weil sie ständig juristisch gegen Abmahnungen ankämpfen müssen. Die haben relativ wenig Rückhalt von KollegInnen aus den Filialen und gleichzeitig viel Gegenwind vom Konzern.

Wie sind Eure Aktionen bei Schlecker abgelaufen?

L: Der große Flashmob war vorher angekündigt, nicht nur über das Internet, auch über Flugis, die wir in der Gegend verteilt haben. Zudem hatten wir Leute aus betrieblichen Kämpfen, die wir bereits kannten, informiert. Wir sind mit über hundert Leuten reingegangen und haben ein offenes Mikrofon aufgestellt, wo Leute aus verschiedenen Betrieben über ihre Situation berichtet haben. Das waren zum Teil Leute aus Betrieben, zu denen wir vorher keinen Kontakt hatten, zum Beispiel Taxifahrerinnen. Das ganze eben im laufenden Geschäftsbetrieb. Die Geschäftsleitung war damit vollkommen überfordert und hat letztlich geduldet, dass wir unser Ding machen. Das hat fast eine Stunde gedauert, dann sind wir wieder gegangen.

Wie haben sich die Verkäuferinnen verhalten?

L: Gar nicht. Wir haben bei unseren Aktionen vor Schleckerläden immer wieder versucht, mit Verkäuferinnen ins Gespräch zu kommen. Die meisten lehnen jedes Gespräch ab. Die werden ganz offensichtlich eingeschüchtert, regelmäßig ja auch von Vorgesetzten in Einzelgesprächen. Nur mit wenigen sind wir ins Gespräch gekommen. Bei der entsprechenden Filiale war das auch nicht möglich.

T: Das ist auch das Problem, vor dem die drei aktiven Kolleginnen stehen. Sie haben enorme Schwierigkeiten, die einzelnen Kolleginnen über verbale Unterstützung, die es teilweise gibt, hinaus zu mobilisieren. Für mich war es aber auch wichtig, dass bei beiden Flashmobs relativ viele Leute aus anderen Betrieben mitgemacht haben, in denen gerade Auseinandersetzungen stattfinden, dass man sich gegenseitig wahrnimmt. Das hat dieser Flashmob mit dem offenen Mikro gestärkt, da kamen viele Leute, Taxifahrerinnen, Leute vom Hafen, von Becks usw., die von ihren Erfahrungen in ihren Betrieben erzählt haben.

Die kamen aber nicht zufällig vorbei...?

L: Die waren vorher angesprochen worden. Aber sowohl bei den Schlecker- wie bei den Emmely-Aktionen haben sich auch ziemlich viele Leute spontan sehr positiv verhalten. Viele Leute können sich wirklich über solche Skandale von Ausbeutungsverhältnissen aufregen und sind froh, dass da jemand steht und dieser Aufregung Ausdruck verleiht. Ich denke, solche Aktionen greifen eine generell verbreitete Unzufriedenheit auf und geben den Leuten etwas an die Hand, wie sie das ausdrücken und für sich eine Möglichkeit zum Widerstand finden können.

T: Das ist auch ein Ausdruck von widersprüchlichen und unklaren Zielen der Beteiligten. Im Moment hat es noch keine klare politische Linie. Ursprünglich wollten wir eine Art Stammtisch etablieren, um die Leute zusammen an einen Tisch zu bringen, damit ein Erfahrungsaustausch entsteht und eine gegenseitige Wahrnehmung stattfindet. Parallel dazu ist dann dieser Gesprächskreis entstanden, der das ein bisschen aufgenommen hat. Es gibt auch immer den Widerspruch: Wird es zu einer Kampagne? Eigentlich wollten wir eine breitere Organisierung, Vernetzung. Aber zwischen diesen Polen stehen wir schon.


Repräsentanz

K: Direkt daran schließt auch noch ein anderes Thema an, das ist das Problem der Repräsentanz: Kämpfe werden dadurch nicht mehr direkt durch die Leute selber geführt. Solche Aktionen mit der Tendenz, Kämpfe für Leute zu führen, tragen erstmal dazu bei, Delegierungstendenzen zu verstärken. Von daher ist es unheimlich wichtig, unabhängige Kämpfe jenseits repräsentativer Strukturen mit zu unterstützen und aufzubauen.

T: Es gibt ja immer wieder den Konflikt, wie geht man mit Gewerkschaften um? Es ist total schwierig, Selbstorganisierungstendenzen zu stärken, ohne dass sich dabei wieder eine kleine Gruppe sammelt und die anderen richten dieselben Forderungen, die sie früher an die Gewerkschaften gerichtet haben, nun an diese Gruppe. Beim Bremerhavener Komitee ist das manchmal so: die Leute sagen nicht mehr: "Ver.di-Funktionär, mach mal!", sondern "Komitee, mach mal!" Das ist natürlich eine ganz andere Sache, aber es ist trotzdem das Problem, dass Leute ganz schnell wieder dazu kommen, auch solche Ansätze als Repräsentanz zu sehen.

Werdet Ihr weitere Flashmobs machen?

L: Wir denken gerade darüber nach, wie es weiter geht. Wir wollen ja keine Schlecker- oder Einzelhandels-Kampagne machen, sondern wir wollen Leute zusammenbringen, zum Beispiel über Gesprächskreise, Stammtische. Darüber, was unsere weiteren Aktionsfelder sein werden, gibt es sicher auch noch kontroverse Diskussionen.


Kommunikation

Kriegt Ihr durch die ganzen Sachen jetzt eher mit, wo es Konflikte gibt?

L: Ja. Ich staune, wie viel ich mitkriege, seitdem ich im Mayday-Bündnis mitarbeite.

T: Auch über den Betriebsgesprächskreis, wo am Anfang immer auch ein Bericht ist, was in den Betrieben gerade los ist, was da gerade geht.

K: Es ist einfach viel mehr Kommunikation zwischen unterschiedlichen Spektren zustande gekommen, die vorher wenig bis gar nichts miteinander zu tun hatten. Klar erfährt man mehr über Dinge die passieren, aber vor allem gibt es auch viel mehr gegenseitige Anregung in Bezug auf, wo wollen wir eigentlich hin, wie gehen wir vor, um dahin zu kommen. Und das gilt für Leute, die sich eher "politisch" verortet haben, wie für Leute, die erstmal aus einer betrieblichen Arbeitssituation kommen und sagen, wir wollen, müssen hier unsere Arbeitsbedingungen verbessern.

N: Dazu kommen personelle Überschneidungen zwischen Krisenbündnis, Mayday-Bündnis usw. Dadurch kommen Erfahrungen aus den Betrieben auch in diese Gruppen und man kann sich gegenseitig bei Aktionen unterstützen, und Leute kriegen auch die Informationen, die sie brauchen. Teilweise ist die Berichterstattung der Zeitungen ja sehr einseitig vom Arbeitgeberstandpunkt aus. Da kann man dann Mayday, Gesprächskreis und Krisenbündnis zu nutzen, um klarzustellen, was wirklich läuft.

T: Der Aspekt Kommunikation ist überhaupt nicht zu unterschätzen! Zum einen inspiriert es die Leute unheimlich, internationale Kämpfe mitzukriegen, andererseits kriegt man durch den unmittelbaren Kontakt mit, welche Personen, welche Gedanken denn tatsächlich hinter den Aktionen stehen. Auf der Autonomen Vollversammlung wurde erst kritisch zu diversen Arbeitskämpfen angemerkt: "Wenn man bei Arbeitskämpfen Leute vor Fernsehkameras sprechen hört, dann geht es nur um Sozialpläne und Standortsicherung." Erst über den direkten Austausch wurde den Leuten bewusst, dass das eben die medial vermittelte Meinung ist, nicht die wirkliche Position der Leute. Und umgekehrt wird auch das Bild von der Autonomen Szene, als den autonomen Steinewerfern, dadurch rissig. Durch direkte Kontakte entsteht ganz viel.

K: Zur Hafenblockade wurde über die Autonome Vollversammlung mobilisiert, da sind Leute hin gefahren - das war seit Jahren nicht mehr zustande gekommen! Auch dadurch, dass das Komitee ganz viel versucht hat, auf andere Gruppen zuzugehen. Das hat ganz stark in die Szene herein gewirkt, die sich politisch begreift, aber selbst wenig in der ersten Person Politik macht.

T: ... und für viele zu einer wichtigen Selbsterkenntnis geführt: Wir schreiben uns eine bestimmte Radikalität zu, die wir gar nicht haben, wenn man das konkret betrachtet; sondern Leute in konkreten Kämpfen vor Ort haben die viel mehr. Das war für die Politszene unglaublich wichtig.


FDP-Besetzung

Und wie kam es zur Idee der FDP-Besetzung?

T: Es gibt ja diese Zusammenarbeit zwischen Krisen- und Maydaybündnis und den Betriebsleuten, die teilweise auch im Krisenbündnis sind. Die Aktion ist aus dieser Zusammenarbeit erwachsen, als Antwort auf die politische Hetze gegen Hartz IV-EmpfängerInnen.

L: Die Aktion fällt sehr aus dem Rahmen, weil sie eine Fokussierung auf Staat, Politik, Parteien und Regierung hatte. Für uns vom Maydaybündnis ist das normalerweise nicht unser Fokus.

Waren bei der FDP-Aktion auch Leute von Schlecker dabei oder von Euch vom Komitee?

N: Da waren mehr oder weniger Leute aus sämtlichen Gruppen dabei. Einige aus den Betrieben hatten das Problem, dass sie wegen BR-Wahlen und so keine Zeit hatten. Aber die waren informiert und es waren auch welche anwesend - es wären sicher mehr von denen gekommen, wenn nicht gerade so viel in den Betrieben los wäre.

T: Es waren bei der Aktion viel mehr SchülerInnen. Ohne die SchülerInnen wäre das sehr wenig gewesen.

Haben die Aktionen mit offenem Mikrofon usw. was für die Leute in den Betrieben gebracht?

N: Bei uns hat das viel gebracht, denn wenn wir vom Komitee Sachen brauchen wie Lautsprecheranlagen oder ein Auto, das bei der Demo begleitend mit fährt, da haben wir jetzt einfach ein, zwei Leute, wo wir mal eben anrufen. Vorher hatten wir keine Möglichkeiten, so was zu organisieren. Und man kriegt nebenbei noch interessierte Leute, die bei den Aktionen mitmachen. Das hilft uns schon, weil wir ja keine Gewerkschaft im Rücken haben, die uns so was organisiert.

K: Ich habe nicht den Eindruck, dass daraus neue Strukturen hervorgehen. Das wäre auch zuviel erwartet. Aber es gibt einen Austausch, der neu ist, das war ja auch die Erfahrung mit den Infotischen. In dieser Kommunikation geht ganz viel und ich hoffe, dass darüber mit der Zeit mehr entsteht.

T: Es fängt erstmal mit einem Erzählen an, was auf Arbeit eigentlich passiert. Beim Betriebsgesprächkreis, haben wir bei den Berichten ganz oft dieses Aha-Erlebnis. Die sagen immer wieder: Das ist ja wie ein Abziehbild, genauso wie bei uns. Ich finde es toll, wenn dann der Gedanke geäußert wird: Da können wir doch nur was gemeinsam machen! Diese Spaltungen sind so kompliziert, alle verdienen was anderes, und diese Mechanismen mit Leiharbeit, mit Spaltungen, die sind überall gleich.

Was sind Eure Perspektiven?

L: Zum einen soziale Kämpfe von unten, vor allem in den Betrieben, zu unterstützen und zu fördern, wo das irgendwie geht. Zum anderen mit den ganzen Sachen Öffentlichkeit machen und im gesellschaftlichen Diskurs damit auch Zeichen setzen.

T: Die gegenseitige Wahrnehmung, Vernetzung fördern, die Selbstorgansierungstendenzen weiterbringen, aber auch die Prozesse, die vom Komitee ausgelöst wurden an Selbstreflexion in Bezug zu Arbeitskämpfen. Letztlich die Perspektive hier in Bremen das Entstehen verschiedener Selbstorgansierungen zu unterstützen, die sich vernetzen und aufeinander beziehen.

K: Ich will die soziale Situation verändern, und das geht nur, wenn Menschen direkt in erster Person vor Ort zusammenkommen und sich unabhängig organisieren. Dabei will ich mitmachen, mich austauschen und solche Kämpfe unterstützen. In dem Sektor, wo ich gerade bin, findet nicht viel statt. Aber vielleicht finde ich Anregungen, wie auch dort mehr passieren kann...


Randbemerkungen

Zu den unterschiedlichen Gruppen und Bündnissen: www.mayday-bremen.de www.kapitalismuskrise.org/bremen/

Zu den Aktionen bei Schlecker in Bremen: Mayday-Protest vor Schlecker XL-Markt
http://de.indymediaorg/2009/10/262806.shtml

und

Wieder Flashmob bei Schlecker http://de.indymedia.org/2010/02/272654.shtml

Zum Fall Emmely: Bons oder Boni? Wildcat 86

Den dokumentarischen Film Das Ende der Vertretung gibt es auf www.kanalb.org. Weiter Infos unter www.emmely.org

Zum Bremerhavener Komitee: in diesem Heft Seite 68

Gespräch mit Aktivisten aus dem Bremerhavener Komitee, Wildcat 86;

Homepage des Komitees www.wirsindghb.de

Raute

Leiharbeit ist Scheiße

Strategischer Einsatz der Leiharbeit

Zwischen 2002 und 2004 wurde die Leiharbeit durch gesetzliche Deregulierung stark ausgeweitet. Mitte 2008 war die Zahl der LeiharbeiterInnen im Vergleich zu 2005 um 84 Prozent gestiegen. Leiharbeiterinnen können nun von den Verleihfirmen nur für einzelne Aufträge eingestellt und sofort danach entlassen werden. Und die Dauer einer "Überlassung" ist nicht mehr begrenzt, sondern Leiharbeiterinnen sind zunehmend dauerhaft, über Jahre im gleichen Betrieb. Viele Betriebe setzen mittlerweile durchgängig eine bestimmte Quote an Leibarbeitern ein, um Kosten zu sparen. Schon mit der ersten starken Ausweitung der Leiharbeit in den 90er Jahren, möglich aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit nach dem Anschluss der DDR, stieg die Lohndifferenz zu den StammarbeiterInnen von 28,3 Prozent 1990 auf 41 Prozent im Jahr 2001. Mit dem Angriff im Zuge der Hartz-Gesetze wurde dann ein Niedriglohnsektor geschaffen, der nicht nur einen Teil der Arbeitskraft billiger machte, sondern auch die Arbeitsbedingungen Aller unter Druck setzt. Genau das ist eine der Funktionen der Leiharbeit geworden. Wenn die LeiharbeiterInnen kommen und gehen, sind sie keine große Konkurrenz für regulär Beschäftigte: deren Wissen und Kompetenz können sie nicht ersetzen. Wenn sie aber länger im Betrieb sind, erfüllen sie die gleichen Funktionen wie die Stammarbeiter und werden zur ständigen Bedrohung: sie machen die gleiche Arbeit zu schlechteren Bedingungen. Das erhöht die Erpressbarkeit aller anderen, die merken, dass sie ersetzbar sind und Zugeständnisse machen. Die Diskussion über Löhne und Arbeitsbedingungen in der Leiharbeit dient der Abschreckung nach dem Motto: "Guckt mal, wie gut ihr es noch habt!" Zahlreicher Verzicht auf Weihnachts- und Urlaubsgeld und auf Lohnerhöhungen waren der "Erfolg" dieser Politik. Letztlich sollen die Arbeitsbedingungen so aufgeweicht werden, dass die "klassische Karriere" abgeschafft wird, die auch einfache ArbeiterInnen nach einigen Jahren im selben Betrieb machen konnten: Niemand soll mehr standardmäßig das Recht auf einen lebenslangen Arbeitsplatz mit Lohnerhöhungen, Zusatzleistungen und Rente haben.


Leiharbeit als Puffer in der Krise...

Abgesehen von diesem strategischen Einsatz der Leiharbeit dient sie als immer größerer Puffer für Arbeitskraft. Während ein Teil der Leute lange im gleichen Betrieb bleibt, muss ein anderer Teil oft wechseln. Das gilt nicht nur für die Einsatzbetriebe, sondern auch für die Verleihfirmen. Diese stellen Leute zunehmend für einen bestimmten Auftrag ein, demnächst sicher noch wie bei Selbständigen für ein bestimmtes Arbeitsvolumen!

Die Hälfte aller im Jahr 2008 bei Audi in Ingolstadt beschäftigten Leiharbeiter beispielsweise wurde nur für diesen Auftrag befristet bei den Verleihfirmen angeheuert. Diese Kollegen verlieren ohne dass es einer Kündigung bedarf mit der Abmeldung bei Audi ihren Arbeitsplatz. Bei Airbus, wo ca. ein Drittel der Beschäftigten Leiharbeiter sind, wurde mit Produktionsreife des A380 rund 1000 von ihnen mitgeteilt, dass sie in Hamburg-Finkenwerder nicht mehr gebraucht werden und sich nach einem neuen Arbeitsplatz umsehen sollen.

Für 2006 ermittelte die Regierung eine durchschnittliche Vertragsdauer von 131 Tagen, also freundlich gerechnet 4,5 Monaten. Rund zehn Prozent der Arbeitsverhältnisse dauern weniger als eine Woche, ca. 42 Prozent zwischen einer Woche und drei Monaten. Viele LeiharbeiterInnen kommen so kaum je aus der Probezeit oder in den Genuss von Lohnerhöhungen.

Dass die Leiharbeit den Personalabteilungen eine grandiose Flexibilität ermöglicht, hat sich in der Krise bewiesen. Die LeiharbeiterInnen sind als erste entlassen worden, ihre Zahl hat sich bis Mitte 2009 von 650.000 um ca. 200.000 reduziert. Aufgrund ihrer vereinzelten Situation konnte diese Massenentlassung ohne Gegenwehr, und auch ohne Solidarisierung von Festangestellten durchgezogen werden. Größere Entlassungswellen von Festangestellten wurden u.a. dadurch bisher vermieden.


... wird noch ausgeweitet

Bereits seit Mitte 2009 zieht die Beschäftigung von LeiharbeiterInnen nun schon wieder an, im Februar 2010 waren rund 560.000 Menschen bei Verleihfirmen angestellt. Die Krise wird dafür genutzt, die flexibel einsetzbare Arbeitskraft auszudehnen, und Stammarbeitsplätze zugunsten von Leiharbeit abzubauen. Bei Daimler, wo es seit Sommer 2008 keine Neueinstellungen gegeben hatte, sind im Januar 2010 in Sindelfingen 300 Leiharbeiter fürs erste Quartal angeheuert worden, im Mai kamen 270 weitere dazu. Für den ganzen Konzern wurde der verstärkte Einsatz von Leiharbeitern, Fremdfirmen und Befristeten angekündigt und zum Teil schon in Betriebsvereinbarungen umgesetzt. Bei regulären Arbeitsverträgen will man sich dagegen zurückhalten. Daimler will offenbar von BMW lernen, wo der Leiharbeiteranteil schon in den letzten Jahren hoch war und es mit Entlassungen in der Krise keine Probleme gab. Auch dort wird nun neu eingestellt: Bei BMW in Leipzig arbeiten schon wieder mehrere hundert LeiharbeiterInnen, die Einstellung weiterer ist für dieses Jahr angekündigt.

Eine weitere Verschiebung hin zu Leiharbeit ist also eindeutig. Zumal sie vom Staat ordentlich unterstützt und subventioniert wird. Im April 2010 beziehen 11,2 Prozent der sozialversicherungspflichtig bei Verleihfirmen angestellten ArbeiterInnen aufstockendes ALG II. Seit März 2009 ist es auch für Sklavenhändler möglich, Kurzarbeit zu beantragen. Es gibt zahlreiche Kooperationen mit der Bundesagentur für Arbeit, z.B. qualifiziert sie in einem Pilotprojekt zusammen mit Adecco, Manpower und Randstad gerade zehn Auserwählte zu AltenpflegerInnen, die damit gleich einen unbefristeten Zeitarbeits-Vertrag kriegen.

Die aktuelle Thematisierung der Leiharbeit bereitet ihre weitere Ausdehnung vor. Die schlimmsten Fälle werden skandalisiert, um das Image der Leiharbeit durch den Kontrast zu den schwarzen Schafen aufzupolieren. Regulierungsmaßnahmen und die stärkere Überwachung der Verleihfirmen sollen sie vor sich selbst schützen und die schlimmsten "Exzesse" verhindern. Entsprechend der Maßgabe des sozialpolitischen Sprechers der FDP, Kolb, im Januar 2010 im Bundestag: "Wir werden nicht zulassen, dass die Zeitarbeit zerstört wird!" Auch die DGB-Gewerkschaften bekennen sich zu diesem Vorgehen und nutzen die Diskussion, um sich von der "Schmutzkonkurrenz" durch Christliche Gewerkschaften abzugrenzen. Wenn deren Tarifverträge "keine Anwendung mehr finden", könne "man auch die Leiharbeit und Zeitarbeit als ein vernünftiges arbeitsmarktpolitisches Instrument weiterführen. Ansonsten wird sie sich selber desavouieren." (DGB-Chef Sommer)


Regulierungabedarf

Nachdem der DGB lange das Verbot von Leiharbeit gefordert hatte, akzeptierte er in den 90er Jahren ihre "Notwendigkeit" und ging dazu über, sieh an ihrer Regulierung zu beteiligen. Damit wirkt er nicht nur an einer Festsehreibung der Leiharbeit mit, sondern sogar an im Vergleich zur "Stammbelegschaft" ständig sinkenden Löhnen. Statt die EU-Richtlinie zur Wirkung kommen zu lassen, nach der LeiharbeiterInnen den gleichen Lohn kriegen müssen, schließen die Gewerkschaften Tarifverträge, mit denen diese Regelung unterlaufen werden kann. Sowohl Arbeitgeber als auch Bundesregierung haben ein Interesse an solch einer Tarifierung, und ihnen gegenüber muss sieh der DGB als vertrauenswürdiger Verhandlungspartner beweisen, um auf oberster politischer Ebenen mitzuspielen.

Die andere Machtbasis der Gewerkschaften, wichtiger als die Mitgliederstärke, sind die Betriebsräte. In Deutschland sind die Gewerkschaften anders als etwas in Frankreich und Italien nicht als politische Organisationen in den Betrieben vertreten, sondern sie können nur Einfluß nehmen, indem sie Betriebsräte stellen. Daher sind ihre Interessen stark auf den einzelnen Betrieb und die jeweiligen StammarbeiterInnen ausgerichtet. Dass LeiharbeiterInnen seit 2001 an den BR-Wahlen im Entleihbetrieb teilnehmen dürfen, wenn sie mehr als drei Monate dort beschäftigt sind, ändert daran nicht viel. Mit der Bedrohung der 'regulären' Arbeit durch die Verstetigung der Leiharbeit wächst aber auch der Handlungsbedarf der Gewerkschaften. Der DGB versucht sieh mit Kampagnen für "Equal Pay" zu profilieren - was angesichts gleichzeitig abgeschlossener Billigtarifverträge kaum gelingt. Betriebsräte der IG-Metall schwingen politische Reden gegen die Leiharbeit, unterschreiben aber im selben Moment Vereinbarungen zu ihrer Ausweitung. Die Handlungsmacht der Betriebsräte, sieh in gewohnter Stellvertreter-Manier einzusetzen, ist beschränkt: der Einsatz gegen Niedriglöhne einer Verleihfirma führt dann nur dazu, dass der Betrieb die Zusammenarbeit mit dieser einstellt und eine vermeintlich bessere wählt.


Die Spaltung erhalten

Die Ausweitung der Leiharbeit hat aber ihre Grenzen, wenn die Betriebe merken, dass sie ohne die LeiharbeiterInnen gar nicht mehr vernünftig produzieren können, weil sie für den Arbeitsprozess unerlässlich geworden sind. Wenn krisenbedingt 30 Prozent der Leute entlassen werden, die sieh auskennen und eingearbeitet sind, funktioniert dieser nicht mehr. Wächst der Anteil der Leiharbeiter beliebig, sind Solidarisierungsprozesse unvermeidlich.

Wie Schlecker haben viele Unternehmen Tochterfirmen gegründet, die als hauseigene Verleihfirmen dienen: Telekom, Bahn, VW, BASF, TUI, aber auch Krankenhäuser und Zeitungsredaktionen. Oft werden ganze Abteilungen ausgelagert und die Leute verlieren einen guten Teil ihres Lohns. Ohne solche Praktiken ernsthaft zu unterbinden, müssen Grenzen gesetzt werden (ein "Lex Schlecker" ist bereits in Planung): Leiharbeit soll nicht allgemein werden, denn in der Verallgemeinerung liegt immer die Gefahr von gemeinsamer Gegenwehr und Kämpfen. Wenn sie als Drohung für die Festangestellten funktionieren soll, muss die Trennung aufrecht erhalten werden. Es sind weiter unterschiedliche Formen der Beschäftigung notwendig, für die einen als Druckmittel, für die anderen als Versprechen.

Gerade wurden neue Tarifverträge für die Leiharbeit abgeschlossen, ab Mai 2011 gibt es in der untersten Lohngruppe ganze 6,56 Euro im Osten; beim DGB sollen es ab 2012 gar 7,50 Euro werden. Dieser versucht sich solche Verhandlungsergebnisse als Erfolg auf die Fahnen zu schreiben - und kann manche Betriebsräte vor Ort noch das ein oder andere Schmankerl aushandeln lassen. In manchen Großbetrieben wurde beispielsweise Equal-Pay eingeführt (es geht für die Unternehmer nicht allein darum, am Stundenlohn zu sparen, sondern vor allem an Zusatzleistungen und langfristigen Kosten wie Rente und Krankengeld). Die Kampfkraft stärkt das nicht unbedingt, die LeiharbeiterInnen versuchen sich an solchen Betrieben festzuklammern und nehmen an Protesten der KollegInnen nicht teil.


Kollektive Prozesse?

Es gab in Deutschland bisher kaum Kämpfe von und mit LeiharbeiterInnen. Kollektive Prozesse entstehen oft aus Konflikten, die als individuelle beginnen und sich dann ausweiten. Aber solche Entwicklungen können nicht stattfinden, wenn jede LeiharbeiterIn, die Ärger macht, sofort rausfliegt. Man sieht sie nie wieder und kommt gar nicht erst dazu, sich gemeinsam was zu überlegen.

Die wenigen Kampfbeispiele weisen auf zwei Bedingungen hin, die es ermöglichen, sich gemeinsam zu bewegen. Zum Hungerstreik von Leiharbeitern in Hannover (s.u.) konnte es kommen, weil diese sich, nachdem sie über den ganzen Betrieb verstreut gearbeitet hatten, in einer Schulung kennengelernt haben und ins Gespräch gekommen sind.

Wenn es mal dazu kommt, dass die Fluktuation begrenzt ist und man über einen längeren Zeitraum gemeinsam arbeitet, am besten an der selben Maschine, kann sich die klassische Erfahrung, Grundlage aller kraftvollen Arbeiterkämpfe, einstellen: dass man im Arbeitsprozess aufeinander angewiesen ist und sich helfen kann - und dementsprechend auch darüber hinaus. Bei Daimler in Hamburg war es so möglich, dass sich Leib- und StammarbeiterInnen gemeinsam gegen Arbeitshetze gewehrt haben.

Da LeiharbeiterInnen jederzeit aus dem Betrieb entfernt werden können, ist eine Gegenwehr nur denkbar, wenn StammarbeiterInnen mitziehen und sich für diese einsetzen. Die Hürde ist, dass es keine gemeinsame Situation als Ausgangsbasis gibt, die Bessergestellten müssen sich für die Schlechtergestellten einsetzen. Es ist durchaus auch in ihrem Interesse, durch die Einebnung der Unterschiede die Möglichkeit der Bosse zu unterbinden, die Leute gegeneinander auszuspielen. Wo dieses Interesse bewusst ist und im Vordergrund steht, wird in kurzer Zeit die Gleichstellung von Neueingestellten erreicht oder komplett verhindert, dass Leute zu abweichenden Bedingungen eingestellt werden. Es gibt schließlich immer noch Betriebe, in denen es keine Leibarbeiter und Befristeten gibt! Oft ist ein gemeinsames Ziel aber gar nicht mehr vorhanden, können die StammarbeiterInnen keine kollektive Kraft entwickeln, weil sie selbst völlig vereinzelt sind. Es gibt keine Vorstellung davon, zusammen bessere Bedingungen zu erkämpfen die Möglichkeit die eigene Lage zu verbessern wird nur in individuellen Deals gesehen.

Um sich nicht am Gegeneinander und der Vereinzelung totzulaufen, müssen die Kämpfe beginnen, diesen ganzen Komplex aufzuknacken.


Leiharbeiter kämpfen bei VW

Aller über die Leiharbeit ausgeübte Druck funktioniert, weil sie die ArbeiterInnen durch unterschiedliche Rechte, Sicherheiten und Löhne voneinander trennt und gegeneinander ausspielt. Die miesen Bedingungen in der Leiharbeit sind überhaupt nur möglich, weil alle einzeln vor ihrem Sklavenhändler stehen. Kollektive Aktionen sind schwer - aber wenn es sie gibt, können sie viel bewirken. Das zeigt der Hungerstreik bei VW-Nutzfahrzeuge in Hannover im Frühjahr 2009, dessen Erfolg die Wiedereinstellung von 138 Entlassenen war.

Den LeiharbeiterInnen war nach Auslaufen ihrer befristeten Verträge bei der WOB AG, einer VW-eigenen Leihfirma, eine Weiterbeschäftigung verwehrt worden, obwohl durch die Abwrackprämie bei VW in Wolfsburg neue LeiharbeiterInnen eingestellt wurden. Die mehrtägige Aktion wurde möglich, weil die letzten 213 der ehemals rund 900 LeiharbeiterInnen in einen Qualifizierungslehrgang gesteckt wurden, als es nichts mehr zu tun gab. In diesen Kursen lernten sie sich überhaupt erst kennen und konnten so gemeinsam handeln. Einige von ihnen organisierten selbständig Aktionen vor dem Werkstor, eine Demonstration in die Stadt und den mehrtägigen Hungerstreik.

Diese in der BRD bisher einmalige Aktion von Arbeitern, die sonst als "unorganisierbar" gelten, war ein Fanal in einer Zeit, in der massenhafte Entlassungen von Leiharbeitern noch im vollen Gange waren. Individuellen Widerstand von prekär Beschäftigten gibt es immer wieder, aber eine auf länger angelegte gemeinsame Aktion in der Öffentlichkeit war neu. Entsprechend nervös reagierte VWN und die WOB-AG:

"Wir haben am 25. März die Demo in die Stadt organisiert. Als sie von der Demo hörten, haben sie uns am selben Tag, zwei Stunden bevor die Demo losgehen sollte, ins Maritim-Hotel mit Kaffee und Kuchen eingeladen, scheißweit weg. Wir hatten ein Flugblatt an die Stammwerker im ganzen VW-Werk verteilt, das hat ihnen nicht gepasst."

In mehreren Gesprächen, an denen z.T auch die IG-Metall beteiligt war, wurden scheibchenweise Weiterbeschäftigungen angeboten:

"Vor dem Streik hatte uns der WOB-Vorstand 15 Stellen angeboten, damit waren wir nicht zufrieden. Nach Beginn des Streiks stieg die Zahl der angebotenen Arbeitsplätze auf 82. Als wir dann auch noch Demos vor Ort veranstaltet haben, wurden 138 Leute eingestellt".

Waren anfangs bis zu 150 der Entlassenen vor dem Tor, bröckelte die Zahl auf 15 bis 20, nachdem sie individuell angerufen wurden und eine Weiterbeschäftigung in Aussicht gestellt bekamen.

Die Grenze des Streiks lag darin, dass eine Verbindung zu den StammwerkerInnen nur vereinzelt gelang. Zu einer Kundgebung vor dem Werkstor waren 22 von ihnen gekommen, weitere verfolgten sie hinterm Zaun vom Werksgelände aus. Obwohl bei Conti nebenan gerade Demos gegen Massenentlassungen liefen, gab es keine Solidarisierung. Deshalb endete die Aktion in der Vereinzelung vor Gericht. Im üblichen individuellen Kleinkrieg droht nun Frust und Isolierung, gerade die Aktivsten drohen persönlich zu verlieren. Zwölf von ihnen gehören nicht zu den Übernommenen, mussten prozessieren und sind zum Teil dennoch mittlerweile arbeitslos. Schon die Beteiligung weniger Dutzend VWler hätte die Sache ganz anders enden lassen.


*


Mittlerweile haben sich die Arbeits- und Lohnbedingungen in vielen Entleihfirmen so verschlechtert, dass eine Festeinstellung nicht mehr unbedingt attraktiv ist, zumindest wenn man nach BZA-Tarif beschäftigt ist und sich schon ein paar Garantien heim Sklavenhändler erarbeitet hat.

Ein Leiharbeiter, der in einem Lebensmittelbetrieb (Süßigkeiten) mit hohem Anteil an Saisonarbeit gearbeitet hat:

"Die hatten mir auch mal einen Vertrag angeboten, den ich aber abgelehnt hab. Die verdienen da 8,50. Das ist ein Euro mehr als ich kriege. Und das ist dann auch immer nur für drei bis fünf Monate und den Rest sind sie arbeitslos und müssen zum Amt rennen. Die haben auch Festangestellte, die müssen aber erstmal als Saisonarbeiter anfangen und das dann bis zu sechs Jahren durchmachen. Ich hab jetzt einen "unbefristeten Vertrag", hab 30 Urlaubstage... bin zufrieden - so zufrieden, wie man eben sein kann in der Zeitarbeit."

Ein anderer ist schon länger in einer Großglaserei, er arbeitet mit einem Kollegen auf dem Werksgelände und packt die Scheiben auf Montagefahrzeuge:

"Die haben mit jetzt angeboten, mich fest zu übernehmen. Das habe ich abgelehnt - was sie nicht verstanden haben - ich würde ja 500 Euro brutto mehr im Monat verdienen. Aber nee - da müsste ich dann raus auf die Baustellen. Die haben 40 Stunden die Woche, arbeiten in der Regel aber 60. Haben weniger Urlaub - ich habe 30 Tage im Jahr. Bekomme Urlaubs- und Weihnachtsgeld und ich brauch nur 35-Stunden arbeiten. Manchmal bisschen mehr - muss ich aber nicht. Das hab ich denen aber nicht gesagt."

Nicht immer ist das Verhältnis zwischen Festangestellten und Leiharbeitern schlecht. Ein Leiharbeiter über seine Erfahrungen in einer Maschinenbaufirma:

"Das Verhältnis zu den Festangestellten war gut. Am Anfang gab's Probleme mit dem Chef vom Lager. Der meinte, wir sollen immer von Montag bis Donnerstag 6-16 Uhr arbeiten und Freitag bis 13, 14 Uhr, während alle anderen Gleitzeit haben. Das haben wir dann auch sechs Monate durchgezogen. Dann wollte er, dass wir auch noch am Freitag bis 16 Uhr arbeiten, so das wir auf 42 bis 44 Wochenstunden gekommen wären. Mein Kollege sagte, dass er das nicht kann, wegen Familie und so. Er antwortete nur, wir seien nicht bei "Wünsch dir was", und dass er gefälligst zu arbeiten hätte. Das hörte einer der Festangestellten, der griff gleich zum Telefon und erzählte das dem Betriebsrat. Der ist dann direkt zum Chef und hat ihn richtig angeschrien. Wir standen vor dem Büro und haben das gehört. Er drohte ihm mit Gerichtsverhandlung, wenn wir nicht wie alle anderen auch Gleitzeit hätten. Wir sind dann an dem Tag um 13 Uhr nach Haus und hatten ab da Gleitzeit mit 40,5 Stunden wie alle anderen auch."

"Bei N. hab ich fast ein ganzes Jahr durchgearbeitet, im Lager. Die haben mir aber kein Angebot zur Übernahme gemacht. Der Betriebsrat kam mal, und sagte, dass ich ja schon so lange da bin und auch IGM Mitglied geworden bin. Sie würden sich für uns stark machen, das glaub ich ja sogar. Der war auch ein netter Mensch. Ich hab da insgesamt 20 Monate gearbeitet - mal drei, dann wieder weg, dann wieder zwei, dann hält mal zwölf Monate durch, so war das. Und so haben die mich seit Jahren gekannt. Da haben sich sich schon versucht stark zu machen für uns, aber das war im Oktober 2008 wohl zu spät. Da hieß es, dass N. eh alle Leiharbeiter entlassen wird."



Randnotizen

Leiharbeit - "Rauskommen war schwieriger". In: Wildcat 79 Online unter www.wildcat-www.de

Wildcat 84 - "Was bisher geschah" zum Hungerstreik in Hannover

Wie man auch seine Festeinstellung bekommt: Einer der nicht weiterbeschäftigten Kollegen ist einfach mit in den Bus gestiegen, der die Leute nach Wolfsburg gebracht hat. Dort hat er zwei Tage gearbeitet, bis VW aufgefallen ist, dass er eigentlich gar nicht dabei sein dürfte. War aber zu spät, sie hätten ihn sofort nach hause schicken müssen. So war sein Vertrag arbeitsrechtlich verlängert, und er hat beim Prozess seine Festeinstellung erwirkt.

Raute

Interviews mit Leiharbeitern

Interview mit B., 59 Jahre alt, seit 2007 mit Unterbrechungen bei verschiedenen kleinen Leiharbeitsfirmen beschäftigt.

Warum arbeitest du als Leibarbeiter?

Als Industrielackierer findest du nur Arbeit über Leiharbeitsfirmen. Nur Autolackiereien stellen noch direkt ein. Das kann und will ich nicht mehr machen in meinen Alter, die Angebote vom Arbeitsamt habe ich abgelehnt. Zur Zeit bin ich gerade mal wieder arbeitslos. Habe aber die letzten drei Jahre, seit Sommer 2007 bei verschiedenen Leiharbeitsfirmen gearbeitet.

Was ist deine Qualifikation?

Ich habe nichts gelernt, aber fast 30 Jahre in einer Maschinenbaufirma als Industrielackierer gearbeitet. Da habe ich mich richtig gut eingearbeitet.

Warum bist du da weg?

Die wollten uns damals Weihnachts- und Urlaubsgeld streichen, die Arbeitszeit verlängern und den Urlaub kürzen. Das habe ich mit anderen Kollegen nicht mitgemacht. Da reisst man sich fast 30 Jahre den Arsch auf, macht Überstunden und arbeitet auch am Wochenende, und dann wird man von den Hanswürsten wie ein Stück Dreck behandelt. Meine Frau hat damals gesagt, wenn du dir das gefallen läßt, schmeiße ich dich raus. Ich hatte aber auch keine Lust mehr, da zu arbeiten. Deshalb bin ich dann mit einer für mich ordentlichen Abfindung (über Arbeitsgericht erstritten) gegangen.

Dann hast du mit Leiharbeit angefangen?

Wollte ich ursprünglich nicht, bin da mehr oder weniger reingestolpert. Ich war noch keine drei Wochen arbeitslos, da hatte ich einen Job als Industrielackierer in einer großen Motorenfabrik hier in der Nähe. Die hatten ihre Lackiererei an eine andere Firma ausgelagert und sie vorher noch modernisiert, richtig mit guten Spritzkabinen und Absaugungen, Computer gesteuert. Das Arbeiten da war ganz gut. Nicht so ein Dreck wie bei der Maschinenbaufirma.

Die Firma, die die Lackiererei übernommen hat, hatte fast keine eigenen Beschäftigten, sondern eine eigene Leiharbeitsfirma. Von der hat sie sich die Arbeiter an sich selbst ausgeliehen. Dafür haben sie für mich noch ein halbes Jahr Geld vom Staat bekommen, weil ich angeblich altersbedingt schwer vermittelbar war obwohl ich noch nicht mal einen Monat arbeitslos war!

Was ist mit den Leuten passiert, die vor der Auslagerang in der Lackiererei gearbeitet haben?

Die wurden in die Motorenmontage versetzt.

Hattet ihr mit denen Kontakt?

Ja, die lackierten Teile gingen direkt über ein Zwischenlager in die Montage. Die Leute waren über die Versetzung sauer. Ihnen wurde zwar nicht direkt der Lohn gekürzt, aber durch den Wegfall von Zulagen hatten sie schon einen erheblichen Lohnverlust. Die haben dann voll gegen uns gearbeitet, permanent gab es Reklamationen über angeblich schlechte Lackierergebnisse. Die wollten die Lackierer schlecht machen und hofften, dass die Lackiererei wieder zurück geholt wird. Das ist aber nicht passiert.

Wie ging das weiter?

Anfangs lief alles ganz gut, auch vom Verdienst her. Der Grundlohn lag zwar nur bei 7,65 Euro, aber mit Zulagen kam ich auf etwas mehr als 12 Euro. Das war ganz okay. Ich dachte ja auch, dass ich nach einen halben Jahr dann fest in der Leiharbeitsfirma eingestellt werde. Das war aber nicht so. Vor Weihnachten 2007 hieß es auf einmal, über den Jahreswechsel würde immer wenig zu tun sein, und dann haben sie mich entlassen, kurz bevor ich die sechs Monate Probezeit voll hatte und fest eingestellt werden sollte. Wenn es nach dem Jahreswechsel wieder aufwärts geht, würden sie mich anrufen und mich weiterbeschäftigen. Sie haben mich noch gelobt, dass ich gute Arbeitsergebnisse bringen würde - und ich hab wirklich gedacht, das läuft so.

Im Nachhinein habe ich erkannt, dass sie mit der Kündigung mein Weihnachtsgeld eingespart haben. Und im Frühjahr 2008 blieb der erhoffte Anruf auch aus. Da ist mir auch erst deutlich geworden, warum von meinen Arbeitskollegen kaum jemand länger als sechs Monate beschäftigt war und die Fluktuation so hoch war.

Was hast du danach gemacht?

Danach hatte ich nur noch kurzzeitige Beschäftigungen über Leiharbeitsfirmen. Die kriegen meine Telefonnummer vom Arbeitsamt, sie hätten eine Beschäftigung für eine bestimmte Zeit. Bestimmte Sachen konnte ich auch ablehnen, wie z.B. als Bauhelfer zu arbeiten, ohne dass ich Arger mit dem Arbeitsamt bekommen habe. Anfangs gingen die Jobs zumindest einige Wochen, drei Monate habe ich mal in einem Busreperaturbetrieb lackiert. Sonst hab ich auch mal ein paar Wochen im Lager gearbeitet. Nach Ende einer Arbeit bin ich gleich wieder arbeitslos.

Wie läuft es mit dem Arbeitsamt?

Bisher gab es keine Probleme. Im Gegenteil, meine Sachbearbeiterin hilft mir, dass ich nichts falsch mache. Ich glaube, die findet es eine Schweinerei, was sie in der Maschinenbaufirma mit mir gemacht haben. Nur jetzt, wo ich seit über drei Monaten durchgängig arbeitslos bin, nervt das Amt mit Maßnahmen. Zur Zeit mache ich gerade mal wieder ein Bewerbungstraining. Auffrischen nennen sie das.

Was verdienst du?

Der Grundlohn bei den verschiedenen Leiharbeitsfirmen lag immer zwischen 7 und 8 Euro. Dazu kamen unterschiedlich Zulagen. Jobs unter 7 Euro lehne ich grundsätzlich ab. Habe auch dafür noch keine Sperre bekommen. Ich zehre noch von der Höhe des Arbeitslosengeldes, dass ich durch die Arbeit bei der Maschinenbaufirma bekomme. Durch die Unterbrechungen über die Leiharbeit verlängert sich der Zeitraum. Dass läuft jetzt irgendwann aus, und dann wirds eng.

Kommst du mit dem Geld aus?

Meine Frau hat einen sehr gut bezahlten Job. Insgesamt kommen wir zusammen mit unseren Geld über die Runden. Ich mache dann hält Hausmann. Dann habe ich ja auch noch zu großen Teilen die Abfindung.

Was ist deine Perspektive?

Dass ich noch mal einen festen Job in meinen Alter bekomme, sehe ich nicht. Wenn sich was ergibt, mache ich mit der Leiharbeit weiter. Ich kann mit 63 in Rente gehen, zwar mit Abschlägen, aber das will ich machen. Die vier Jahre bis dahin kriege ich auch noch hin. Ich bin bisher noch nicht in Lage, dass ich buckeln muss.

Wie wird die Leiharbeit bei deinen Kollegen diskutiert, vor dem Hintergrund der Krise?

Welche Kollegen? Bei der ersten Leiharbeitsfirma wechselten die Kollegen oft. Und seitdem bin ich mehr oder weniger Einzelkämpfer. Die kurzen Zeitspannen, wo ich gearbeitet habe, reichten nicht zum Kennenlernen und Diskutieren. Insgesamt glaube ich, dass die Leiharbeit weiter ausgebaut wird - gerade wegen der Krise. Das ist doch ideal für die Firmen. Die Leiharbeiter werden zunehmend als Feuerwehr, bei Engpässen in den Betrieben eingesetzt. So wie bei mir seit über einen Jahr.


*


Interview mit A., der seit Jahren über einen Verleiher bei einen großen Flugzeugbauer in Hamburg mit ca. 12.000 Leuten (Stammwerker und Leiharbeiter). Er hat zwischendurch in Toulouse gearbeitet, wo Nacharbeiten an den in Hamburg gebauten Komponenten gemacht werden. Er ist seit einem halben Jahr wieder in Hamburg.

Warum arbeitest du bei einer Leiharbeitsfirma?

Weil die Firma, in der ich arbeite, zur Zeit keine Festeinstellungen vornimmt. Liebend gern würde ich einen Festvertrag da annehmen. Ich arbeite das erste Mal in einer Leiharbeitsfirma.

Wo wirst du eingesetzt?

Ich bin im Flugzeugbau als Prüfer für elektrische Komponenten und Leitungen eingesetzt.

Was für eine Qualifikation hast du?

Gelernt habe ich Informationselektroniker. Habe mehrere Jahre als Anlagenelektroniker im Maschinenbau gearbeitet. Dazu kommen die Zusatzqualifizierungsmassnahmen für den Flugzeugbau, die vom Bundesluftfahrtsamt gefördert werden. Die Qualifikationen gelten aber nur für den jeweiligen Hersteller und nützen woanders nicht viel.

Es gibt das Gerücht, dass Leute, die bei Airbus gearbeitet haben, hier in der Gegend trotz Arbeitsplatzmangel immer noch recht gut einen Job finden.

Vielleicht weil man signalisiert hat, dass man bereit ist sich Zusatzqualifikationen anzueignen, also lernfähig ist. Über die Qualifizierungsmassnahmen hat ja auch eine Auslese stattgefunden.

Kennst du denn Leute, die von Airbus weggegangen sind?

Nö, von sich aus ist noch keiner gegangen.

Wie lange bist du im Betrieb?

Ich arbeite seit Mai 2006 bei Airbus. Die Leute sind alle langfristig da, es gibt Leiharbeiter, die haben schon 15jähriges Betriebsjubiläum und bekommen vom Betriebsrat einen Blumenstrauß. Bei der letzten "Entlassungswelle" waren Leute dabei, die schon 11 Jahre bei Airbus waren.

Was verdienst du?

Ich bekomme einen Stundenlohn zwischen 18 und 19 Euro. Genau kann ich das nicht sagen. Da sind 48 Prozent Leistungszulage enthalten. Die kann individuell auf 28 Prozent gekürzt werden, wenn wir unsere Zeiten nicht einhalten. Es gibt Equal Pay was den Grundlohn, die Zuschläge und die Wochenendzuschläge betrifft. Weihnachts- und Urlaubsgeld bekommen wir auch entsprechend. Meine Leiharbeitsfirma gibt das Geld von Airbus an uns weiter mit einem Schreiben, dass die Leistung freiwillig ist. So erhält man aber keinen Rechtsanspruch darauf.

Wie sind die Arbeitszeiten?

Ich arbeite in Früh- und Spätschicht. Überstunden werden nur "freiwillig" gemacht. Aber da wird schon geguckt, wer Überstunden macht und wer nicht. Wir Leiharbeiter machen mehr Überstunden als die Stammwerker.

Wie ist das Verhältnis zwischen Leiharbeitern und Festangestellten im Betrieb?

Bis auf Kleinigkeiten gut. Einzelne lassen den Max raushängen, wenn sie einen Leiharbeiter vor sich haben. Das wird aber auch von den Vorgesetzten nicht geduldet, die achten auf ein vernünftiges Verhältnis zueinander.

Die Zahlenverhältnissen haben sich durch die letzten Abmeldungen drastisch verändert. Es waren bei uns in der Halle mal 160 Leiharbeiter, wenn davon noch 20 übrig sind, ist das viel. Vor der Krise waren es mal 262 bei über 400 Beschäftigten.

In Toulouse hatten wir einen Leiharbeiteranteil von 68 Prozent. Das hat mal richtig Ärger auf einer Versammlung gegeben, der Betriebsrat hat eine Absenkung dieses Anteils gefordert. Das wurde aber nicht dadurch gelöst, dass uns Festverträge gegeben wurde, sondern die Leiharbeiter wurden abgemeldet bzw. nach Hamburg zurückgeschickt.

Was passiert mit den Leuten, die von Airbus abgemeldet werden?

In meiner Leiharbeitsfirma sind die Leute gekündigt worden, weil die Leiharbeitsfirma auch keine Arbeit mehr für sie hatte.

Was machen die Leute heute?

Das weiß ich nicht. Da habe ich keinen Kontakt. Unser Kontakt untereinander läuft nur über die Arbeit bei Airbus.

Hast du mal erlebt, dass überhaupt Leute fest eingestellt wurden?

In vier Jahren sind zwei Leuten Festverträge angeboten worden.

Haben sich durch die Abmeldung der Leiharbeiter die Arbeitsbedingungen für euch und die Festbeschäftigten geändert?

Aus einer anderen Halle habe ich gehört, dass da fast alle Leiharbeiter abgebaut wurden und sie kaum noch mit der Produktion nachkommen. Es werden gerade ausgelernte Lehrlinge eingesetzt anstatt die erfahrenen Arbeiter weiter zu beschäftigen. Du musst die Leute aufwändig anlernen und müssen tricksen, um die Zeit dafür wieder reinzukriegen.

Haben sich die Arbeitsbedingungen generell verschärft?

Momentan ist die Produktion bei uns etwas runtergefahren. Deswegen gibt es wenig Überstunden trotz des Personalabbaus. Zum Teil wird aber am Wochenende gearbeitet. Aber ab Mitte des Jahres wird das wieder anziehen, wenn die ganzen Teile, die ganzen Bauteile, die Sektionen kommen - dann werden wir definitiv zu wenig Leute sein.

Wir haben jetzt bei uns in der Gruppe vier Mitarbeiter aus einer anderen Gruppe für drei Monate ausgeliehen gekriegt - die müssen wir jetzt einweisen.

Was ist deine Perspektive? Willst du da bleiben? Hast du Aussicht auf einen anderen Job?

Wenn ich die Möglichkeit hätte, irgendwo eine Festeinstellung als Stammarbeiter zu bekommen, würde ich das tun, auch wenn ich weniger Geld bekommen würde. Aber wenn ich so den Arbeitsmarkt sehe, dann ist da zur Zeit nichts für mich dabei.

Warum würdest du das machen? So schlecht sind doch Lohn und Arbeitsbedingungen bei Airbus nicht?

Um aus dieser unsicheren Zwischeninstanz Leiharbeit rauszukommen. Bei uns gibt es permanent Probleme mit völlig undurchsichtigen Lohnabrechnungen. Immer wieder gibt es Korrekturabrechnungen, dass ich meine Bezahlung nicht richtig nachvollziehen kann.

Wie sehen das deine Leiharbeitskollegen?

Die hoffen immer noch auf einen Festvertrag. Die Hoffnung habe ich ja auch noch. Die Wahrscheinlichkeit ist aber gering.

Wird bei euch im Betrieb über die Arbeitsbedingungen und speziell die Leiharbeit diskutiert?

Ja sicher. Aber es ist ja so, dass ein Leiharbeiter den Mund nicht so weit aufmacht wie ein Stammarbeiter.

Setzen sich den Stammarbeiter für euch ein?

Das gibt es schon, dass die bei den Vorgesetzten unsere Probleme vortragen.

Gab es größere Auseinandersetzungen?

Bei der Ausbildung z.B: haben die sich dafür eingesetzt, dass die Leiharbeiter die selber Weiterbildungskurse bekommen wie die Festeingestellten. Neben der Qualifizierungsmassnahmen am Anfang gibt es eine ganze Menge zusätzliche Maßnahmen. In unserer Gruppe haben alle diese zusätzlichen Kurse auch gekriegt.

Hat sich die Krise bei euch in den Diskussionen, bei der Stimmung bemerkbar gemacht?

Die Stimmung ist gedrückt. Wir sind froh, dass im Augenblick so wenig Teile da sind. Wenn das wieder anzieht, dann wird es drunter und drüber gehen - das werden wir nicht mehr schaffen.

Neueinstellungen, auch von Leiharbeitern, wird es nicht geben?

Ich glaub kaum. Ich glaube, dass wird so sein, dass die Leute zu Hause abrufbereit sitzen und verfügbar sind wenn es brennt.

Wenn du von Airbus abgemeldet wirst, was würdest du denn dann bekommen, wenn dich die Leiharbeitsfirma nicht entlässt?

Equal-Pay würde ich dann nicht mehr kriegen, sondern den Leiharbeitertarif von 9 Euro nochwas.


*


C. war als Krankenpfleger bei einer Verleihfirma in Freiburg.

Wie bist du zur Zeitarbeit gekommen?

Ich hatte nach der Ausbildung einen auf ein Jahr befristeten Vertrag an der Uniklinik. Der wurde nicht verlängert, ich nehme an, auch weil ich nicht immer der Motivierteste war, hin und wieder blau gemacht hab. Ein Jahr arbeitslos zu sein war mir ganz recht: andere Sachen machen, mit ALG I relativ viel Geld haben. Ich dachte mir, dass ich das nicht oft werde machen können, deswegen war es mir letztlich auch recht, "draußen" zu sein.

Das Arbeitsamt hat Dich in Ruhe gelassen?

Im Durchschnitt hatte ich einmal im Monat Kontakt, mal um mich zu melden, mal bekam ich Vermittlungsangebote. Einmal eben auch bei Gramm-Agil, einer Zeitarbeitsfirma, bei der ich mich dann mit einer "Negativbewerbung" beworben habe: ich sei bei ver.di aktiv, wolle auch nur Teilzeit arbeiten... Die hat das prompt beim Arbeitsamt gemeldet, ich bin knapp an einer Sperre vorbei gerutscht.

Und wie bist du dann doch bei der Zeitarbeitsfirma gelandet?

Nach dem Jahr wollte ich über den zweiten Bildungsweg das Abi nachmachen, später bekam ich auch ein Stipendium der Böckler-Stiftung. Dann war mir das ganze Organisieren mit Schule, eventuellem Bafög, Kindergeld usw. zu stressig. Deswegen hab ich nach einem Job gesucht, den ich flexibel zur Schule planen konnte - und da schien es mir bequem und nahe liegend, nochmal bei der schon erwähnten Zeitarbeitsfirma vorstellig zu werden.

Deinen Ver.di-Aktivismus und dass Du nicht viel arbeiten willst, hatten sie inzwischen vergessen?

Die Einstellung war kein Problem. Ich hab ja nur einen Teilzeitvertrag gewollt, wegen der Schule. Aber für sie war attraktiv, dass ich an den Wochenenden arbeiten konnte und wollte. Ein Vertrag über 25 Prozent, das waren vier bis fünf Schichten. Nach dem Tarifvertrag des Christlichen Gewerkschaftsbundes hatte ich nach Eingruppierung 9,08 brutto, plus Zuschläge für Sonntags- und Nachtdienste, das waren etwa 350 Euro netto.

Zum Vergleich: als Berufsanfänger kriegst du nach Haustarif Uniklinik 13 Euro brutto, kannst nach 15 Jahren in der höchsten Stufe ankommen, und bist da ungefähr bei 17,50 Euro brutto. Wie hast du denn die Situation bei der Leiharbeitsfirma eingeschätzt?

Ich hab im September 2008 angefangen, und da hatten die eher zu wenig Leute. Das hat die Chefin auch offen gesagt, dass sie mehr Leute anstellen könnten: Fachkräfte, die die Löcher in den Einrichtungen stopfen, aber auch KrankenpflegehelferInnen, AltenpflegerInnen und ungelernte Leute - meistens für die Altenheime. Auch in die ambulante Pflege wurden Leute vermittelt.

Ich habe überwiegend in Altenheimen gearbeitet. Zunächst in einem Altenheim mit ganz guten Bedingungen, wir hatten einigermaßen Zeit für die Leute. Arbeitskräfte aus der Zeitarbeitsfirma waren da die Ausnahme. Eben bei Krankheitsausfällen, bei mir ging es um einen längerfristigen Ausfall. Die wollten mich auch übernehmen. Aber das ging nicht. Im Vertrag zwischen Zeitarbeitsfirma und Entleiher war eine Ablöse bzw. Vertragsstrafen vorgesehen. Und eine dreimonatige Sperre zwischen Beschäftigungsende bei der Leiharbeitsfirma und Beschäftigungsbeginn beim selben Betrieb.

Dann bin ich bei der PS Residenz gelandet. PS ist eine private bundesweite Kette mit inzwischen über 100 Einrichtungen, 17.000 Betten und an die 10.000 MitarbeiterInnen - so deren eigene Angaben. Das Ganze kann man nur als "Lagerhaltung" bezeichnen, fürchterlich. Der Laden hat um die 100 Betten, ich hab da auch Nachtdienste gemacht. Dann waren wir zu zweit - ich als ausgebildete Kraft und eine Ungelernte oder Helferin. Rein rechtlich muss nachts eine ausgebildete Kraft da sein.

Nachts haben wir dann zwei Durchgänge bei den Pflegefällen gemacht - was meistens im Schnelldurchgang Trockenlegen und Windelwechsel bedeutet. Oft nicht mal das, wenn das Kontingent durch war, durften wir eigentlich kein Material mehr verwenden: es gab Anweisungen, wie viele Windeln pro Person und Nacht verbraucht werden sollten. Die Frühdienste sollten eigentlich zu dritt gemacht werden, aber nicht selten waren nur zwei da. Deswegen konnte vielen der Leute erst gegen Mittag aus dem Bett geholfen werden - und die ersten mussten nachmittags schon wieder hingelegt werden. Außerdem gab es noch eine geschlossene Station für Demenz-Kranke. Und die Küche - das Essen war auch das Letzte.

Es gab Beschwerden von Angehörigen. Es kam schon mal vor, dass Angehörige ihre Leute aus dem Heim rausgenommen haben. Im Ranking der Heime ist PS in Südbaden ganz unten.

Wie alt waren denn die Kolleginnen dort? Und wie war der Kontakt zu den "Festen"?

Da arbeiten überwiegend junge Leute, mehr als die ist Mitte 20 bis 30. Altere Leute sind eher die Ausnahme. Die Alterszusammensetzung war bei der Leiharbeitsfirma ungefähr dieselbe. Die Kontakte zu den "Festen" waren immer gut. Oft die üblichen Gespräche, dass Festanstellung besser wäre als Leiharbeit. Anerkennung, wenn du gleich zurecht gekommen bist. Letztlich waren die auch einfach froh, wenn einer "von uns" da war.

Was haben die Leute für eine Perspektive in den Altenheimen? Was hast du von den Löhnen da mitbekommen?

Die Perspektive ist meist ein anderes Altenheim, wo es nicht ganz so schlimm ist. Eine Altenpflegerin in Vollzeit hatte so 1100/1200 Euro. Was die anderen bekamen, auch in der Küche, weiß ich nicht. Die Kollegin ohne Ausbildung von derselben Leiharbeitsfirma hat sieben Euro bekommen.

Warum geht denn heute eine KrankenpflegerIn zur Leiharbeitsfirma? Zumindest hier im Süden gibt es reichlich offene Stellen?

Meist waren es eben keine KrankenpflegerInnen. Ich glaube, ich war sogar der einzige. Sondern in der Regel Leute ohne Ausbildung und AltenpflegerInnen. Und warum die bei einer Leiharbeitsfirma arbeiteten? Ist ein bisschen schwer zu beschreiben, ohne dass es blöd klingt. Aber ich hatte oft den Eindruck, dass es Leute waren, die mit Ach und Krach durch das Examen gekommen waren, schlechte Noten hatten. Prols aus unteren Schichten, oder so. Total nett, aber ich konnte mir bei vielen schon vorstellen, dass sie nicht freiwillig wie ich bei einer Leiharbeitsfirma gelandet waren.

Aber eben auch sehr unterschiedliche Leute, vor allem unter denen, die keine Berufsausbildung hatten: abgebrochene Studenten, abgebrochene Ausbildungen, Jobber...

Gab es bei "Deiner" Zeitarbeitsfirma mal Stress, wegen der Arbeit, dem Lohn...? Hat sich die Situation dort während der Krise verändert?

Ich hatte hin und wieder Stress, weil ich mich krank gemeldet hatte. Und das war bei den wenigen Schichten, die ich gemacht habe, und dann noch am Wochenende, für Verleiher und Entleiher ein Problem. Im Prinzip war der Verleiher aber zufrieden. Die Arbeitstage wurden im Monat vorher festgelegt, oft erst kurzfristig, wo der Einsatz war. Wer viel gearbeitet und wenig Dienste abgesagt hatte, bekam auch eine Prämie, ich allerdings nicht.

Der Laden hat während meiner Zeit, also 2008/09, expandiert: zum einen wurden mehr LeiharbeiterInnen angestellt und vermittelt, aber es gab auch mehr Büropersonal.

Du bist nicht mehr bei der Firma, wie kam das?

Am Ende hatte ich einen Prozess wegen fristloser Kündigung. Ich war einmal nicht gekommen, ohne mich krank zu melden, dann kam die Kündigung. Ich hab dann angegeben, dass ich telefonisch an die Zentrale von P8 in Saarbrücken weitergeleitet worden war, was tatsächlich passiert war. Ein DGB-Anwalt hat das dann gemacht, im weiteren haben sie die fristlose Kündigung zunächst in eine fristgerechte Kündigung umgewandelt, zum Schluss gab es noch einen Vergleich mit 250 Euro Abfindung. Außerdem haben sie mir sie drei Monate lang die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit weiter bezahlt.

Das war abschließend ein schöner Erfolg. Wir, also auch andere Leutchen aus meiner Politgruppe, waren im letzten Jahr auch bei ähnlichen Sachen recht erfolgreich. Arbeitsrechte einklagen, Abfindungen durchsetzen... Ein Genosse hatte ein richtig hartes Ding durchzustehen.

Hattet Ihr in dem Zusammenhang überlegt, zu Leiharbeitsfirmen politisch was zu machen, oder Du speziell in deinem Laden?

Gerade weil auch andere Genossen "Arbeitskämpfe" hatten, hab ich schon überlegt, ob ich da zunächst bleiben sollte. Aber es gab keine Ansatzpunkte, ich kannte die Leute nicht, bin noch total jung, außerdem war ich nur auf einer viertel Stelle. Generell gibt es aber auch kaum sowas wie Klassenbewusstsein unter den Leuten. Ich glaube, von allein läuft da nichts.

Das müsste man machen wie die Leute in Ken Loachs Bread and Roses, die Leute von unten organisieren. Oder überhaupt Sachen anstoßen: Handbücher, Broschüren auf dem Arbeitsamt verteilen, wie mensch sich der Leiharbeitersfirmen oder dem Arbeitsvermittler gegenüber verhalten kann, Tipps und Tricks. Oder "Stammtische" organisieren, wo Leute ihre Erfahrungen austauschen können.

Raute

Schoko-Riegel und Schoko-Igel

Eine Saison in der Berliner Süßwarenindustrie

Anruf am Nachmittag: "Sie haben sich bei uns beworben, können Sie morgen anfangen?" Ich solle "ein paar Tage Sitzwachen im Krankenhaus" machen, später "Einsatz in der Produktion". Ich muss gleich ins Büro kommen. Dort wird deutlich, dass in Wirklichkeit unklar ist, wie es nach dem Krankenhaus weitergeht und ich mich ziemlich spontan auf die jeweiligen Arbeitszeiten einstellen müsste. Als er im letzten Moment noch sagt, der Vertrag sei auf drei Monate befristet, gehe ich, und der Chef schnappt nach Luft, weil es nun knapp wird, jemanden zu finden.

Bei der nächsten Bude stellen sie sich zumindest nicht ganz so blöd an, ihre Jobs zu verkaufen. "Schokoriegel verpacken bei einem großen Süßwarenhersteller mit mehr als tausend Mitarbeitern an zwei Berliner Standorten".

Ich fange Donnerstags in der Spätschicht an, als erstes wird mir gesagt, dass ich als "Mitarbeiterin einer Fremdfirma" statt der weißen eine grüne "Mütze" (damit sind die schicken Haarnetze gemeint) aufziehen soll. Ich muss neben der Maschine stehen und ungefähr alle 90 Sekunden drei Lagen frisch in Zellophan gewickelte Schokoriegel in eine Kiste packen. Außerdem muss ich ab und zu neue Kisten besorgen und Zettel stempeln: Schokoladensorte und Palettennummer für jede Kiste. Sonst hab ich nichts zu tun außer dem Transporter zuzulächeln und das Gespräch mit Maschinenführerin Susanne umzulenken - sie will sich aber lieber von ihren Kollegen im Stich gelassen fühlen als zu überlegen, ob der Stress vielleicht von oben gemacht wird. Mir gegenüber sitzt eine Kollegin in beeindruckend würdevoller Haltung und schiebt permanent Schokoriegel aufs Band.

Susanne nimmt mich mit in den Pausenraum. Sowas passiert in den nächsten Wochen selten, Grün- und Weißmützen bleiben in den Pausen weitgehend unter sich. Gespräche gibt es eher dann, wenn man zusammen arbeitet.

Meine Zeitarbeitsfirma teilt mir mit, dass ich erstmal bleiben soll, ich wäre "positiv aufgefallen". Ich weiß nicht bei was, aber in der folgenden Woche zieht das Tempo stark an: ich muss Schokokisten stapeln. Meine Kollegin hat auch ne grüne Mütze, lässt aber raushängen, dass sie sich schon voll auskennt und macht gern Stress. Sie ist seit fünf Jahren Zeitarbeiterin, war in vielen unterschiedlichen Betrieben und lässt sich kein kritisches Wort entlocken: "Man kommt viel rum". Am nächsten Tag wird's noch schlimmer, Schokokisten in drei verschiedene Kartons verpacken, das eine Band ist zu niedrig und die anderen Kisten zu weit weg, es geht eh zu schnell und dann muss man noch jedesmal ein Fußpedal bedienen, um alles hochzuheben. Es ist noch keine Woche rum, als die Schichtleiterin zu mir kommt und sagt: "Sie sind morgen nicht mehr bei uns, bitte melden Sie sich bei Ihrer Firma." Meine Firma ist überrascht, stellt neue Jobs für die nächste Woche in Aussicht und will, dass ich die nächsten zwei Tage einen "Antrag auf bezahlten Freizeitausgleich" ausfülle. Damit werden Überstunden ab- bzw. Minusstunden aufgebaut. Eigentlich muss die Firma in solchen Fällen deinen Lohn weiterzahlen, zwingt dich aber durch ein Stundenkonto, die "verlorenen" Stunden nachzuarbeiten. Für meine KollegInnen ist das wohl seit Jahren völlig normal. In den nächsten Wochen spreche ich viele darauf an, aber die meisten regt das nicht besonders auf. Viele sind auch bisher gewöhnt, das Konto voller Überstunden zu haben. Nur manche erzählen, sie seien neulich drei Wochen zu Hause gewesen und damit alle Überstunden los. Diese "Freizeit" kommt so überraschend, dass man nicht viel damit anfangen kann. Damit nicht genug, muss man sich auch noch zweimal täglich bei der Firma melden, um bei Bedarf noch schnell irgendwohin zum Arbeiten geschickt zu werden. Dass man seinen Urlaub oder seine Überstunden dafür drangibt, dass man von einem Betrieb zum anderen geschickt wird, dabei dann oft bis Freitag nicht weiß, wo und wann man montags anfängt - darüber ärgert sich keineR außer mir besonders. Vielleicht sind andere Probleme größer, vielleicht ist das besser als keine oder eine noch nervigere Arbeit zu haben. Zu wenig Geld, zu langweilige Arbeit, schlechte Stimmung im Betrieb, das sind die Hauptprobleme, über die geklagt wird. Viele kommen mir auch entschlossen vor, sich sowas egal sein zu lassen, um sich nicht rumgeschubst zu fühlen.

Nächste Woche bin ich bei den Pralinen. Vier bis sechs Frauen stehen um einen Tisch und kontrollieren die Unterseite der alkoholgefüllten Schokolade. Meistens werden wir angehalten, langsam zu machen, weil vor dem Verpackungsband nicht viel Platz ist und der Transporter keine Lust hat, die Paletten nochmal umzuparken. Das nervt die meisten, weil die Zeit noch weniger rumgeht, wenn nichts zu tun ist. Immerhin können wir uns so mal länger unterhalten, ohne dass Maschinenlärm jedes Gespräch total mühsam macht.

Viele der Frauen kommen irgendwoher, wo es noch schlimmer war, im Hotel oder irgendwelchen Küchen. Babsi ist Hotelfachfrau, sagt aber, dass sie im Moment wegen der Krise nichts Festes kriegt, dass man als Zeitarbeiterin im Hotel der letzte Arsch ist und sie daher lieber in die Produktion gegangen ist. Natascha war 20 Jahre Zimmermädchen und hat da keinen Bock mehr drauf. Frauke war schon in der DDR Plastikfacharbeiterin, war die letzten zwei Jahre in einem Plastikbetrieb und stand kurz vor der Übernahme. Jetzt sind wegen der Krise alle ZeitarbeiterInnen rausgeflogen.

Viele machen seit Jahren schon Zeitarbeit, das ist keine "Übergangslösung" und kein "Einstieg in eine Festanstellung". Und die meisten wechseln die Betriebe häufig, werden von hier nach da geschickt. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie man so eine Arbeit auf Dauer aushalten soll, wenn auch noch ständig die Kollegen wechseln. Manche kennen sich aber auch schon ganz gut und werden meistens in den gleichen fünf oder sechs Betrieben eingesetzt. Ein paar sind auf Druck des Arbeitsamtes hier, und es ist klar, dass das nicht lange gut gehen kann: Tanja zum Beispiel kommt nach der Arbeit kaum noch die Treppe zur S-Bahn hoch, soll aber den ganzen Tag im Stehen arbeiten.

Manchmal bringen die jungen Frauen schon ein bisschen Stimmung in die Bude, und ich überlege, ob es sich nicht lohnen würde, so einen Job mit ein paar Leuten zusammen zu machen und etwas mehr Unruhe zu stiften.

Dann ist wieder Montag und die Arbeitsplätze werden neu verteilt. Ich werde an das Band gesetzt, an dem die frisch gegossenen Pralinen vorbeikommen, muss diesmal die Oberseite kontrollieren und mit einem Plastikdings bedecken. Im Vergleich ein einsamer Arbeitsplatz, vor allem weil wir die Pausen nicht zur üblichen Zeit mit den anderen machen. Ein paar Meter links steht einer, der die Pralinen stapelt, ein paar Meter rechts steht einer, der Plastikteile einlegt. Ab und zu laufen die Jungs vorbei, die die drei Kühlschränke und fünf Wasserkreisläufe betreuen, die zum Pralinengießen notwendig sind. Zum Glück besuchen mich ab und zu Kolleginnen, die gerade nichts zu tun haben, und so erfahre ich alles über den Sohn der Nachbarn der Eltern von Charleen aus Thüringen. Diesen Job werde ich die nächsten zwei Monate machen. Immerhin ist er körperlich nicht besonders belastend, dass ich abwechselnd sitzen oder stehen kann, ist ein riesiges Privileg. Und zum Glück gibt es drei Pausen, die den Tag ein bisschen strukturieren. Wenn das Förderband mal anhält, sehe ich es weiterlaufen, so wie der Boden unter den Füßen schwankt, wenn man vom Schiff kommt.

Einerseits macht die Aufteilung in Weiß- und Grünmützen auch vor dem eigenen Kopf nicht hält, die Festangestellten scheinen Leute mit ganz anderen Problemen zu sein, andererseits ist sie dann doch viel weniger starr als gedacht: ein Teil der Weißmützen verdient zwar doppelt soviel wie ich und ist direkt beim Betrieb angestellt - das aber auch nur für vier Monate. Andreas zum Beispiel, gelernter Drucker, war schon mal Leiharbeiter in einer Backfabrik und weiß nicht, wie es im Dezember weitergeht.

Ein paar Wochen vor dem angekündigten Saisonende werden die meisten LeiharbeiterInnen abgemeldet. Es wird noch einsamer. Läuft anscheinend doch nicht so gut mit der Schokolade in der Krise. Ich hatte auch schon gehört, dass weniger gearbeitet wird als im Jahr vorher, an manchen Maschinen gibt es zum Beispiel keine Nachtschicht. Offiziell wird darüber aber nichts verlautbart. Ahmed wird für eine Woche abgemeldet und soll danach angeblich wiederkommen. Sein Sklavenhändler schickt ihn für die Woche in Urlaub. Er hatte sieh extrem ins Zeug gelegt, um einen guten Eindruck zu machen, und fragt, was denn bloß die Leute anders machen, die übernommen werden.

Dann ist es auch für mich vorbei, die Zeitarbeitsfirma hat keinen anderen Job und entlässt mich. Zufällig ruft mich in den Tagen danach eine andere an, bei der ich mich vor Monaten beworben hatte, und schickt mich in eine kleine Pralinenklitsche. Ich arbeite in einem Nebengebäude mit 12-16 anderen Frauen, mit dem Rest der Leute im Hauptgebäude haben wir keinen Kontakt. Dort werden die Trüffel gemacht, die bei uns an drei Bändern mit Schokolade überzogen und auf einem Gitter gewälzt werden, damit sie ihre stachelige Oberfläche kriegen. Hier werden sie auch verpackt, und so darf ich mal wieder ein paar Tage Kartons falten.

Die Saisonarbeit ist hier noch stärker ausgeprägt, nur zwei Frauen sind fest angestellt. Ein Teil der Leute ist schon seit Monaten hier, jetzt wurde eine zweite Schicht eingeführt, und die anderen sind neu reingekommen. Es gibt ein paar jüngere Frauen, die keine Ausbildungsplätze gekriegt haben und Praktika und Warteschleifen hinter sich haben, für einige Frauen ist es der erste Job nach Jahren als Hausfrau und Mutter. Die vielen neuen Leute anzulernen bringt immer wieder Chaos und Unmut mit sieh, ab und zu werden auch Leute abgemeldet oder gleich nach Hause geschickt, weil sie nicht zur Zufriedenheit der Schichtleiterin arbeiten. Deshalb sind wir oft zu wenige, anscheinend ist es nicht so leicht, passende Leute zu finden. Meine Kolleginnen finden es auch wichtig, dass gut gearbeitet wird, bemühen sich, dass alles läuft, und denken mit wahrscheinlich weil es sonst schwierig wäre, sich überhaupt zu motivieren. Ich find es angemessen, wenn dem Chef die absolute Flexibilität auf die Füße fällt, anstatt dass wir das durch unseren Einsatz rausreißen, nur um zwei Monate später wieder auf der Straße zu stehen. Gleichzeitig musst du erstmal beweisen, dass man mit dir gut arbeiten kann, damit die Kolleginnen dich akzeptieren, und weil du ihnen ja auch nicht mehr Arbeit machen willst. Damit hältst du hält den Betrieb am Laufen, und ich frag mich, ob ich mit meinen Bemühungen um Kollegialität nicht zur perfekten Leiharbeiterin werde und wie ich ein bisschen Stimmung machen könnte. Es gibt einerseits die Ruppigkeit gegenüber den Neuen, andererseits Herzlichkeit und Witz, an denen die Schichtleiterin und ihre Steilvertreterin ihren Anteil haben. Sie treten halbwegs mütterlich auf und kriegen alles mit.

Ich bin schnell darauf abonniert, Trüffel zu igeln, stehe mit zwei Gabeln am Band, um die mit Schokolade begossenen Kugeln zu rühren und auseinanderzufummeln. Sieben Stunden am Tag ist das kein Spaß, vor allem wenn dunkle Schokolade im Spiel ist. Erleichterung immer, wenn die halbe Schicht für was anderes draufgeht. Ein paarmal kommt der wirkliche Chef Besitzer und Millionär vorbei, um streng zu gucken, damit es auch funktioniert, eine komplette Halle fast nur mit Aushilfen fahren zu lassen.

Zwischen den Jahren wird der Betrieb ruhen, im neuen Jahr vermutlich nur mit einer Schicht weiterlaufen. Meine Leiharbeitschefin behauptet, sie würde mich behalten, in unbezahlten Urlaub schicken und dann würden wir sehen, wie es im Januar weitergeht. Eine Woche später ruft mich ihre Kollegin an und teilt mir mit, meine Kündigung von letzter Woche sei zurückgezogen. Die Kündigung hatten sie wohl vergessen abzuschicken, sie kommt am nächsten Tag. "Der Betrieb hatte erst alle zu Weihnachten abgemeldet, sich aber jetzt entschlossen, Sie für Anfang Januar zu verlängern." Kollegin Sandra weigert sich, überhaupt noch darüber nachzudenken, wer wo wie lange arbeiten wird: "es kommt eh anders". Ich hab den Eindruck, es gibt irgendwo eine Verteilstelle für Zeitarbeiter, denn gerade als ich wieder einen Job suche, klingelt das Telefon. Schade allerdings, dass ich mich nur verschlechtern kann: nachdem ich schon den Berliner Spitzenlohn im Helferbereich von 6,40 gekriegt habe, werden mir nun sechs Euro bei Dreischicht angeboten.

Raute

Wir sind nicht am Ende ... wir fangen an!

Bereits 2006 raste die Autoindustrie in die Sackgasse aus weiter steigenden Produktionskapazitäten und allgemein sinkendem Inlandsabsatz. Sinkende Einkommen machten es vielen schwerer; ein (neues) Auto zu kaufen und zu unterhalten. Und immer weniger wollten überhaupt noch eins. Auf ein Auto angewiesen zu sein, um auf Arbeit zu kommen und gleichzeitig ständig im Stau zu stehen, hatte wenig mit dem einst damit verknüpften Freiheitsgefühl gemein. Die Autoindustrie schien ins Bodenlose zu stürzen: Im Durchschnitt 46 Euro pro Auto verdienten die deutschen Automultis 2008; 2009 zahlten sie 1500 Euro pro Auto drauf. Dazu kamen teure Rückrufaktionen. Das archetypische kapitalistische Produkt Auto kommt ans Ende und mit ihm das drum rum gebaute Gesellschaftsmodell.

Aber wieder einmal hielt der Staat die Unternehmen mit Milliarden am Überleben - die wieder einmal tiefe Einschnitte und Milliardeneinsparungen vornahmen. Und schneller als gedacht fuhren sie die Produktion wieder hoch und schreiben inzwischen sogar schwarze Zahlen (Toyota, Daimler, GM, BMW...).

Jedem Autoarbeiter ist klar, dass die Autokonzerne ohne gewaltigen Kapazitätsabbau unmöglich längerfristig Gewinne machen können. Krisenabsturz, Kurzarbeit, Betriebsschließungen in der Zulieferindustrie, das rabiate Raushauen der Leiharbeiter im Absturz, die massive Ausweitung der Leiharbeit seither... zeigen, dass wir rauen Zeiten entgegen gehen. Trotzdem bilden sich viele ein, selber nicht betroffen zu sein, denken sogar, vielleicht zahle sich am Ende die massiv intensivierte Arbeit sogar für sie aus... 177 Millionen von 265 Millionen Euro pro Jahr dürfen die Opel Arbeiter in der BRD zum Retuschieren der roten Zahlen beitragen. Die Hälfte vom Urlaubs- und Weihnachtsgeld plus die vereinbarte Tariferhöhung macht durchschnittlich 5500 Euro im Jahr weniger Lohn. Dafür fallen von den über 8000 Stellen nur die Hälfte in der BRD weg. Allerdings nun mit weiteren Staatsgarantien. Thüringen beginnt und legt 27 Millionen Euro auf den Tisch. Kein Wunder, dass Mama GM "zuversichtlich" in die Zukunft schaut. Allerhöchste Zeit, diese Zuversicht zu zerreißen! Dazu ein paar Fakten.


Wie machen die überhaupt noch Profite?

Absatzmärkte: einzelne Sparten und Modelle waren vom Einbruch weniger betroffen; bei Daimler z.B. die Busse und ein Teil der Nutzfahrzeuge, bei VW die Kleinwagen... Zudem konnte gerade VW von den Produktionsstandorten in den USA und China profitieren. Für die deutschen Fabriken wird der Export immer wesentlicher. Selbst 2009 gingen noch 69 Prozent der Produktion in den Export. Zuwächse gab es allerdings nur in China: die Exporte dorthin stiegen um 37 Prozent. Den dortigen Markt für Premiumfahrzeuge teilen sich praktisch die deutschen Hersteller. 90.000 Fahrzeuge gingen als komplette Autos übers Meer. Verglichen mit den drei Millionen, die allein in den ersten beiden Monaten dort verkauft wurden, wirkt das zwar lächerlich, aber es hat Daimler, Audi und BMW über das Krisenjahr gerettet - neben den Gewinnen aus Unternehmensanteilen an anderen, bspw. chinesischen, Autoherstellern. Seit Dezember 2009 wuchs die Inlandsproduktion bei zurückgehendem Inlandsabsatz um 20 Prozent, der Export stieg dagegen um 50 Prozent.

Finanzgeschäfte: Leasing wird zur Absatzförderung immer wichtiger. Bei Daimler macht Leasing etwa 52 Prozent vom Gesamtabsatz aus, bei VW und BMW sieht es ähnlich aus. Bei den Geschäftswagen war der Leasinganteil schon immer sehr hoch; nun kommen aber auch immer mehr Privatkunden dazu, vor allem im Ausland. Daneben trägt das allgemeine Bankgeschäft wieder zum Gewinn bei - bei Daimler z.B. mit knapp zehn Prozent Gewinn im Jahr 2009.

Subventionen haben den größten Anteil an der Rettung der Autoindustrie. Neben günstigen KfW-Programmen, Krediten und Bürgschaften gab es die Abwrackprämie. Die Kurzarbeit hat Millionen eingespart für Kündigungsfristen, Abfindungen, Sozialprogramme - vor allem für die absehbaren Auseinandersetzungen in den Werken. So konnte fast ohne Streiks nach Bedarf produziert werden. Oft wurde Kurzarbeit gezahlt, während die Leute an anderen Tagen Überstunden machten.

Produktion: Hier ist vor allem von Kostensenkungen zu berichten: Leute flogen raus, die Arbeit wurde verdichtet, zeitlich ausgedehnt und noch weiter flexibilisiert. Sonderzahlungen wurden gestrichen. Allgemein wurde in den Kantinen, den werksinternen Dienstleistungen oder den ausgelagerten Bereichen gespart. Die Zulieferer mussten ein Programm nach dem anderen akzeptieren, andernfalls wurden Verträge gekündigt. Zusätzlicher Druck entstand durch die Fusionierungen der Automultis. So konnten leichter Bereiche optimiert und "überflüssige" Produktionstätten und Produktionsschritte abgestoßen werden.

Insgesamt also ein Polster, von dem einzelne Hersteller auch 2010 zehren können. Dass nun alle großen Automultis ihre Gewinnprognose nach oben korrigieren, ist aber schlicht albern.


Breit aufgestellt?

Der breite Abriss der überflüssigen Autoindustrie verläuft über den Konkurrenzkampf Und der geht so: noch mehr, noch billiger, noch schneller, noch bunter. Die Konzerne prahlen mit ihren Erfolgen in diesem Überlebenskampf, die sich in zwei Schlagworten zusammenfassen lassen: mehr Märkte, mehr Modelle. Beides führt aber dazu, dass die Profitmargen noch weiter sinken. "Mehr Modelle" ist eine reine Defensivstrategie, die sehr viel Geld für Teilebevorratung, teurere Fabrikanlagen, niedrigere Stückzahlen... kostet. "Mehr Märkte" werden nicht nur durch den Export, sondern durch neue Fabriken und vor allem neue Vertriebsnetze erschlossen. Hier werden also Millionen in Transportwege gesteckt. Allerdings stellt sich dabei die Autoindustrie auch geographisch neu auf:

Die meisten Fahrzeuge in der EU kommen aus den neuen Fabriken in Polen, Rumänien, Tschechien und der Slowakei. Ähnlich in den USA, wo die Billigstandorte im Süden und in Mexiko hochgefahren wurden. In Asien werden Lohnunterschiede, Produktionsketten und Märkte innerhalb der Asean neu zusammengesetzt. Durch den Beitritt Chinas 2010 profitieren auch die deutschen Autobauer, weil sie im Rahmen des Freihandelsabkommens Marktzugänge erlangen und Produktionsstätten besser verteilen können. Zulieferer und reine Montagefabriken können je nach Kosten und Absatzchancen verlagert werden. Somit können deutsche Autokonzerne mit CKD-Standorten kurzfristige Absatzchancen nutzen, ohne große Investitionen tätigen zu müssen.


Ende alter Gewissheiten

Wer sagt denn, dass sich AutoarbeiterInnen die Autos, die sie bauen, auch kaufen können? ... das war einmal. Und für neuen Standorte gilt diese Perspektive schon gar nicht. Für China z.B. geht die Autolobby selbst von einer baldigen und abrupten Implosion aus.

In der BRD sorgte die Abwrackprämie 2009 für einen Absatzanstieg um 20 Prozent. Ein Lichtblick für die Hersteller nach 20 Jahren Stagnation. Aber viele Käufe waren nur vorgezogen, im Februar 2010 rutschten die Absätze folglich um 30 Prozent ab was etwa dem weltweiten Durchschnitt entsprach. Nur in Teilen Westeuropas (Niederlande, Luxemburg, Spanien, Portugal, Frankreich, Irland, Großbritannien) führen weiter verlängerte Abwrackprogramme noch immer zu zaghaften Anstiegen bei den Neuzulassungen im Jahresvergleich. Ohne solche Prämien fallen die Absätze sofort. In Osteuropa sinken sie hingegen trotz Prämien. Mit der Ausnahme von Tschechien klafft die Schere zwischen Produktion und Inlandsabsatz überall weit auseinander. Allen voran Rumänien: hier wurde die Produktion 2009 um 20 Prozent gesteigert, die Absätze fielen 2010 um bisher 80 Prozent.


Vom Groß(t)raummobil zum günstigsten Nutzmobil

Weltweit steigen die Leute auf kleinere Autos um. In der BRD verschiebt sich seit Jahren der Markt von der Mittelklasse zu den Mini- und Kleinwagen. Die Kleinwagenabsätze sind gut für die Statistik, aber nicht für die Gewinnmargen.

Was das heißt, zeigt China bereits jetzt. Während die Deutschen noch glücklich sind, die Oberklasse zu versorgen, beweisen die chinesischen Hersteller, dass der momentan größte Automarkt der Welt aus "Opensource-Autos" besteht. Die Masse kauft gute Kopien des heutigen Stands der Technik für umgerechnet 3000 bis 5000 Euro. Soviel mussten die westlichen Autobauer 2009 im Schnitt an Rabatt auf ihre Marken geben!

Leasingverträge werden zum Minusgeschäft, wenn die Rückläufer nicht als "junger Gebrauchter" verkauft werden können. Während gerade die deutschen Hersteller seit Jahren mit 20 Prozent Zuwachsraten in den USA prahlen, stapeln sich die Rückläufer bei den Händlern und werden über Dumpingpreise in den Export gedrückt.

Noch befriedigen hohe Absatzzahlen und nicht hohe Gewinne die Aktionäre. In Wirklichkeit sind "deutsche Premiumhersteller" genauso überbewertet wie der "Freiheitstraum der individuellen Mobilität".

Die Produktionsketten sind ein Hindernis beim drastischen Abbau von Überkapazitäten. Die aktuelle Fusion Behr/Mahle und die Auseinandersetzungen um den damit einhergehenden Arbeitsplatzabbau zeigt dies erneut. Nicht nur die Montagefabriken sind auf die Zulieferer, auch die Zulieferer sind aufeinander angewiesen. Mit dem Zusammenbrechen eines Teils der Produktionskette droht der Kollaps einer ganzen Region. Die Stuttgarter Familienunternehmen stützen sich gegenseitig. Aber während sie ihre Krisenherde über den Gartenzaun hinweg löschen, weitet sich der damit einhergehende Arbeitsplatzabbau zum regionalen Flächenbrand aus. Aber auch in der Krise wurde immer wieder erkennbar, welche Macht einzelne Belegschaften in den Händen halten, um ganz andersgeartete Flächenbrände auszulösen: Streiks wie in Aschaffenburg oder in Tschechien haben bewiesen, wie schnell dann europaweit Bänder stillstehen.

Solche Beispiele brauchen wir in den nächsten Wochen und Monaten viel mehr! Denn wir werden in die Zange genommen. Die neuen Kapazitäten im Osten der EU, Russland, Amerika, Indien, China stellen eine Verdopplung der Modellpaletten dar. Die in der Phase der Kurzarbeit durchgesetzten Arbeitsverdichtungs- und Flexibilisierungsmaßnahmen werden nun bei ausgereizter Produktion zum Standard. Wenn jetzt nichts passiert, werden diese neuen Standards in den nächsten Jahren wieder industrie- und landesweit durchgesetzt, genauso wie nach den Umstrukturierungen im Kriseneinbruch Anfang der 90er!

Dass nun die Kurzarbeit eingestellt und zusätzliche Schichten geplant werden, ist einerseits eine riskante Wette, andererseits ein strategischer Zug, der den zweiten Nackenschlag vorbereitet.

In der Kurzarbeit sind Auftragslücken entstanden, die nun abgearbeitet werden (Die Krise wurde vielfach genutzt, um neue Modelle aufzulegen und Produktionsschritte zu optimieren, somit stand die Produktion zeitweise auch deshalb still). Zweitens werden die Läger vollgefahren. Vor der Krise musste man bis zu sechs Monate auf seinen Neuwagen warten. Die Unternehmen haben also sechs Monate Spielraum, in denen sie die Läger füllen. Dass die Wette nicht allzu riskant wird, dafür sorgt der Staat: Wenn die Konjunktur bis dahin nicht wieder brummt, können sie die nächste Kurzarbeitsphase beantragen (nach dreimonatigem Aussetzen stehen Unternehmen bis 2012 weitere 18 Monate Kurzarbeitsunterstützung zu). Der strategische Zug besteht darin, dass sie dann die doppelten Kapazitäten auflösen - und zwar hier und nicht an den Billigstandorten. Welche Hebel hätten dann die alten Belegschaften noch in der Hand? ...

In der Kurzarbeitsphase haben wir es verpennt, was zu unternehmen. Nun folgt ein Sommer, in dem wir entweder vom Aufschwung und Samstagsschichten träumen können - oder wir schauen den Tatsachen ins Auge und nutzen die vor uns liegenden Monate, um gemeinsam Hand anzulegen. Opel hat gezeigt, dass Abwarten nix bringt. Die Faust gehört nicht in die Tasche, sondern ins Gesicht des Klassenfeinds!


Randnotizen:

Siehe auch: Hybridmotor oder Klassenkampf, Wildcat 86;
"Diesmal müssen die im Westen anfangen!" - Gedanken und Versuche eines ostdeutschen Autoarbeiters, Wildcat 85.

Takara Petri/Aschaffenburg: als die Arbeiter nach wochenlangem Hinhalten die Tore zuschweißten, um Klarheit über die angedrohten Kündigungen zu bekommen, bekamen nicht nur die Aschaffenburger die sich vor dem Tor kilometerlang stauenden LKWs vor Augen geführt, auch die VW Arbeiter merkten bereits nach Stunden vom Streik, da Lenkräder ausblieben.

Hyundai, Dymos, Grammer / Tschechien: Die Arbeiter bei den Zulieferern konnten sich zwar nicht lange durchsetzen, dafür sorgten die fast parallel laufenden Streiks Dezember 2009 und Januar 2010 wegen ausbleibender Teile europaweit an den Bändern für Diskussionsstoff und wirkten sich auf weite Teile der tschechischen Industrie (Traktorenfabrik, Luftfahrtindustrie, Maschinenbau) aus. Vorallem aber machten die Arbeitsniederlegungen wegen zurückgehaltener und gesenkter Löhne offensichtlich, wie angreifbar die gerade von Hyundai/Kia ausgereizte just in time-Produktion ist. (siehe:
http://libcom.org/library/i-love-yellow-monitors-wildcat-strike-hyundai-factory-czech)

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
- Hilfe bekommt die notleidende Autoindustrie jetzt aus Griechenland.

Raute

"Phase 3": Im Vorhof der Hölle

Die Wirtschaft ist in der Krise, so wie es sich in einem wirtschaftlichen Krisengebiet gehört
Elfriede Jelinek

Manchmal, Stimpy, staune ich über dein reiches Unwissen!
Ren Hoek

Im April 2009 gab das britische Justizministerium Pläne für den Bau einer neuen JVA mit 1500 Plätzen auf dem Gelände des früheren Ford-Werks in Dagenham bekannt.(1) Besser hätte man nicht zusammenfassen können, was das Proletariat von der herrschenden Krisenpolitik zu erwarten hat. Aber der weitere Verlauf der Geschichte zeigt auch, wie die sozialen Spannungen im letzten Jahr gleichzeitig eingedämmt und verschärft wurden. In Dagenham hat der Staat nach einer großen Kampagne des dortigen Labour-Abgeordneten und des Stadtrats letztlich im Einzelfall nachgegeben: Dieses konkrete Gewerbegebiet wird also nicht von einem Knast verschandelt, aber anderswo sind weiterhin genau die gleichen Projekte geplant, und die Regierung wird ihr "Versprechen" halten und 96.000 Menschen einsperren. Die Wildcat-These vom März 2009 - "die Krisenmaßnahmen der Herrschenden zielen bisher nicht auf einen Wiederaufschwung, sondern darauf, politisch zu überleben"(2) - hat sich inzwischen praktisch bestätigt. Das Leben von Lohn- und LeistungsempfängerInnen verschlechtert sich materiell immer mehr: Hunderttausende haben Job, Lohn, Wohnung, Arbeitslosenunterstützung, öffentliche Dienstleistungen und vor allem den gesicherten zukünftigen Anspruch darauf verloren. Aber die Auswirkungen werden nicht alle sofort und überall spürbar, sondern betreffen immer nur einzelne sich selbst als solche verstehende soziale Gruppen. Dementsprechend uneinheitlich waren die bisherigen Kampfversuche. Gesellschaftlich konzentrierte - und somit kollektiv erfahrbare - "Schocks" wurden ausgesetzt und auf eine nahe, aber unbestimmte Zukunft vertagt. Anscheinend ist die Erfahrung, selbst von einem "aufstrebenden"(3) über einen proletarisierten zu einem "sozial ausgegrenzten" Status (den Knast vor Augen) abzustürzen, noch nicht so weit verallgemeinert, dass der verbreitete Glauben erschüttert würde, wer abstürzt, sei wenigstens teilweise selber schuld.

Im Sinne der "Phasen der Krisenpolitik" aus den 15 Wildrat-Thesen(4) scheint der britische Staat (ähnlich wie andere Staaten, aber zusätzlich unter dem Druck bevorstehender Neuwahlen) so lange wie möglich "Phase 3" verlängert zu haben, in der der offene Angriff vorbereitet und "Tacheles geredet", der Angriff selbst aber noch aufgeschoben und mit "Gimmicks" politisch Zeit gewonnen wird. So hat der Staat wie in anderen großen "finanzialisierten" Volkswirtschaften Bürgschaften für riesige Mengen privatwirtschaftlicher Schuldendienste übernommen. Dass dieser "politische Fix" [fix: Reparatur] wenigstens vorläufig funktioniert, hat aber auch mit Besonderheiten der hiesigen Ökonomie vor und während der Krise zu tun.

So war ein Großteil der vor der Krise geschaffenen neuen Arbeitsplätze im sogenannten "öffentlichen Sektor" entstanden, wo sich das Timing von Massenentlassungen weitgehend politisch steuern lässt. Dass die offizielle Arbeitslosenquote im Dezember "nur" 7,8 Prozent (2,46 Millionen) betrug, lag unter anderem daran, dass die Arbeitsplätze im staatlichen Sektor erst nach den Wahlen abgebaut werden sollen. Sämtliche Parteien haben Maßnahmen zur Bekämpfung des Haushaltsdefizits nach den Wahlen versprochen. Dabei geht es nicht nur um rekte staatliche Arbeitsplätze im angeblich privilegierten Öffentlichen Dienst. Durch das riesige System von Public Private Partnerships, Auslagerungen und Auftragsvergaben an Subunternehmer hatte sich die private "Dienstleistungsindustrie" während des "Booms" reichlich aus den staatlichen Töpfen bedient. Der Beschäftigungszuwachs im "Öffentlichen Dienst" erfolgte zu Bedingungen wie in der Privatwirtschaft oder in der Leiharbeit. In dieser Hinsicht könnten die aufgeschobenen, aber bevorstehenden staatlichen und kommunalen Haushaltskürzungen zu widersprüchlichen Ergebnissen führen. In "nicht lebenswichtigen" Bereichen werden die Verträge gekürzt oder gekündigt werden, was entlang der gesamten Zuliefer-, Besitz- und Finanzierungsketten zu spüren sein wird. Gleichzeitig wird der Versuch des Staates, seine Schuldenaufnahme nicht im Budget auftauchen zu lassen, dazu führen, dass noch mehr Public Private Partnerships und Auslagerungen aus den bisher noch direkt vom Staat betriebenen Bereichen stattfinden (zuletzt war die Rede vom Jugendstrafvollzug und der Bewährungshilfe). Die Beschäftigten in diesen Bereichen rutschen also nicht direkt in die Arbeitslosigkeit, sondern ihre Arbeitsplätze rutschen vom "sicheren Öffentlichen Dienst" in einen unsicheren privaten bzw. Leiharbeitsstatus.

Zudem ist zwar wenig von dem in den Finanzsektor gepumpten staatlichen Geld in der "Realwirtschaft" angekommen, aber die Subventionen sind nicht nur als Profite bei den Banken und als Bonuszahlungen bei den Bankern gelandet. Zumindest zeitweise haben sie auch für eine Atempause bei den ganzen nachgeordneten Dienstleistungen gesorgt, die direkt oder indirekt von den als "Finanzgewinn" eingeheimsten Ansprüchen auf Wert leben: von Putzfirmen und Restaurants bis hin zu IT und PR. In einer "deindustrialisierten" Ökonomie hängt ein Großteil der verfügbaren Einkommen an diesem Recycling von Finanzströmen, besonders in London, wo viele jüngere Leute Jobs in "professionellen Dienstleistungen" anscheinend für den allgemeinen Standard halten.

Statistisch ist das BIP und sogar die Industrieproduktion im 4. Quartal wieder ganz leicht gewachsen, allerdings nur im Verhältnis zu den beispiellosen Einbrüchen des Vorjahrs. Vor allem sind in diesem Wachstum schon sämtliche Vorteile enthalten, die den Exporteuren durch die anhaltende Abwertung des britischen Pfunds seit Ende 2008 zugefallen sind. Die von der staatlichen Verschuldung angetriebene Reflation des Geldes hat sich mit anderen Worten weitgehend erschöpft (das Quantitative Easing wurde Anfang Februar eingestellt), ohne dass ein "unabhängiger" Aufschwung des Nicht-Finanzkapitals in Gang gekommen wäre, trotz exportfreundlicher Wechselkurse und der allmählichen Erholung des Welthandels (die nur durch die Intervention des chinesischen Staats künstlich zustande gekommen ist). "Normalerweise" würde der Umfang der Geldschöpfung zu einer Hyperinflation führen, aber dieses Geld steckt weiter in Finanzanlagen fest (anscheinend dreht sich das Rohstoffspekulationskarusell von 2007/08 bereits wieder; JP Morgan, Nomura/Lehman und andere investieren z.B. in Energierohstoffe und deren Vorratshaltung. Das zögert den Zusammenbruch der vorher hyperinflationierten Preise solcher Anlageformen hinaus, aber eine solidere Akkumulationsgrundlage als 2006/07/08 stellen sie deshalb trotzdem nicht dar).


Statistik von Credit Action UK von Februar 2010:

Jeden Tag werden 1841 Beschäftigte entlassen (auf dem Höhepunkt im August 2009 waren es 3300 am Tag), alle 11,4 Minuten wird eine Wohnung zwangsgeräumt, alle 3,69 Minuten meldet jemand Privatinsolvenz oder Bankrott an, der durchschnittliche Haushalt hat 58.040 Pfund Schulden, jeden Tag steigt die Staatsverschuldung um 384,9 Millionen Pfund.


Wie Aufheben im Oktober 2009 anmerkte(5), gab es im letzten Jahr einige vielversprechende Anzeichen für selbstorganisierte Kämpfe (die Visteon-Besetzungen, die wilden Streikwellen in den Raffinerien im Januar und Juni, die Schulbesetzungen in Glasgow und Lewisham (Süd-London) und die durch Belagerung und Aushungerung beendete Besetzung des Vestas-Windkraftanlagenwerks auf der Isle of Wight(6), aber angesichts der Massenentlassungen war besonders auffällig, dass es sich hierbei sämtlich um "atypische" Kämpfe handelte.(7) Schon vor einem Jahr wurden ArbeiterInnen unter Druck gesetzt, zur Rettung ihrer Arbeitsplätze entweder Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohnausgleich (ein Kurzarbeitssystem gibt es nicht) oder - meistens - Lohnstopps zu akzeptieren. Natürlich wurden die Lohnverluste nach dem statistischen "Ende der Rezession" nicht wieder rückgängig gemacht; gleichzeitig hielt dort, wo tatsächlich (fast eine Million) Arbeitsplätze verloren gingen, die sorgfältig kultivierte Ehrfurcht vor unkontrollierbaren "systemischen" Kräften die Konfrontation nieder. Gleichzeitig gab es mehrere ernsthafte "offizielle" Streiks, meist im öffentlichen (oder am Staat hängenden) Sektor(8), bei denen das Management die Krise als Gelegenheit zur Umstrukturierung nutzte, ohne dabei immer unmittelbar Arbeitsplätze in Frage zu stellen.(9)

Bei der Royal Mail wurden vertrauliche Unterlagen der Geschäftsführung bekannt, laut denen geplant war, "zu beweisen, dass Streiks nichts bringen", indem man selbst einen Streik provoziert. Nach wochenlangen rollierenden Streiks und tageweisen Vollstreiks sah es einen Moment lang eher so aus, als ließe sich das Gegenteil beweisen, bis die Communications Workers Union den Vorteil verschenkte und sich darauf einigte, den Streik "über Weihnachten auszusetzen".

Ende April ging der Kampf damit zu Ende, dass die Beschäftigten mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit für einen von der Communication Workers Union ausgehandelten Abschluss stimmten. Die Gewerkschaft und das Management der Post begrüßten den Abschluss, der höhere Arbeitsbelastungen und eine Lohnsteigerung von 6,9 Prozent über drei Jahre, d.h. unterhalb der Inflationsrate, vorsieht, als einen Sieg der Vernunft und Kompromissbereitschaft. Tatsächlich sieht die 80-seitige Vereinbarung unter dem Titel Business Transformation 2010 and Beyond vor, dass eine nicht genauer bezifferte, aber "erhebliche" Zahl von Stellen "freiwillig" wegfällt, dass die Arbeitsplätze noch stärker hierarchisch unterteilt werden (Vollzeit/Teilzeit, Zustellung/Sortierung usw.), dass ohne Anrechnung von Überstunden unbegrenzt viel Werbung ausgetragen werden muss und dass die Gewerkschaft noch stärker in das Management dieser ganzen Wunder der "Modernisierung" eingebunden wird. Als die CWU über den Abschluss abstimmen ließ, hatte sie vier Monate lang alle Streiks verhindert, und die Wahl einer eindeutig privatisierungsfreundlichen Regierung stand kurz bevor. Falls die Gewerkschaft die öfter mal wild streikenden ArbeiterInnen, die im letzten Jahr mit bis zu 90 Prozent für einen offiziellen Streik gestimmt hatten, in die Resignation treiben wollte, dann ist ihr das gelungen.

Die Müllabfuhr in Leeds streikte drei Monate lang (von September bis November) gegen den Versuch, mit Hilfe gesetzlicher Vorschriften über "equal pay" dort die Löhne um 4000 bis 6000 Pfund pro Jahr zu senken. Letztlich konnte für einen Großteil der Beschäftigten die Rückkehr zum alten Lohn durchgesetzt werden, allerdings nur in Verbindung mit Produktivitäts-Vorgaben, die fast ebenso hoch angesetzt sind wie die ursprünglich von der Kommunalverwaltung vorgeschlagenen "unerfüllbaren". Fast überall im Lande führen die Kommunalverwaltungen gerade ähnliche Maßnahmen ein oder planen dies, und drohen dort mit Auslagerung, wo noch keine stattgefunden hat (wie z.B. in Leeds).

Im Bildungsbereich gab es vor dem Hintergrund "lokaler" Haushaltskrisen bei vielen Instituten realen oder symbolischen Widerstand gegen geplante Kursstreichungen, Entlassungen und "freiwilligen" Arbeitsplatzabbau sowie gegen erhöhtes Arbeitstempo. Es waren so viele Aktionen, dass sie hier nicht alle aufgezählt werden können. Ein unbefristeter Streik der Englisch-als-Fremdsprache-LehrerInnen am Tower Hamlets College bekam breite Unterstützung von anderen College-Beschäftigten, Studierenden und AnwohnerInnen und ging dann nach vier Wochen mit einem durchwachsenen Abschluss zu Ende, der Entlassungen ausschloss und von der Gewerkschaft UCU und der SWP als "Sieg" gefeiert wurde. Im März wurde die Westminster University von Angestellten und Studenten aus Protest gegen Studiengebühren und Sparmaßnahmen besetzt. Bei einem Streik gegen Sparmaßnahmen an der London Metropolitan University und bei Protesten gegen Kürzungen in Salford scheinen Angestellte und StudentInnen solidarisch aufgetreten zu sein. Die SOAS (School of Oriental & African Studies, Teil der University of London) wurde nach einer Razzia der Ausländerpolizei gegen das Reinigungspersonal von Studierenden besetzt. Als die Universitätsleitung eine Beschwerde bei der Regierung ankündigte und versprach, dass so etwas nie wieder vorkommen würde, behaupteten die Student Union und die Linke, sie hätten gesiegt.

Nach den Reaktionen auf einen 48-stündigen Streik bei der Londoner U-Bahn zu schließen, hat die Krise leider kaum etwas an der "Bauch"-Wahrnehmung der realen Interessenlagen geändert. Die "öffentliche" Empörung über Streiks im Verkehrsbereich wird immer übertrieben dargestellt und knallhart von den Medien gesteuert, aber ein Streik gegen Entlassungen(10) im Juni 2009 hätte eigentlich zum Kristallisationspunkt für die Krisenängste werden müssen. Das wurde er auch, aber niemand (außer den paar UnterstützerInnen, die - erstmals auf ausdrückliche Einladung der Gewerkschaft RMT - an den Streikposten auftauchten) kam auf die Idee, dass es heute mehr denn je im allgemeinen Klasseninteresse liegen könnte, wenn relativ starke Beschäftigtengruppen es schaffen, Widerstand gegen die Kürzungen zu leisten. Stattdessen meinten die meisten: "Haben die nicht mitbekommen, dass wir eine Krise haben? Wir müssen doch auch Opfer bringen, warum sollen die das nicht auch tun!"

Natürlich beruht dieser Eindruck von der "öffentlichen Meinung" eher auf Einzelfällen und vielleicht ist in London, wo Reichtum und Ignoranz geballt auftreten, solche unverschämte Antisolidarität auch besonders weit verbreitet.(11) Aber es gibt viele Anzeichen dafür, dass die Krise bisher kaum etwas an der weit verbreiteten Einstellung geändert hat, das natürliche Verhältnis von Lohnarbeitern untereinander (ob individuell oder in Gruppen, z.B. nach Nationalität oder Arbeitgeber) sei ein Konkurrenzverhältnis und Erfolg oder Scheitern in diesem Wettbewerb eine Frage der Leistung. In Schottland musste sich der stellvertretende Erste Minister der SNP (Scottish National Party) dafür entschuldigen, dass er "unangebrachterweise" gesagt hatte, man sollte "Sozialhilfebetrüger" nicht in den Knast stecken. Die Gewerkschaften wetterten gegen die Bonuszahlungen bei den Banken, sagten aber kein Wort darüber, dass "leistungsbezogene Bezahlung" für alle außer den leitenden Angestellten die Durchsetzung von Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen bedeutet.(12) Auch nach dem Absturz der Immobilienpreise gilt als Überlebensgrundlage immer noch nicht etwa der Lohn, sondern "Immobilieneigentum", und zwar auch bei Leuten, die keine Immobilien haben oder deren Immobilien weniger wert sind als ihre Hypothekenschulden. Das Wahlversprechen der Tones, das Defizit zu senken (d.h. die Gehälter im Öffentlichen Dienst, die Renten und alle Sozialleistungen zu kürzen), um die Hypothekenzinsen niedrig zu halten, wurde nämlich ganz offen als "populistische" Strategie formuliert, die auf die nicht verarmten WählerInnen aus der Arbeiterklasse abzielt(13) (in Fokusgruppen-Statistiken wird diese Zielgruppe "Autobahnmann" genannt: Londoner Vorortbewohnen, die noch immer Arbeitsplatz, Kinder, Auto und Aufstiegshoffnungen haben).

Aber auch wenn gesellschaftliche Einstellungen aus der Zeit vor der Krise während dieser künstlichen Periode ökonomischer Pseudo-"Normalität" hartnäckig fortbestehen, so heißt das nicht unbedingt, dass der "politische Fix" funktioniert hat, jedenfalls nicht im Sinne einer nachhaltigen Bestandssicherung der kapitalistischen Institutionen. Der oft gehörte Spruch von der "Sozialisierung der Verluste" wird konkrete Bedeutung bekommen, sobald die vom Staat im Namen der "Gesellschaft" übernommenen Belastungen an die arbeitende und vom Staat abhängige Klasse weitergegeben werden und Dinge, die bis dahin üblicherweise zum materiellen Bestand der gesellschaftlichen Reproduktion gehörten, nach und nach verschwinden.(14) Da "Einstellungen" auch Erwartungen beinhalten, wird der kollektive Schock vielleicht umso brutaler, wenn die Grundlage des konkurrenzorientierten persönlichen Aufsteigertums sich im Rückblick als lang gehegte Illusion herausstellt.

Während des Aufschubs, den der Staat dem Kapital auf unsere Kosten verschafft hat, wurden teilweise schon Vorbereitungen auf dieses gesellschaftliche Trauma erkennbar, die man allerdings nicht für allzu durchgeplant halten sollte: Einige institutionelle Akteure glauben vielleicht sogar ernsthaft an eine "Erholung der Wirtschaft"! Seit einiger Zeit wird oft davon geredet, dass in Zukunft "kollektive Opfer gebracht" und "gemeinsam Verzicht geleistet" werden müsste, oft mit Hinweis auf die Bombardierung Londons im Zweiten Weltkrieg, aber es wird sich zeigen, ob das ohne Widerstand durchgeht, wenn tatsächlich hier und jetzt die ökonomischen Bomben fallen. Konkrete Details zur "Verzichtspolitik" (oder Strukturanpassungsmaßnahmen) gibt es kaum, aber manchmal wird kurz eine "kommunitaristische", sehr gern auch "grüne" moralische Verpackung sichtbar. So schlägt Labour ein "genossenschaftliches"(15) Modell für die Gemeindeverwaltung vor (in einem Land, in dem die Gemeinden für Sozialstaat, Wohnungsbau, Schulen und andere grundlegende staatliche Aufgaben zuständig sind): Im Prinzip liefe das darauf hinaus, dass "Community-Gruppen" ständig als Streikbrecher auftreten und die Arbeit, für die früher jemand von der Gemeinde bezahlt wurde, "freiwillig" umsonst machen (Vorschlag fürs Branding: "Schaufel Dir Dein eigenes Grab"). Vom Staat nicht mehr wahrgenommene Funktionen werden freigegeben und dann von privaten Investoren günstig abgegriffen (ob durch immer neue Auslagerungsaufträge oder direkte Privatisierung), und der Staat trägt durch die finanzielle Reflation auch noch die Kosten. Die Finanzpresse prophezeit schon einen neuen Private Equity Boom, denn sie erwartet, dass das frisch gedruckte Geld in die Übernahme von "notleidendem" öffentlichen und privaten Eigentum investiert wird und dabei vielleicht sogar irgendwelche Arbeitsplätze zu Bedingungen geschaffen werden, die mit dem Weltmarkt "abwärtskompatibel" sind. Blackstone, Tesco und Virgin stehen schon in den Startlöchern, um günstig ins Privatkunden-Bankgeschäft einzusteigen. Man kann sich auch leicht vorstellen, wie kapitalkräftige Firmen bei einer von steigenden Hypothekenzinsen ausgelösten Welle von Zwangsversteigerungen "notleidende" Immobilien einsacken.

Auch die Renten werden mit Sicherheit unter Druck geraten, denn die betrieblichen Rentenfonds in der Privatwirtschaft sind durch "zeitliches Aussetzen" des Arbeitgeberzuschusses und Verluste an der Börse ausgeblutet und die "Rentenansprüche" im Öffentlichen Dienst stehen schon jetzt politisch unter Beschuss. Bezeichnenderweise hatte die Labour-Regierung noch schnell den Manager eines liquidierten Hedgefonds als Chef des neuen quasiobligatorischen Systems der "persönlichen Rentenkonten"(16) eingesetzt.

Bestimmte andere Entwicklungen werden öffentlich nie mit der Krise in Verbindung gebracht, wirken aber trotzdem wie eine Vorbereitung auf eine Phase, in der große Teile der Bevölkerung "gesellschaftlich ausgeschlossen" werden. Kaum irgendwo haben Public-Private-Partnerfirmen solche Zuwachsraten wie bei der Verwaltung der "staatsfernen"(17) Bevölkerung.

Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Strafjustiz/Abschiebeknast, Pflege, Ausbildung und Sozialstaat immer mehr, auf allen Ebenen wenden dieselben Vertragsfirmen (Serco, A4E, Wise Group) die gleichen Methoden an (unbezahlte "Sozialstunden", kognitive Verhaltenstherapie, Drogen- und Alkoholtests). Auch die verschiedenen bewaffneten Bereiche verschmelzen zunehmend: BAE Systems ging kürzlich leer aus bei der Vergabe eines Auftrags über militärische Drohnen für Afghanistan, bekam zum Trost aber einen Auftrag über die Lieferung von Sicherheitsdrohnen für den Luftraum über Manchester. Gleichzeitig gibt es ja weiterhin die traditionellen "Sicherheitsventile" für die, die sonst keinen Job finden: Immer mehr Leute gehen zur Armee, sogar in großen Städten, wo die Werbebüros in einkommensschwachen Vierteln Video-Kriegsspiele einsetzen.(18)

Diese Vorkehrungen scheinen in erster Linie darauf abzuzielen, eine wachsende, aber chaotische und unorganisierte "Unterklasse" in Schach zu halten. Ob der Staat die ganz anders geartete Bedrohung eines "politischen" Hooliganismus auch so ernst nimmt, ist nicht ganz klar, auf jeden Fall aber hat er sich bereits ein noch nie dagewesenes Arsenal von politischen und Sicherheitsgesetzen geschaffen, die sich angeblich gegen den militanten Islam richten. Die vielleicht effektivste "Vorkehrung" gegen alle politischen Bedrohungen von seiten der Klasse hat sich aber bereits über Jahre hinweg entwickelt, nämlich die Umleitung des klaren und vollkommen zutreffenden Gefühls der ansässigen Arbeiterklasse (einschließlich der Kinder von Immigranten), enteignet zu werden, in Wut gegen erst kürzlich zugewanderte "Konkurrenten" auf dem Arbeitsmarkt. Die Linke schafft es nicht, die Verbindung herzustellen zwischen dieser Enteignung des Klassenhasses und der völligen Aneignung des "Antirassismus" durch die Klassenherren der angeblich "rassistischen" ArbeiterInnen.

Der "Antirassismus" ist fast die einzige Ideologie, zu der die bürgerlichen Nutznießer der Enteignung der Arbeiterklasse sich einstimmig bekennen, somit funktioniert eine Ablehnung der antirassistischen Ideologie auch als Ablehnung der bürgerlichen Antirassisten. Insofern funktionieren die zuletzt eingewanderten ProletarierInnen praktisch als menschliche Schutzschilde für die reale Enteignung durch antirassistische Kapitalbesitzer, Arbeitgeber, Manager usw. Dieser Mechanismus ist wohlbekannt, aber es sollte gerade jetzt noch einmal betont werden, wie sehr er dazu beiträgt, Klassenrandale zu spalten und zu unterlaufen, denn die staatlichen Bemühungen, die Kosten der Krise zu "nationalisieren", haben es viel wahrscheinlicher gemacht, dass die Kämpfe in der lang aufgeschobenen "Phase 4" "politisch" sein werden.


Nachtrag (9. Mai):

Am 7. Mai, dem Tag nach der britischen Wahl (Wahlbeteiligung 65 Prozent), stimmte das Kabinenpersonal von British Airways (mit 81 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 71 Prozent) gegen das letzte Angebot der Firma hinsichtlich der Bedingungen einer Umstrukturierung (die Umstrukturierung selbst war als absolut unabwendbar hingestellt worden; es ging in diesem neuen Entwurf also nur noch um die konkreten Bedingungen). Seit der erste Teil dieses Artikels geschrieben wurde (Ende Februar/Anfang März) wurde "das nationale Gespräch" (wie die Meinungsforscher sagen) vom Wahlkampf dominiert, aber der reale Stand der Dinge zeigt sich mindestens genauso gut am Konflikt bei BA. Ende März veranstaltete die Gewerkschaft Unite endlich einen seit der vorigen 80:20-Urabstimmung des Kabinenpersonals im Februar verschobenen mehrtägigen Streik mit Unterbrechung. Zuvor hatte die BA das neue Angebot der Gewerkschaft abgelehnt, das eine Lohnkürzung von 2,6 Prozent und die Gründung einer eigenen "Billigfluglinie" mit schlechteren Bedingungen für Neueingestellte vorsah. Die Streikposten statteten die Gewerkschaft mit Plakaten wie "Wir wurden zum Streik gezwungen" aus und: "Wir haben Lohnsenkungen angeboten, denn die BA soll eine Premium-Fluglinie bleiben". Das soll nicht nur die Perfidie der "Gewerkschaftsbürokraten" illustrieren, auch wenn das sicherlich ein Teil der Geschichte ist. Die Ereignisse werfen auch ein Licht auf die allgemeine Situation, in der bestimmte Gruppen von ArbeiterInnen bereit sind, für ihre Lebensbedingungen zu kämpfen, aber sich gleichzeitig taktisch oder moralisch verpflichtet fühlen, sich dafür zu entschuldigen, dass sie bei den vom nationalen Geist getragenen "gemeinsamen Opfern" nicht mitmachen. (Beim Londoner U-Bahn-Streik im Sommer ist die Gewerkschaft RMT ähnlich aufgetreten.) Natürlich nützen solche Entschuldigungen nichts: BA stellt die Gewerkschaftsdelegierten nicht mehr von der Arbeit frei, hat den Streikenden die Reisevergünstigungen gestrichen und eine Reihe von Disziplinarverfahren eingeleitet, bei denen bisher mindestens in einem Fall jemand entlassen wurde. Die Sun hat Unite "Arbeitskampfterrorismus" vorgeworfen, und eins der ersten Wahlkampfthemen waren die finanziellen Verbindungen der Labour Party zu der "egoistischen" Gewerkschaft. Dass die PR der Tones und die Medien so vorgehen, ist normal, aber dass es ihnen gelang, eine ultra-nachgiebige Gewerkschaft in einem rein defensiven Arbeitskampf als Macht darzustellen, die im Stil der 70er Jahre die Gesellschaft ins Chaos stürzt, zeigt, dass die "öffentliche Meinung" inzwischen von vornherein die des Konsumenten ist.


Nachtrag 30. Mai

Der zweite Streik des BA-Kabinenpersonals (drei Fünf-Tage-Streiks ab 24. Mai in London-Heathrow) hat nun begonnen, nachdem der Oberste Gerichtshof eine einstweilige Verfügung wegen elf ungültigen Stimmzetteln bei 12.000 abgegebenen Stimmen aufgehoben hatte. Der Lordoberrichter mag die Verfügung eher aus juristischer Pedanterie als aus weitsichtigem Klasseninteresse verworfen haben, aber um was es politisch ging, war in den unternehmerfreundlichen Medien klar dargestellt, die für eine "Entente im Stil von Royal Mail/CWU" plädierten: ein rechtlicher Präzedenzfall, der das "Sicherheitsventil" offizielle Streiks blockiert, würde zu unkontrolliertem "Aufruhr" einladen. Da die Gewerkschaft inzwischen in allen Punkten nachgegeben hat, geht es jetzt nur noch um die Macht des Unternehmers, Streikende zu bestrafen (bislang fünf 'gezielte' Entlassungen, über 50 Disziplinarverfahren und weniger Reisevergünstigungen für alle Streikenden).


Ende März wurde ein Streik von Signaltechnikern bei der Eisenbahn wegen Stellenabbau, Arbeitszeiten und Arbeitssicherheit, der, wie der Arbeitgeber zugab, einen Großteil des Eisenbahnsystems lahmgelegt hätte, ähnlich wie Weihnachten bei BA juristisch gestoppt. Die RMT-Führung versprach eine neue Urabstimmung, setzte aber gleichzeitig einen anderen Streik im Instandhaltungsbereich aus und bot auch hier eine zweite Urabstimmung an, obwohl rechtlich überhaupt keine nötig war. Ein Streik bei der Londoner U-Bahn wegen der Schließung von Fahrkartenschaltern und damit verbundenem Arbeitsplatzabbau soll im Sommer trotzdem stattfinden; falls ja, könnte es mit der üblichen Mobilisierung der Konsumentenmeinung gegen Streikende im allgemeinen und Streikende im öffentlichen Verkehr im besonderen etwas kompliziert werden, weil der Streik gerüchteweise mit einem "Fahrpreisstreik" verbunden werden soll, d.h. die U-Bahnen sollen gratis fahren.

Auch im Bildungsbereich zeigt sich deutlich, welch ambivalente Stellung die "Konsumenten" der staatlichen und parastaatlichen "Dienstleistungen" einnehmen. In mindestens einem College der University of London greift die Student Union(19) nicht-akademische ArbeiterInnen an (die "anarchistische" Führung der Studierenden versucht, einen als Organizer der Öffentlicher Dienst-Gewerkschaft Unison tätigen SU-Verwaltungsangestellten wegen "Aufsässigkeit" rauszuwerfen). In einem anderen College hat die SU auf Anfrage der Polizei die Daten von hunderten von "politisch verdächtigen" Studenten (in diesem Fall Mitglieder einer "Islamgesellschaft") an die CIA übermittelt. Gleichzeitig organisieren Studierende außerhalb des Student Union-Rahmens Besetzungen zur Unterstützung von Beschäftigten, die ihre Jobs verlieren sollen. Eine der letzten beiden Besetzungen, nämlich an der University of Middlesex (Nord-London) läuft [am 9. Mai] immer noch, die andere an der University of Sussex (Brighton) wurde von Polizei und privaten Sicherheitsdiensten brutal zerschlagen. Es gab auch einen eintägigen Streik von Universitäts- und ErwachsenenbildungsdozentInnen am Tag vor der Wahl, eine Art symbolische "Warnung"; ebenso wie der Streik der Öffentlicher Dienst-Gewerkschaft PCS am Tag, als im Parlament der Haushalt vorgestellt wurde.

Ach ja, es fand auch eine Parlamentswahl statt. Am wichtigsten daran ist, dass sie vorbei ist, damit die siegreiche Mannschaft das Land endlich unter Konkursverwaltung stellen kann. Das uneindeutige Ergebnis - und seine reibungslose Auflösung spiegeln wider, dass die drei großen Parteien sich von vornherein völlig einig sind, wenn es um die folgende Binsenweisheit eines Guardian-Journalisten geht: "Die mächtigste Kraft in der britischen Politik ist der Anleihenmarkt." Aus diesem Schema versuchte keine Partei während des Wahlkampfs auch nur scheinbar nationalistisch-sozialdemokratisch auszubrechen. Andererseits traute sich aber auch keine, ihr Mitmachen als Tugend zu verkaufen, indem sie etwa offen Begeisterung für eine "strenge" Politik à la Thatcher gezeigt hätte. So holten alle Parteien bekannte New Labour-Motive hervor wie "Gerechtigkeit" (wobei es nur um Bestrafung geht, wie die von allen Parteien geschätzten behaviouristischen Ökonomen wie Akerlof und Shiller betonen), "hart arbeitende Familien", "mehr Macht für die Community" usw. (Dieser letztere Punkt zeigt, dass die Zukunft des "dritten Sektors", an den der Staat seine Funktionen auslagert, gesichert ist - eigentlich klar, wenn man bedenkt, dass der Staat immer mehr Schulden außerhalb der offiziellen Haushalte aufnehmen muss.) Ein paarmal haben die Tories von "Disziplin" gesprochen, aber dabei ging es nicht um Haushaltsdisziplin, sondern um autoritäre Lehrer.

Da alle Parteien sich einmütig den "wirtschaftlichen Notwendigkeiten" bzw. schlicht dem Anleihenmarkt unterwarfen, war für ideologische Unterschiede sowieso kein Platz. Bei mehreren Umfragen vor der Wahl wurde deutlich, wie dieser Ansatz aus Politikersicht funktioniert: Die Idee, dass "die öffentlichen Ausgaben begrenzt werden müssen, um die Staatsschulden zu bedienen", ist dermaßen breit akzeptiert, dass die Wahlkämpfer abstrakt darüber reden konnten, ohne irgendein Risiko einzugehen. Sobald es um irgendwelche bestimmten materiellen Folgen dieses Leitsatzes ging, hörte die Toleranz der Öffentlichkeit aber schlagartig auf. Es wird sich zeigen, inwieweit diese gesunde Intoleranz sich in Handlungen in der wirklichen Welt niederschlägt.


Anmerkungen

1) Das Fordwerk mit früher einmal 40.000 ArbeiterInnen wurde 2002 dicht gemacht. Zur Geschichte der explosiven ArbeiterInnenkämpfe im Werk siehe:
Ferruccio Gambino, Workers' struggles and the development of Ford in Britain, http://libcom.org/tags/ferruccio-gambino.

2) "Thesen zur globalen Krise", Wildcat 83, Frühjahr 2009, http://www.wildcat-www.de/aktuell/a073_krise_15thesen.htm.

3) Aspirational: Als aspirational bezeichnen Soziologen, Politiker und Journalisten Menschen oder "hart arbeitende Familien", die sozial aufsteigen wollen. Das hört sich noch etwas beeindruckender an, weil auf Englisch sowohl ein Subjekt als auch ein Objekt aspiration haben kann (z.B. werden Luxuskonsumgüter als aspirational bezeichnet - auf Deutsch so etwas wie "erstrebenswert"). "Aspirationale" Menschen bersten vor aspiration und geben weiter unten stehenden ProletarierInnen damit ein gesundes Beispiel.

4) siehe Fußnote 2.

5) "The red shoots of resistance?", Aufheben 18, http://libcom.org/aufheben/

6) Zu Visteon siehe "Ein post-fordistischer Streik", Wildcat 84, Sommer 2009. Zu Berichten über die zweite wilde Streikwelle in den Raffinerien siehe
http://libcom.org/news/total-unions-reach-deal-oil-refinery-wildcats-26062009Lindsey. Dieser Artikel enthält auch Links zu früheren Medienberichten.
Zu den Schulbesetzungen siehe http://libcom.org/forums/news/school-occupations-glasgow-04042009 (ein Forum mit Links zu älteren News-Posts).
Zu Vestas siehe http://libcom.org/news/vestas-occupiers-sacked-31072009.

7) Siehe den bereits erwähnten Aufheben-Artikel.

8) Ein relativ seltener Arbeitskampf im Privatsektor fand bei British Airways statt, wo das Flugbegleitpersonal entschlossen war, mit Hilfe eines Weihnachtsstreiks die Verringerung der Besatzungsstärke auf Langstreckenflügen zu verhindern, die laut Airline nötig war, um in der branchenweiten Profitkrise "konkurrenzfähig" zu bleiben. BA stoppte den Streik letztlich mit Hilfe einer einstweiligen Verfügung, die sich angeblich gegen Verfahrensmängel bei der Urabstimmung richtete, vom Richter aber mit der Beeinträchtigung der Fluggäste usw. begründet wurde. Es folgte eine neue Urabstimmung, aber anscheinend hatte die Gewerkschaft Unite ihre Hausaufgaben gemacht und schloss von vornherein einen Streik über Ostern aus. Eine ganz große Mehrheit stimmte für Streik, also hat Unite den Streik erstmal nur "ausgesetzt".

9) Die Verweise auf die Kämpfe der jüngsten Zeit in diesem Artikel erheben keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder auch nur korrekte Beschreibungen. Im besten Fall können sie als Hinweis auf einige im letzten Jahr sichtbar gewordene Tendenzen dienen.

10) Bei der ehemaligen Metronet, einer im Zuge von Public Private Partnerships auslagerten Wartungs- und Dienstleistungsfirma, die nach nicht allzu langer Zeit in Insolvenz ging und dann teuer re-kommunalisiert wurde.

11) Kommentare in Internettoren über den Müllabfuhrstreik in Leeds kamen alle aus der direkten Umgebung, da sonst fast nirgends davon berichtet worden war. Einerseits wurden dabei ähnliche Ansichten laut, wie sie gegen die Streikenden bei der Londoner U-Bahn geäußert worden waren, andererseits gab es Solidaritätserklärungen, oft von anderen Beschäftigten im Öffentlichen Dienst, die selbst mit ähnlichen Angriffen rechnen.

12) Welche Blüten diese Denkart treibt, wurde kürzlich bei einem Aufschrei über Abgeordnetenspesen sichtbar. Ein Abgeordneter hatte sich beschwert, wenn ihm sein Freifahrschein Erster Klasse weggenommen würde, müsste er mit "ganz andersartigen Menschen" im selben Abteil sitzen. Daraufhin erklärte ein Leserbriefschreiber an den Evening Standard im Namen aller "normalen Menschen", das Unglaubliche sei nicht etwa der Horror des Politikers vor normalen Bürgern und noch nicht mal die Einrichtung von leeren Erste-Klasse-Abteilen in überfüllten, überteuerten Zügen, sondern die Vorstellung, dass der Abgeordnete für seine Spezialfahrkarte nicht selbst bezahlen müsste. Klassenprivilegien sind vollkommen in Ordnung und natürlich, solange sie eine Belohnung für Leistung darstellen.

13) Es macht nichts, dass diese Gleichung selbst nach orthodoxen wirtschaftswissenschaftlichen Begriffen keinen Sinn ergibt. Vielmehr geht es darum, dass die ständigen Umfragen und die Analysen der allerteuersten Politikberater ergeben haben, dass man mit dieser Politik bzw. mit dem direkten Transfer von Reichtum von unten nach oben am ehesten die Stimmen dieser Arbeiter gewinnt.

14) Die gesamte mainstream Öffentlichkeit ist sich einig darüber, dass der Staat die Klasse angreifen (bzw. "den Haushalt konsolidieren") muss, und zwar möglichst umgehend. Uneinigkeit besteht höchstens über das Ausmaß und den zeitlichen Ablauf des Angriffs. Was in der orthodoxen Debatte sehr viel umstrittener ist, ist die Frage, wieviel der "politische Fix" an der zugrunde liegenden Akkumulationskrise ändern kann. Viele Keynesianer und einige monetaristische "Experten" für "kreative Zerstörung", die alle unbedingt den Kapitalismus retten wollen, sind überzeugt, dass der "politische Fix" überhaupt nichts bringt und die Akkumulationskrise nach dem Verpuffen der "Konjunkturpakete" weiter mit voller Wucht die "Realwirtschaft" abwickeln wird.

15) Manchmal ist die Rede von "John Lewis"-Gemeindeverwaltungen. Das bezieht sich auf ein im 19. Jahrhundert gegründetes Kaufhaus mit genossenschaftlicher Struktur. Passender wäre vielleicht der historische Bezug zu den genossenschaftlichen "Bausparkassen", die um dieselbe Zeit herum gegründet wurden und sich dann in den 1990er Jahren in rücksichtslose spezialisierte Hypothekenbanken wie ... Northern Rock verwandelten.

16) Beim System der personal pension accounts werden von allen Löhnen automatisch Beiträge abgezogen und in ein börsenbasiertes Rentensystem übertragen - außer die LohnempfängerIn widerspricht ausdrücklich.

17) "Hard to reach": Ein Begriff aus dem Sozialwesen/Strafvollzug für die Leute mit dem höchsten "Risiko" nicht nur in Bezug auf Arbeitsdisziplin, sondern auch in Bezug auf das "Fordern und Fördern", das sie "für den Arbeitsmarkt bereit" machen soll. Siehe Wildcat 84 (Sommer 2009): "Großbritannien: Staatliche Kontrolle und proletarische Reproduktion".

18) Es ist nicht bekannt, ob als virtuelle wehrpflichtige Feinde schon jetzt Argentinier zum Einsatz kommen, obwohl die Neuauflage der Malvinen-Pantomime doch gerade erst anläuft. Die britische Firma Desire Petroleum hat begonnen, vor den Malvinen/Falkland-Inseln nach Öl zu bohren. Argentinien will alle "notwendigen Maßnahmen" ergreifen, um die Bohrung in dem umstrittenen Gebiet zu stoppen. Bisher hat es die Sache vor die UN getragen und von anderen lateinamerikanischen Regierungen rhetorische Unterstützung eingeholt. Der britische Außenminister verspricht "alle notwendigen Schritte zum Schutz der Inseln", und der Daily Telegraph berichtete am 18. Februar aufgeregt. die Kriegsschiffe seien "in Alarmbereitschaft".

19) Offizielle Studierendenvertretung, ähnlich wie der deutsche AStA.

Raute

"Besser arbeitslos in Irland als Arbeiter in Polen"

Mit dem EU-Beitritt von zehn ost- und südosteuropäischen Staaten 2004 haben die dortigen ArbeiterInnen Zugang zum Arbeitsmarkt der meisten alten EU-Staaten bekommen. Seitdem sind Millionen von Menschen dauerhaft oder zeitweilig ausgewandert, hauptsächlich nach Großbritannien und Irland. Allein in Irland hatten sich bis 2009 etwa 250.000 polnische sowie weitere zigtausend lettische, litauische, slowakische, ungarische und rumänische ArbeiterInnen registriert - und das in einem Land mit 4,5 Millionen EinwohnerInnen.

Irland hatte sich in den 90er Jahren vom Auswanderungsland zum "keltischen Tiger" gemacht und mit niedrigen Steuern und billigen Arbeitskräften Exportindustrien und leicht auszulagernde Dienstleistungen wie englischsprachige Back Offices und Call Center angezogen. Dieser Boom mit schnell steigenden Löhnen ging schon seinem Ende entgegen, als die billigen ArbeiterInnen aus Osteuropa ihm noch mal eine Verlängerung verschafften.

Die Auswanderung senkte die osteuropäischen Arbeitslosenquoten (in Polen von 20 Prozent 2004 auf 9,1 Prozent 2008) und ließ die Konfliktbereitschaft der Daheimgebliebenen wachsen. Ab 2006 gab es deutliche Lohnsteigerungen - meist bevor es zu offenen Auseinandersetzungen kam. Der Kriseneinbruch 2008 stoppte dann die Auswanderung. Die immer wieder vorhergesagte große Rückkehrwelle scheint aber ausgeblieben zu sein. Inzwischen sieht es so aus, als würden die meisten osteuropäischen Auswanderer in der Krise erst recht im Ausland bleiben - ähnlich wie die türkischen "Gastarbeiter" in der BRD beim Kriseneinbruch 1974.

Zum Stillstand gekommen ist auch die Lohndynamik in Polen, selbst wenn Polen als einziges EU-Land im Krisenjahr 2009 kein Schrumpfen des BIP zu verzeichnen hatte und von seinem Ministerpräsidenten bereits als "Gewinner der Krise" gehypt wurde. Tatsächlich konnte Polen - im Gegensatz etwa zu Griechenland - seine Währung abwerten und damit seine Exporte verbilligen. Damit sanken allerdings gleichzeitig die faktischen Einkommen, weil sich die Importwaren wie Energie ebenso wie die in Euro und Schweizer Franken aufgenommenen Wohnungskredite der Mittelschichten verteuerten. "Gewinner der Krise" sind Polen und andere osteuropäische Länder auch hinsichtlich der Produktionsverlagerungen z.B. in der Autoindustrie, die sich in der Krise noch beschleunigt haben. Während Opel sein Werk in Antwerpen zum Jahresende schließen will, hat das Werk in Gliwice Mitte März die dritte Schicht wieder eingeführt und 600 neue Leute eingestellt. Diese Jobs sind aber wie ein Großteil der neuen Jobs der letzten Jahre bei Leiharbeitsfirmen entstanden und selbst nach polnischen Standards außerordentlich schlecht bezahlt.

Den einstigen "keltischen Tiger" hat die Krise hart getroffen. Im Kern war der irische Boom durch eine gewaltige Immobilienblase finanziert, die die der USA bei weitem übertraf und der spanischen gleichkam.

2009 stieg das Haushaltsdefizit auf 14,3 Prozent des BIP, das im Vergleich zum Vorjahr um 7,1 Prozent zurückging. Irlands Bankensystem hängt wie kein anderes am EZB-Liquiditätstropf; die Arbeitslosenquote hat sich in zwei Jahren verdreifacht, kein Wunder: mit einem Exportanteil von 86 Prozent am BIP liegt Irland noch weit vor der BRD. Es wurde als klarer "Über-Verlierer der Krise" betrachtet und zusammen mit Griechenland, Spanien, Italien und Portugal in der Gruppe der von Staatspleite bedrohten "PIIGS-Staaten" verortet.

Die irische Regierung hat als erste einen hammerharten Sanierungskurs eingeschlagen und wurde im April "den Griechen" als gutes Beispiel vorgehalten: massive Sparpolitik durch Kürzung der Gehälter im Öffentlichen Dienst, Absenkung von Sozialleistungen wie Kindergeld, Heraufsetzen des Rentenalters. Irland profitiert von seinem Vorpreschen und hat bisher keine Refinanzierungsprobleme wie etwa Griechenland und Portugal. Anhand von Irland wird man aber auch als erstes studieren können, ob diese Sparpolitik nicht in eine Abwärtsspirale führt: geringere Steuereinnahmen, Verschärfung der Staatsschulden...


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Wie die Situation aus der Perspektive von polnischen Auswanderern aussieht, erzählen in den nachfolgendenen Interviews zwei Mitglieder der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft Inicjatywa Pracownicza (Arbeiterinitiative).

INTERVIEW 1

Interview mit R.S., in Irland von 2004 bis 2009. Initiator mehrerer Streiks von polnischen und osteuropäischen EmigrantInnen in Irland, u.a. bei Tesco Distribution.


Wie siehst du die aktuelle Situation der polnischen ArbeitsemigrantInnen in Irland und Großbritannien?

Als ich Ende April 2009 aus Irland weggegangen bin, war ich auf Arbeitslosengeld. Ich bin aus persönlichen Gründen nach Polen zurückgegangen, denn objektiv gesehen geht es einem Arbeitslosen in Irland besser als einem durchschnittlichen Arbeiter in Polen.

Fakt ist, dass die Wirtschaft in Irland zusammengebrochen ist. Als ich 2004 dorthin kam, lag die Arbeitslosigkeit bei etwa 3 Prozent, jetzt sind es über 10 Prozent. Freunde, die noch da sind, erzählen, dass reihenweise Fabriken und andere Betriebe geschlossen werden. Wer seinen Job verliert, hat große Probleme, einen neuen zu finden. Das trifft auch die Iren und Immigranten aus anderen Ländern. In England sieht es angeblich ähnlich aus, dort sind die Sozialleistungen für Arbeitslose allerdings wesentlich schlechter.

Das Ende des Booms auf den Inseln hieß für die Immigranten, dass sie dezimiert und nach Hause oder in andere Ecken der Welt geschickt wurden. Als 2008 der Bauboom in Irland plötzlich zu Ende war, sind die polnischen Arbeiter aus meinem Stadtteil reihenweise nach Polen zurückgekehrt oder nach Norwegen weitergezogen, wo ihre Arbeit immer noch nachgefragt wurde. Ähnliches war in allen Stadtteilen von Dublin und in allen Teilen von Irland zu beobachten. Der Bauboom in Irland war ein künstlich aufgepumpter Ballon, es wurden tausende von Wohnungen gebaut, die jetzt leer stehen und verfallen. Insgesamt haben die polnischen Zimmerleute und Maurer an diesem seltsamen Phänomen gut verdient. Es gab ein paar fette Jahre, in denen man eine konkrete Summe in Euro verdienen und ein Stück von einer besseren Welt sehen konnte. Mit dem Wegzug zehntausender Bauarbeiter ging dann auch für die Läden, Kneipen, Hostels und den ganzen Dienstleistungsbereich die goldene Zeit zuende.

Wie ist das, wenn man nach Polen zurückkommt?

Manche von denen, die nach Polen zurückgekehrt sind, hatten konsequent so viel Geld verdient, dass sie ihre Pläne verwirklichen konnten und in Polen ein Haus bauen, ein Auto kaufen, eine eigene Firma aufmachen oder sieh erstmal zwei, drei Jahre "dem Nichtstun hingeben" konnten, solche Leute kenne ich auch. Andere waren weniger konsequent und eher partyorientiert und stehen in Polen jetzt wieder genauso mies da wie vorher. Noch andere, aber wenige, sind in der Emigration geblieben und haben die Branche gewechselt. Auf den Inseln sind hauptsächlich diejenigen geblieben, die immer noch Arbeit haben. Das ist eine vernünftige Entscheidung, denn die schlimmste Krise in Irland ist immer noch besser als der größte Boom in Polen. Das liegt an den im Westen durchgesetzten Standards.

Mit was für Erfahrungen kommen die Leute Deiner Meinung nach zurück? Sind sie kritischer gegenüber dem kapitalistischen System oder erst recht überzeugt, wie der polnische Ministerpräsident Tusk meinte?

Das kann man noch gar nicht sagen. Ich glaube nicht, dass noch irgendjemand Tusk ernst nimmt, aber andererseits würde ich von unseren Landsleuten auch keine allzu tiefe Reflexionen ihrer Emigrationserfahrungen erwarten. Viele denken gerade mal so weit, dass es im Westen gut ist und man da Geld verdienen kann, während es in Polen düster aussieht. Aber sie denken nicht drüber nach, warum das so ist. Bestimmt lassen sich aber auch kritische Emigranten finden, die sich Gedanken über die Ursachen der gesellschaftlichen Entwicklungen machen. Ich habe auch die Hoffnung, dass all die Leute, die in Irland und Großbritannien bei Leiharbeitsfirmen gearbeitet und (so wie ich) die ganzen Ungerechtigkeiten und Erniedrigungen da mitgekriegt haben, in Polen Widerstand leisten und sich an unserer Kampagne gegen die Leiharbeitsfirmen beteiligen. Ich bin überzeugt, dass besonders die Jüngeren nach ihren Erfahrungen im Westen bestimmte polnische Standards nicht mehr hinnehmen werden. Dabei geht es allerdings eher um Alltagskultur und Konsum als um Politik. Außerdem wird ein ehemaliger Emigrant, der in Dublin oder London gelebt hat, nie wieder dumm glotzen, wenn er in seinem Kaff einen Menschen mit schwarzer Hautfarbe sieht.

Wie werden sich die Erfahrungen, die die Leute in Irland gemacht haben, auf ihre Haltung im Betrieb in Polen auswirken? Werden sie nachgiebiger oder radikaler?

Da bin ich Optimist. Wer schon mal ohne größeren Stress 400 und mit etwas mehr Mühe sogar 800 oder 1000 Euro in der Woche verdient hat (natürlich mit Überstunden) und sich jetzt für 1500 Zloty [400 Euro] im Monat den Arsch aufreißen soll, der wird schon beim bloßen Gedanken daran wütend. Dazu kommt die Art, wie Arbeiter in Polen behandelt werden, diese gottgleiche Stellung der Chefs überall. Außerdem die miesen Arbeitsbedingungen, das überall durchgepeitschte irre Arbeitstempo und der Stress. Da kann man nur depressiv werden oder anfangen zu kämpfen. Ich denke, unter dem Strich war und ist die Große Emigration für die Polen aufjeden Fall ein Plus.

Die Polen rennen den Gewerkschaften ja nicht gerade die Türen ein. Ist das in Irland ähnlich?

Das stimmt, die Polen treten meistens erst dann in Gewerkschaften ein, wenn sie ein echtes Problem haben. Kleinere Formen von Ausbeutung nehmen sie geduldig hin. Leider zeigt sich diese Tendenz auch bei den Iren. Der gewerkschaftliche Organisierungsgrad nimmt ab. Ich habe den Eindruck, dass das aus der Boomphase kommt. Angesichts des allgemeinen Wohlstands sah es vielleicht so aus, als wären die Gewerkschaften überflüssig. Ich glaube aber an eine Renaissance der Arbeiterbewegung, und zwar proportional zur Größe der Krise.

Noch mal zurück zur Organisierung der Polen in Irland: Für viele ist der Punkt, wo sie sich Informationen holen und austauschen, die polnische Kirche in Dublin. Dort gibt es Infos zum Arbeitsrecht. Selbst bin ich nie drin gewesen, aber Freunde von mir waren da, und in auslandspolnischen Medien habe ich immer wieder Ankündigungen von Treffen verschiedener Initiativen gelesen, nicht nur von Gebetskreisen. In den meisten auslandspolnischen Zeitungen gibt es ebenfalls Arbeitsrechtstipps.

Wie stehen die ArbeiterInnen und generell die irische Gesellschaft zu den Polen, zur neuen Immigrationswelle? In Großbritannien gab es schon Fälle von Rassismus gegen Polen. Gibt es das auch in Irland?

Ich halte den Rassismus in Irland für eine echte Randerscheinung. Die Iren sind sehr freundlich und offen, besonders gegenüber uns Polen, auch wegen der ähnlichen Geschichte und der gemeinsamen Religion. Die Iren wandern selbst seit Jahrhunderten aus und wissen, wie hart es ist, sich sein Brot zu verdienen. Während meiner fünf Jahre auf der Insel habe ich nie Rassismus zu spüren bekommen. Meiner Meinung nach halten uns die Iren für naive Workaholics, die unbedingt Geld brauchen und für Niedriglöhne die miesesten Arbeiten machen, zum Beispiel bei abzockerischen Leiharbeitsfirmen. Dabei gelten wir gleichzeitig als gute, gewissenhafte Arbeiter.

In Großbritannien ist das völlig anders. Da herrscht nicht so eine Atmosphäre von Gleichheit. Die Briten haben etliche nationalistische Traditionen, die jetzt - mit der Krise - wieder aufleben. Mein Freund Ray von der Independent Workers Union, der inzwischen über 60 Jahre auf dem Buckel hat, hat kürzlich davon erzählt, wie er in jungen Jahren in Großbritannien auf dem Bau arbeitete und wie dort die Iren behandelt wurden. Für ihn war es meistens ziemlich beschissen und endete oft mit Prügeleien, und Ray ist bis heute ein harter Brocken ­...


*


INTERVIEW 2

Interview mit R.L., in Irland seit 2005, Aktivist aus der anarchistischen Szene in Poznan, beteiligt an vielen ArbeiterInnenprotesten in Polen v.a. in den Jahren 2002-03.


Du arbeitest immer noch in Irland, obwohl viele Leute, die dorthin ausgewandert waren, sich schon One-Way-Tickets zurück nach Polen gekauft haben. Wie siehst du die aktuelle Situation der polnischen bzw. generell der mittel- und osteuropäischen ArbeiterInnen in Irland?

Ich bin vor fast fünf Jahren ausgewandert, aber ich habe nicht zur ersten Welle der polnischen Emigranten gehört, die sich gleich nach dem 1. Mai 2004 mit besseren Arbeitsbedingungen "reingemogelt" haben, während in Irland ein riesiger Arbeitskräftemangel herrschte. Ich gehörte zur zweiten Welle, für die die Situation schon ein bisschen schlechter war. Die erste Welle hat es oft geschafft, feste Arbeitsverträge zu kriegen, oder wenn schon bei Leiharbeitsfirmen, dann mit vertraglich garantierter Mindestzahl von 35 Wochenstunden (so wie in meinem aktuellen Betrieb). Wir aus der zweiten Welle haben nur noch 25 bis 30 Stunden garantiert bekommen, andere noch weniger.

Wo arbeitest du aktuell?

Seit einiger Zeit bin ich beim Hypermarkt Tesco beschäftigt. Das sind in Irland aber kleinere Läden als in Polen. Hier arbeiten ca. 100 Leute. In der Nachtschicht sind wir 30 - zwei Manager und 28 Arbeiter, davon sind 80 bis 90 Prozent Ausländer, zwei aus Bangladesch, ein Ungar, ein Tscheche, zwei aus Lettland, früher drei,jetzt vier bis fünf Iren; der Rest sind Polen.

Wie sehen die Löhne bei euch aus?

Ich arbeite Dauernachtschicht, d.h. unter sogenannten "asocial"-Bedingungen, bei denen man kein normales Leben z.B. im Sinne eines Familienlebens führen kann. Dabei verdiene ich knapp 15 Euro die Stunde. Tagsüber würde ich natürlich deutlich weniger kriegen.

Wie schätzt du die aktuelle Situation im Betrieb ein?

Wir Polen haben die Arbeitsbedingungen radikal kaputtgemacht, indem wir "zu gut" arbeiteten, d.h. nicht nur die Polen, sondern ganz allgemein Leute aus Mittel- und Osteuropa, wobei die große Mehrheit davon hier eben Polen sind. Ich weiß nicht, woran das liegt. Schon als wir irische Manager über uns hatten, haben wir selbst das Arbeitstempo erhöht. Wir haben gezeigt, dass man mehr und schneller arbeiten kann. Das fiel damals schon auf aber zur Katastrophe wurde es, als polnische Manager kamen, die wussten, dass man uns noch stärker ausquetschen kann. Der erste polnische Schichtleiter, der bei uns in der Nachtschicht arbeitete, hatte vorher in Polen bei [der für ihre miesen Arbeitsbedingungen berüchtigten polnischen Supermarktkette] Biedronka gearbeitet und hatte einschlägige Erfahrungen. Er hat in unserer Filiale die größten Verschlechterungen für die Arbeiter gebracht. Diese zugewanderten Manager wollen sich auf dem Rücken der normalen Arbeiter auszeichnen und zeigen, wie super sie sind. In Irland herrscht im Betrieb ein anderer Umgangston als in Polen. Der irische Manager hat sich nach dem Schichtende bedankt: "Thank you for your good job". Die polnischen Manager haben ihren schlechten Umgangston mit hergebracht. Wenn ein irischer Manager etwas wollte, sagte er: "Can you do this please?" Bei einem polnischen Manager heißt das: "Verfluchte Scheiße, mach das!"

Wie hat sich die jüngste Krise auf die Arbeitsbedingungen ausgewirkt?

Erstens hat die irische Regierung angekündigt, weniger Arbeitserlaubnisse an diejenigen auszustellen, die welche brauchen (z.B. Chinesen). Studentenvisa für Leute aus Nicht-EU-Ländern sollen ebenfalls restriktiver ausgestellt werden. Eine nationalistische Partei hat sogar gefordert, den irischen Arbeitsmarkt für Arbeiter aus der EU dichtzumachen (was formal nicht geht). Eine andere Idee war, EU-Arbeitern nur so viel zu zahlen, wie sie bei sich zu Hause verdienen würden. Wirtschaftlich gesehen wäre das natürlich absurd, denn wir fliegen ja nicht zum Mittagessen nach Polen. Wir geben das Geld in Irland aus, also müssen wir genauso viel verdienen wie die Iren.

Sind viele Leute aus Irland nach Polen zurückgekehrt?

Die Größenordnung der Rückkehrbewegungen kann ich nur schwer einschätzen. Tesco als Firma hat von der Krise sogar profitiert, zu Anfang haben sie geklagt, aber dann ist es für sie besser geworden. [...] Persönlich habe ich die Krise auch nicht im Geldbeutel gespürt. Ich kenne nicht allzu viele Leute, die das Land verlassen haben, aber ich arbeite eben auch in dieser speziellen Branche.

Ich habe aber z.B. gehört, dass viele Leute, die hier geputzt haben, zurückgekehrt sind, weil sie den Job verloren haben oder ihre Arbeitsbedingungen schlechter geworden sind. Eine Zeitlang ist dieser Abfluss sogar sichtbar geworden, aber inzwischen ist die Lücke, die die Polen hinterlassen haben, von den Rumänen teilweise aufgefüllt worden. Das sieht man auch an der Bewohnerstruktur in dem Haus und in dem Viertel, wo ich wohne.

Durch die Krise haben sich auch die sozialstaatlichen Bedingungen in Irland verschlechtert. Für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld muss man nicht mehr wie früher ein Jahr gearbeitet haben, sondern zwei. Die Bezugsdauer wurde gekürzt, die Bedingungen verschärft, und man hat auch keinen automatischen Anspruch mehr. Auch die Zeit, die man gearbeitet haben muss, um Anspruch auf eine irische Rente zu erwerben, wurde von fünf auf zehn Jahre verlängert. Das betrifft mich persönlich, denn ich hätte in diesem Jahr meine fünf Jahre voll gehabt, und gerade jetzt wird es geändert. Auch Kindergeld, Wohngeld und Zuschüsse für alleinerziehende Mütter usw. wurden gekürzt.

Letzten Herbst gab es in Irland deswegen mehrere große Arbeiterdemonstrationen

Ich war auf einer davon, eine irlandweite Demo mit über 100.000 Teilnehmern, was bei vier bis fünf Millionen Einwohnern wirklich viel ist. Neben Gewerkschaften und linken Parteien gab es auch einen anarchosyndikalistischen Block am Ende der Demo. Tatsächlich gab es in der zweiten Jahreshälfte 2009 eine Welle von Protesten, kleinere Proteste in Betrieben, wo Leute entlassen wurden, und die Taxifahrer haben zweimal mit Streiks Dublin lahmgelegt. Ich wohne allerdings nicht in der Hauptstadt, sondern in einer Kleinstadt mit 50.000 Einwohnern, wo nicht so viel los war.

Dahinter stehen aber Prozesse, die schon lange laufen. Als ich das erste Mal mit meinem Cousin in Irland war, bekam er irgendwann einen Anruf, dass er den Job verliert, weil die Fabrik nach Ungarn verlagert wird. Ich habe damals in einem Betrieb angefangen, wo Handy-Gehäuse hergestellt wurden, der ist auch schon nicht mehr in Irland. Sehr sehr viele Fabriken haben dicht gemacht, mit den entsprechenden Massenentlassungen. Insofern hat dieser Prozess schon vor vielen Jahren angefangen. Ich denke, dass Irland sich eine Zeit lang noch durch den gewaltigen Zufluss an billigen Arbeitskräften entwickelt hat. Während das Kapital schon anfing massenhaft zu fliehen, haben wir die irische Wirtschaft von der anderen Seite "aufgeladen". Zuerst hat sich Irland durch den Impuls entwickelt, den ihm der Beitritt zur EU gegeben hat: als kleines Land, das riesige Finanzhilfen bekommen hat und dazu noch die Überweisungen der Iren im Ausland. Und dann dank der billigen Arbeitskräfte aus Mittel- und Osteuropa, die in den Fabriken v.a. der Elektroindustrie beschäftigt sind, wo u.a. für den EU-Markt produziert wird.

Aber inzwischen konkurrieren die Iren mit den Immigranten um die schlechteren Arbeitsplätze (z.B. in der Nachtschicht und am Wochenende). Zunehmend werden Iren auf Arbeitsplätzen eingestellt, die bisher für Immigranten reserviert waren. Das heißt, dass der Arbeitsmarkt auf der Grünen Insel geschrumpft ist.

Wie sehen sieh die Polen selbst im Verhältnis zu den Problemen in Irland?

Ich sehe das natürlich aus der Warte eines "Packers in der Nachtschicht". Es gibt auch beruflich oder sogar sozial besser gestellte Polen, aber die meisten landen doch in solchen Jobs wie ich. Da sie nachts arbeiten, müssen sie den halben Tag schlafen, und die andere Hälfte sitzen sie im Pub oder eher noch zu Hause auf irgendwelchen kleinen Privatparties und trinken. Obwohl die Polen allgemein eher sparsam leben und das verdiente Geld "in den Sparstrumpf stecken".

Über Irland selbst wissen sie wenig, sie sind nicht neugierig auf die Welt. Sie gucken sich nichts an. Anfangs war das noch zu verstehen, weil sie ihren Aufenthalt vielleicht als etwas Vorübergehendes behandelten, aber meinem Eindruck nach reden sie immer öfter davon, paradoxerweise auch angesichts der Krise, dass sie auf Dauer dableiben wollen. Andererseits ziehen sie schrecklich über Polen her. Mich ärgert das. Seit fünf Jahren sind sie in Irland, und ständig lamentieren sie über Polen. Meiner Meinung nach kommt das daher, dass die Emigranten in Irland polnisches Fernsehen haben und nichts anderes gucken. Sie gucken kein irisches Fernsehen, sie lesen keine irische Presse. Die Polen kriegen nichts mit von den teilweise sehr heftigen irischen Debatten z.B. darüber, dass Irland das höchste Pro-Kopf-Haushaltsdefizit in Europa hat. Die Polen wissen das nicht, sie leben im polnischen Haushaltsloch, obwohl sie seit fünf Jahren auf der Grünen Insel wohnen und für immer hier bleiben wollen. Sie gucken polnische Unterhaltungssendungen im Fernsehen und reden zu Hause polnisch, mehr nicht. Ich finde das schockierend.

Also könnte man sagen, der polnische Emigrant arbeitet in Irland, aber lebt in Polen?

Ja, das ist so ein Leben in der Grätsche.


Randnotizen

Die Interviews sind ein leicht gekürzter Vorabdruck aus der im Juni erscheinenden Nr. 11 der Zeitschrift Przeglad Anarchistyczny (Anarchistische Rundschau www.przeglad-anarchistyczny.org).

Wildcat 74: "Wir picken 800. Kein Stück mehr." Interview mit einem polnischen Leiharbeiter in Irland. Online unter www.wildcat-www.de

"Polish Workers Against Exploitation" bei einer Demonstration in Dublin 2005

1. Mai 2004: Beitritt Polens zur EU

Raute

Der iranische Aufstand vom Bahman 1357 (Februar 1979)

Vorgeschichte und Kräfte im Konflikt

Der Aufstand vom Bahman 1357 bildet den wichtigsten Abschnitt der iranischen Revolution in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er wurde in der Folgezeit aus mehreren Perspektiven erklärt und bewertet. Die Ideologen auf der politischen Rechten (die Ideologen des islamischen Staats inbegriffen) halten an der Vorstellung von einem "Sieg der islamischen Revolution" fest. Weitverbreitet - auch in Kreisen der Linken - ist die Auffassung, hier habe keine Revolution, sondern eine Inszenierung durch Mullahs stattgefunden, die von ausländischen Mächten unterstützt wurden. Die Niederlage der revolutionären Bewegung hat solchen Interpretationen den Weg bereitet. Doch diese Einschätzungen verdecken eher die Wirklichkeit des Aufstands, als dass sie ihn erklären. Was hat sich im Februar 1979 ereignet?

In der zweiten Hälfte des Jahres 1978 entwickelten sich Massenstreiks. Besonders die Streiks der Ölarbeiter, die nicht zerschlagen werden konnten, zersetzten die Machtbasis des Schah-Regimes. Die westlichen Garanten des Herrschers bereiteten einen Übergang der Staatsgewalt an den in Paris exilierten Chomeini und seine liberalen Verbündeten vor.

Am 16. Januar 1979 musste der Schah als entscheidende Symbolfigur das Land verlassen. Er hinterließ den Machtapparat seines Regimes, der unter Führung des Ministerpräsidenten Bachtiar die sich entwickelnde Revolution eindämmen sollte. In den folgenden Wochen versuchte General Huyser, ein amerikanischer Führungsoffizier der NATO, in Teheran den friedlichen Machtwechsel durch Verhandlungen mit Armeeführern, Bachtiar und Chomeinis Favorit Basargan vorzubereiten.

Die zwischen Chomeini und Bachtiar geplanten Verhandlungen in Paris wurden durch Massenaktionen und durch Schüsse der Armee auf Demonstranten verhindert. Denn Chomeini wollte die Kraft der Bewegung nicht brechen, sondern sie für die Zwecke seiner Machtübernahme benutzen. Die Massenaktionen hatten Chomeini dazu gezwungen, jeden Anschein einer Kontinuität zwischen dem alten Regime und ihm selbst zu vermeiden.

Chomeini kehrte am 1. Februar 1979 nach Teheran zurück. Er und die Mullahs wurden getrieben von der Sorge vor einer weiteren Radikalisierung der Bewegung und wollten deshalb schnell wieder geordnete Verhältnisse herstellen. Dazu war die Neutralisierung der Armee nötig. Am 5. Februar 1979 ernannte Chomeini Basargan zum Premierminister des Übergangs und warb um Unterstützung für ihn. Basargan versuchte, die Arbeiter (und besonders die Ölarbeiter) zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen. Die Mullahs gingen für Basargan auf die Straße und bevormundeten die Demos.

Über Verhandlungen um die friedliche Übergabe der Regierungsgeschäfte und Demonstrationen für die Basargan-Regierung vergingen einige Tage. Die verbliebenen Mitglieder des Parlaments, die sich zwischen Bachtiar und Basargan nicht entscheiden konnten, beurlaubten sich am 7. Februar auf unbestimmte Zeit.

Im revolutionären Prozess der vorausgegangenen Klassenkämpfe hatten sich auch die Staatsapparate und namentlich die Armee immer weiter zersetzt. Die letztere war ein Jahr lang gegen sämtliche Massenaktionen, Demos und Streiks eingesetzt worden. Sie hatte Tausende getötet und Unzählige verletzt. Nun streikten nicht nur die Angestellten in den Verwaltungen, sondern Soldaten und Offiziere der Streitkräfte desertierten. Solche Deserteure haben später im Aufstand eine wichtige Rolle gespielt. In bestimmten Einheiten der Armee, wie der Luftwaffe, stellten Flugtechniker (die "Homafaran") ökonomische und später auch politische Forderungen. Sie verstanden sich immer deutlicher als Teil der Massenbewegung - nach dem Aufstand gründeten die Homafaran Räte. Ihnen gegenüber standen Teile der Armeeführung und die weiterhin dem Schah loyale Gardetruppe. Sie alle leisteten gegen eine Neutralitätserklärung der Armee Widerstand.


Chronologie des Aufstands

Freitag, 20. Bahman (9. Februar)
Als spät abends der Befehlshaber der Luftstreitkräfte die Gardisten gegen die eigenmächtigen Homafaran zu Hilfe rief, kam es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung mit weitreichenden Folgen.(1) In der Situation, in der die revoltierenden Massen seit Monaten das Gefühl hatten, die Armee, SAVAK (Geheimdienst) und Polizei seien ohne Waffengewalt nicht zu bezwingen, war diese Auseinandersetzung der Funke am Pulverfass. In weniger als zwei Tagen vollzog sich nun die Bewaffnung der städtischen Bevölkerung im gesamten Iran. Die Bewohner des Viertels Farahabad, der Luftwaffensiedlung, mischten sich ein und wurden von den Homafaran mit Waffen versorgt. Wie ein Ölfleck breitete sich jetzt der Aufstand von Osten her über Teheran aus.

Samstag, 21. Bahman (10. Februar)
Die Militärbehörde zog die nächtliche Ausgangssperre auf 16:30 Uhr vor. Niemand kümmerte sich darum. Chomeini erklärte sie für illegal. Ständig fuhren Wagen durch die Straßen, besetzt mit jungen Männern, die Waffen hoch haltend. Schon bald waren überall die Straßen mit Barrikaden übersät. Die meisten Polizeiwachen und Armeekasernen wurden gestürmt. Die Polizisten hatten sich oft schon vorher aus dem Staub gemacht.

Die Mullahs, die sich unter die Aufständischen wagen konnten, gingen auf die Straße, um die Massen zu beruhigen: Der Imam habe nicht zum Dschibad gerufen.(2) Damit wollten sie zugleich den Aufstand auf ihre Linie bringen.

Sonntag, 22. Bahman (11. Februar)
An diesem Tag wurden Militärkasernen, Reste der städtischen Polizeistationen und der ländlichen Gendarmerien, der Rundfunk, das Fernsehen sowie Behörden gestürmt. Die US-Botschaft wurde belagert. Man schätzt, dass in Teheran jede/r zehnte Erwachsene im Besitz einer Waffe war.

Am späten Vormittag, nach zweitägigen blutigen Straßenkämpfen mit mehreren hundert Toten, erklärte die Armeeführung über den Rundfunk die Neutralität der Streitkräfte, und die Soldaten zogen sich in die Kasernen zurück. Bachtiar, der sich durch die Armee übergangen sah, floh aus dem umkämpften Regierungsgebäude. Der von Chomeini eingesetzte Revolutionsrat empfing eine Loyalitätserklärung der Armeeführung. Basargan übernahm jetzt offiziell die Regierungsgeschäfte.

Inzwischen gingen die Straßenkämpfe gegen dem Schah treue Armeeteile und Polizisten, Gardisten und Savakis weiter. Es ging um den ganzen alten Staatsapparat. Die Aufständischen nahmen die Hauptpolizei und Armeekaserne in Eschratabad in Besitz. Die zentrale Rundfunkstation wurde im Kampf erstürmt und besetzt. Dabei gab es Tote, unter ihnen einer der führenden Volksfedajin. Der Eindruck eines Sieges der Massen über ihre Gegner bestimmt das Bild des Tages.

Montag, 23. Bahman (12. Februar)
Überall im Land dehnte sich die Macht der Aufständischen über die Gefängnisse, die Reste der Staatsbehörden und die Savakeinrichtungen aus. Viele Savakis und verhasste Polizisten wurden aus ihren Verstecken geholt und auf den Straßen öffentlich durch die Massen getötet. Dabei kam es auch zu Exzessen. Charakteristisch erscheint, dass aus Arbeiterstädten von solchen Exzessen nichts berichtet wird. In den Orten mit traditioneller Sozialstruktur führen die erlittenen Unmenschlichkeiten und die jahrzehntelange Machtlosigkeit jedoch zu Racheexzessen.

Einige Mullahs wagten sich nach draußen und versuchten mit aller Kraft, die Aktivität der Massen einzudämmen. Sie setzten sich an die Spitze der Stadtteilkomitees, die sie für die Übernahme von Polizeiaufgaben mobilisierten.

Dienstag bis Freitag, 24.-27. Bahman (13. bis 16. Februar)
Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion erkannten das neue Regime an. Chomeini rief dazu auf, die Waffen in den Moscheen abzugeben und nur noch islamischen Kämpfern das Tragen von Waffen zu gestatten. Schließlich rief er dazu auf; die Streiks zu beenden. Die Tudeh-Partei unterstützte und befolgte diesen Appell.

Die Arbeiter kehrten nun in die Fabriken zurück, aber sie hielten politische Versammlungen ab, gründeten Räte, entließen oder verhafteten die Bosse, Savakis und Anhänger des alten Regimes. Es wurde diskutiert, die Arbeit aufzunehmen, aber die Waffen nicht abzugeben. Denn viele sahen, dass der Kampf noch nicht ausgestanden war.


Täbris: Wir, die meisten von uns Studenten und Arbeiter, stürmten das Savak-Gebäude. Dabei nahmen wir die Akten der politischen Gefangenen mit und brachten sie zur Universität. Wir informierten die ehemaligen politischen Gefangenen darüber, damit sie ihre Akten abholen kommen. Aber die Mullahs und ihre neuen Ordnungstruppen waren schneller.

Grenze zur Türkei: Wir hatten Savakis verhaftet, aber dann diskutierten wir in der Gruppe heftig darüber, was wir mit ihnen machen sollten: verhören, irgendwo festhalten, freilassen oder sie den neuen Gefängniswärtern übergeben?

Masdjed Soleyman, die Stadt, wo vor etwa 100 Jahren das erste iranische Erdöl gefördert wurde: Ich, wie andere Schüler und Jugendliche, hauptsächlich Ölarbeiterkinder, waren zu mehreren tausend vor der Polizeihauptkaserne und kämpften mit primitiven Waffen, bis wir sie eingenommen hatten. Ein Genosse ist dabei gefallen. Da war keine Spur von Mullahs und Religiösen. Wir waren fast alle Linke. Später wurde die Stadt von der islamischen Zentralmacht überrollt.

Teheran: ... Seit mehreren Stunden, bis zum Abend kämpften die Leute gegen Polizisten, die die Polizeiwache von Narmak verteidigten. ... In der Nähe waren Frauen und Männer mit Barrikadenbau beschäftigt durch die Rauchwolken war die Wache schwer zu erkennen eine Straße weiter standen Panzer und Gardisten auf der Kreuzung ... mit viel Mühe bin ich zu einer Gasse durchgedrungen, sie war mit Sandsäcken verbarrikadiert ... Frauen standen vor den Häusern, ältere Männer erzählten sich aktuelle Nachrichten von BBC und Voice of America. Jugendliche warteten hinter Barrikaden auf die Armee. ... plötzlich lief ein Mann mit einem Maschinengewehr über der Schulter zu uns ... wir erkannten ihn, einer von den Saisonarbeitern, die jeden Morgen an der Kreuzung warteten, bis sie jemand für Bauarbeiten anheuert. ... Er erzählte, dass er mit seinen Landsleuten mit Messern einen Armeelastwagen überfallen und die Soldaten entwaffnet hatte. Und jetzt will er sich seinen Freunden anschließen und weiter kämpfen. ... Wir hörten immer mehr Schüsse und sahen brennende Armeefahrzeuge. Die Soldaten rannten weg, sie waren für die Aufständischen auf den Dächern beliebige Ziele ...

Abadan: Polizeiwachen wurden erstürmt, die Savakis verhaftet, aber es wurde niemand auf offener Straße ermordet oder erhängt. In der Stadt Dezful, wo man sehr religiös war und wo vom Schah freigelassene linke Gefangene nicht willkommen geheißen wurden wie in anderen Städten, wurden Savakis oder Polizisten brutal niedergemetzelt. In manchen Stadtteilen von Täbris ebenso.



Der Aufstand und die Rolle der Linken

Wie auch die Volksmodschahedin akzeptierten große Teile der Linken die "Führungsrolle" Chomeinis. Sie sahen in der Unterstützung unterschiedlicher Flügel der neuen Machthaber (Liberale oder Antiimperialisten) eine Möglichkeit, Einfluss zu gewinnen und ihre politische Isolierung zu durchbrechen. Die entschiedeneren Teile der linken Bewegung glaubten, die Massenaktionen würden zur Radikalisierung Chomeinis beitragen oder ihn mitreißen, bis ihm die Kräfte ausgingen. Die Volksfedajin, deren Mehrheit sich immer mehr an die Tudeh-Partei annäherte, war die bekannteste linke Organisation, die bis 1977 durch Guerilla-Aktionen Bedeutung erlangt hatte.(3) Sie bestand nun nur noch aus einigen Dutzend Kadern und konnte den plötzlichen Zulauf von zehntausenden Sympathisanten nicht steuern.

Im Machtvakuum des Tages meldeten sich die Volksfedajin öffentlich zu Wort. Am 8. Februar, dem Tag, an dem überall auf Anordnung von Chomeini für Basargan demonstriert wurde, fand auch ihre erste öffentliche Kundgebung in der Universität von Teheran statt. Die Veranstalter schätzten die Teilnehmerzahl auf etwa 150.000. Am 9. Februar brach der Aufstand los. Ohne zu wissen, was da am Abend zuvor im Osten Teherans begonnen hatte, demonstrierten sie am 10. Februar mit angeblich ebenso vielen Teilnehmern wiederum vor der Uni. Sie waren unbewaffnet, da sie wegen möglicher Zusammenstöße mit der inoffiziellen Schlägertruppe der Chomeini-Anhänger Sorge hatten. Als sie mitten in der Demo die Nachricht vom Aufstand hörten, wurde beschlossen, "die Demo zu beenden und sich dem Aufstand anzuschließen". Wegen der großen Zahl der Teilnehmer empfahlen die Veranstalter ihren Mitgliedern und den anderen Teilnehmern, einzeln oder in Gruppen zum Brennpunkt im Osten von Teheran zu gehen. Wie andere Linke hatten sie früher Volksbewaffnung und Aufstand propagiert. Aber an der spontanen Erhebung, die sie nun erlebten, konnten sie sieh nur völlig unorganisiert beteiligen.

Der Aufstand wurde getragen von ArbeiterInnen, von den armen SlumbewohnerInnen, StudentInnen und Soldaten. Die Kräfteverhältnisse hatten sich verschoben. Trotz der Machtergreifung der islamischen Konterrevolution konnten die Unterdrückten ihre Macht ausweiten. Die Befreiung nach dem Aufstand empfand man nicht nur im Sieg über die Angst und die Repression durch den alten Staatsapparat (ausgedrückt in dem Spruch vom "Bahar e Azadi": Frühling der Freiheit), sondern in dem Erlebnis, leben zu können, wie man wollte. Die Geldbeziehungen verflüchtigten sich aus dem Leben der revoltierenden Massen.(4) Die Menschen teilten ihr Essen miteinander, die Autofahrten waren gratis, oft nahmen auch die Taxifahrer kein Geld. Das Eigentum wurde in Frage gestellt, die kollektive Aneignung war an der Tagesordnung. Bald stellte sich heraus, dass der neue Feind mit aller Gewalt versuchte, die Revolution zu unterdrücken und die Ausbeutung neu zu organisieren. Die Demos von Arbeitslosen und Frauen wurden angegriffen. Nach einem Monat wurde der erste Arbeiter von den neuen Ordnungstruppen erschossen. Die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte standen unter ständigen Angriffen, die Städte in Kurdistan wurden bombardiert und die Unis für die "Islamisierung" geschlossen.

In den kommenden zweieinhalb Jahren diente nicht nur der Iran-Irak-Krieg dem Regime als endgültiges Grab der Revolution, sondern es ermordete in seinen Kerkern auch tausende ArbeiterInnen, StudentInnen und politische Gegner.


Randnotizen

Wir haben in letzten Heft den Hintergrund der iranischen Revolution in Einzelnen geschildert und bauen in Folgenden darauf auf.

Links zu Filmen, in denen der Aufstand zu sehen ist, findet ihr auf unserer Homepage!

Anmerkungen

1) Bachtiar schrieb später: "Die Homafaran forderten mehr Sold ... sie hatten Verbindungen zu den Mullahs aufgenommen; die Volksmodschahedin demonstrierten ständig in den Wohnblocks der Homafaran und hatten sich Zugang zu Waffenlagern verschafft. ... Ich befahl der Luftwaffe, dieses Gebiet zu evakuieren und die Waffenlager zu bombardieren. ... Die Armeeführung folgte mir aber nicht."

2) "... der Ayatollah, der noch am Samstag nach den Überall der kaiserlichen Garde auf dem Flugplatz nicht zum Heiligen Krieg als letztes Mittel islamischer Politik greifen wollte, (ist) von jenem Teil seiner Gefolgschaft übergangen worden, der den Kampf auch ohne Dschihad-Appell führte und gewann. Man spricht an diesem blutigen Sonntag in Teheran mehr vom Mann mit dem Gewehr als von dem mit dem Koran."
Rudolph Chimelli, Das blutige Wochenende in Teheran, in SZ vom 12.2.79.

3) Vgl. Wildcat 85, S.25: Auszüge aus einem Gespräch mit Karl Heinz Roth im Juli 2009

4) "Keine Revolution ist friedlich, aber die militärische Ebene ist nicht zentral. Das Problem ist nicht, daß die Prolos endlich beschließen, die Waffenlager zu plündern, sondern dass sie das umsetzen, was sie sind: als Ware behandelte Wesen, die nicht mehr als Ware existieren können noch wollen, und deren Revolte die kapitalistische Logik zum Platzen bringt. Von dieser "Waffe" leiten sich Barrikaden und Maschinengewehre ab. Die gesellschaftliche Vitalität wird größer, der tatsächliche Gebrauch von Gewehren und die Anzahl der Toten geringer sein. Die kommunistische Revolution wird niemals einem Gemetzel gleichen: nicht wegen eines Prinzips der Gewaltfreiheit, sondern weil sie nur dann eine Revolution ist, wenn sie die professionellen Militärs eher zersetzt, als daß sie sie vernichtet."
Gilles Dauvé: 1917-1937: Wenn die Aufstände sterben Wildcat-Zirkular 50, auf www.wildcat-www.de

Raute

Update INDIEN

Die Strategie der Strohhalme. Proletarische Unruhe im Industriegürtel von Delhi.

Der Film zur "Indien-Beilage" in Wildcat 82:
Gurgaon, Indien: Neue Stadt, neues Glück, neue Kämpfe?

FilmemacherInnen von KanalB sind in das Industriegebiet Gurgaon gefahren

Ein junges Mädchen sitzt stolz vor ihrer Hütte und erzählt, wie sie es schafft, mit ihrer Arbeit in der Fabrik Haupternährerin der Familie zu sein. Frauen und Kinder sitzen im Schlamm eines Hinterhofes und sortieren gestanzte Metallwinkel. Sie sind das letzte Glied in einer Kette, die für einen Sub-Sub-Unternehmer den Weltmarkt mit Autoteilen versorgt.

Ein Aktivist verteilt vor einer großen Fabrik eine Arbeiterzeitung. Entlassene Leiharbeiter treffen sich seit Jahren jeden Sonntag im Park, um sich auszutauschen und zu beraten. Mit Gewerkschaftern haben sie schlechte Erfahrungen gemacht, nun suchen sie nach neuen Wegen. Sie beschließen eine Aktion, um ihre Wiedereinstellung zu erreichen.

Ein ruhiger Film, der die Leute und das, was sie zu erzählen haben, konsequent in den Mittelpunkt stellt.

Für 10 Euro als DVD oder als Download bei KanalB: http://kanalb.org/edition.php?clipld=88

Meldet Euch, wenn Ihr eine Veranstaltung organisieren wollt! Mail an redaktion@wildcat-www.de


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In Folge des staatlichen Konjunkturprogramms seit Ende 2008 (drastische Zinssenkungen für Immobilienkredite, Reduzierung von Exportzöllen, Bail-outs für das verschuldete Mittelbauerntum und massive Konsumanreize für die Autoindustrie) ist die Inflation bis April auf über zehn Prozent gestiegen, Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln und anderen proletarischen Konsumgütern lagen im Verlauf des letzten Jahres sogar bei 30 bis 40 Prozent. Ebenfalls im April wurde der staatlich festgelegte Benzinpreis erhöht. Transportpreise innerhalb Gurgaons und umliegenden Industriegebieten haben sich im letzten halben Jahr verdoppelt. Das Konjunkturprogramm konnte bisher den Absatz der Autoindustrie stützen. Nun laufen die Konjunkturprogramme aus, ihre inflationären Folgen aber werden sich nicht auf den proletarischen Konsum beschränken.

Trotz aller Versprechen, das Haushaltsdefizit von 6,7 Prozent zu senken, sieht der Staatshaushalt 2011 sogar 15 Prozent mehr Ausgaben vor. Die akkumulierten Staatsschulden betragen zur Zeit rund 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts - ähnlich wie in der BRD. Eine Finanzspritze hat den Binnenmarkt vor dem Einknicken bewahrt, aber die ausländischen Direktinvestitionen sanken um fünf Prozent, der Export um 4,7 Prozent und das Handelsbilanzdefizit stieg auf zehn Prozent.

Von November 2008 bis Januar 2009 gab es größere Entlassungen in Gurgaon, Faridabad, danach stabilisierte sich die Situation, es werden sogar neue Industriegebiete erschlossen. Mit den Preissteigerungen wächst der Druck von unten. Der Bundesstaat Delhi (NCR) reagierte im Frühjahr 2010 mit der Anhebung des Mindestlohns um 40 Prozent; der Lohn für Industriehelfer liegt jetzt bei 5200 Rs. Da der Mindestlohn auf "Landesebene" festgelegt wird und der Industriegürtel um Delhi sich auf drei Bundesstaaten verteilt, ist dort ein kurzfristiger gesetzlicher Lohnunterschied von 1000 Rs entstanden. Natürlich wird die Regierung in Haryana (Gurgaon, Faridabad) bald nachziehen müssen. Vor zwei Jahren folgte der offiziellen Erhöhung des Mindestlohns eine Welle von spontanen Streiks zu seiner tatsächlichen Durchsetzung auf Betriebsebene. Im April 2010 kündigen sich ähnliche Konflikte an, weil manche Unternehmen den neuen Lohn nicht zahlen oder Arbeiter in der Lohngruppe herunterstufen, Unternehmensbusse streichen, etc. Bisher gab es einige kurze Streiks in Textilfabriken und bei Autozulieferern; die Stimmung ist gespannt.

Der Streik bzw. die Aussperrung beim Autozulieferer Rico im Herbst 2009 war v.a. in seiner internationalen Dimension wichtig: die Belieferung von Ford- und GM-Werken in den USA und Kanada mit Rico-Teilen wurde unterbrochen, in vier Werken kamen die Bänder zum Stillstand, während die UAW gegen den Willen der Belegschaft ein Lohnverzichtsabkommen unterzeichnet hatte. Gleichzeitig strahlte dieser Streik auch innerhalb von Delhi aus, junge studentische AktivistInnen fühlten sich vom "Generalstreik" in den ihnen unbekannten Industrievororten angezogen.

Das städtische linke Uni-Milieu steht unter verschärftem Druck: einerseits durch Privatisierungen, neue Examens-Modelle und mangelnde akademische Zukunftsaussichten, andererseits wird es im Rahmen der staatlichen Aufstandshekämpfung gegen die maoistischen Bewegungen und ihre "städtischen Sympathisanten" eingekreist. Die Repression hat nach der Attacke am 6. April, als die Guerilla 75 Hilfspoiizisten tötete - es sei erwähnt, dass diese einen Monatslohn von rund 2500 Rs beziehen, also die Hälfte des Mindestlohns für Industriehelfer in Delhi - nochmal deutlich zugenommen. So gab es z.B. Verhaftungen auf dem Campus auf Grundlage von "Terrorismusverdacht".

Dominiert wird die Diskussion über die maoistischen Bewegungen auf dem Land von einer Position, die die operation greenhunt (staatliche Mobilmachung von 100.000 bewaffneten Kräften) als Teil der "ursprünglichen Akkumulation" im Auftrag der großen Minen- und Stahlkonzerne betrachtet.

Die letzten Bullenangriffe am 12. und 14. Mai 2010 auf die Widerstandsbewegungen gegen den Bau von Tata (Kalinganagar) und Posco (Jagatsinghpur) Stahlwerken verliefen blutig, es gab Tote und Verletzte. Die (indigene) Adivasi Bevölkerung im "Roten Korridor" oder tribal-belt (West-Bengalen, Chattisgharh, Orissa, Madhya Pradesh) hat sich schon lange gegen Versuche gewehrt, ihre dörfliche Land- und Waldnutzung zu enteignen. Die maoistische Guerilla fungiert laut dieser Position als Teil und Weiterentwicklung der bisherigen Widerstandskämpfe. In ihrem Bezug auf die "lokalen communities" erinnert das ein wenig an die "Zapatisten"-Romantik. Die wohl prominenteste Figur dieser Position ist die Journalistin Arundhati Roy. Innerhalb dieses Lagers der "ursprünglichen Akkumulation" gibt es einen kleineren Flügel, der den "militärischen" Kampf der Maoisten kritisiert und sich auf die "populären" Kampfformen der Adivasi bezieht (Straßenblockaden, Nicht-Kooperation mit den in ihren Gebieten stationierten Polizeikräften). Ein noch minoritärerer Flügel versucht sowohl, die "Klassenzusammensetzung" der Adivasi-Gebiete zu verstehen, als auch zu analysieren, welche "Verallgemeinerungslinien" auf Klassenebene entstehen können, jenseits der klassischen "Organisationssolidarität"(*) Die Adivasi-Gebiete sind weitestgehend in den (Tropenholz-, Tabak, Lohnarbeits-)Markt eingebunden. Die "Kollektivwirtschaft" wurde weitestgehend durch individuellen und hierarchisierten Landbesitz abgelöst. Die "Dorfgemeinschaften" könnten eine komplette maoistische Einkreisung auf Grund ihrer Abhängigkeit vom Außenhandel gar nicht überstehen. Die Maoisten selbst stellen mittlerweile nur in seltenen Fällen die "Landfrage", die meisten ihrer bewaffneten Sozialaktionen unterstützen Lohnforderungen, üben Rache an Vertretern der mafiösen Holzindustrie oder setzen staatliche Sozialprogramme durch. Der soziale Inhalt der bewaffneten Bewegung tritt bei der militärischer Eskalation zunehmend in den Hintergrund.

Aber wie kann sich der "städtische" Klassenkampf auf die tieferliegende Unruhe in den Aufstandsgebieten beziehen? Und umgekehrt, welchen weitergehenden Zusammenhang gibt es zwischen der "Strategie der Spannung auf dem Land" und der urbanen Unruhe in Zeiten der allgemeinen niedrigentlohnten Überhitzung?

Um die Klassenlinien zwischen Stadt und Land freilegen zu können, müssen wir die moderne Arbeitskraft neu begreifen ohne die alte Setzkastenlogik von formell/informell, städtisch/ländlich. Dazu ein paar Thesen zur Untersuchung:

• Die regionale Klassenzusammensetzung in Gurgaon (Auto-, Textil-, Call Center-ArbeiterInnen) ist in den Weltmarkt integriert. Globale Währungsschwankungen oder Absatzkrisen in den USA haben sofortige Auswirkungen. Während des Crashs im Oktober 2008 waren verschiedene Schichten von ArbeiterInnen betroffen, die aus ihrer Sicht 'wenig gemein' haben. Es gab Entlassungen und Lohnkürzungen in der IT-Branche, in den Metall-Betrieben, in den Sweat Shops der Textilindustrie. Ein explosives Zusammenkommen von englischsprachigen Telefonagents und in 16-Stunden-Schichten arbeitenden Fabrikarbeitern schien möglich zu werden.

• Die lokale Kooperation ist Teil der globalen Arbeitsteilung. Maruti Suzuki in Gurgaon ist die drittgrößte Autofabrik weltweit, die Montagebänder der Endfertigung sind verbunden mit der Slum-Klitschenökonomie der Umgebung. Größere Zulieferbetriebe wie Delphi oder Bosch fertigen in Gurgaon für die internationale Autoindustrie. Software-Büros und Call Center kooperieren mit Zweigstellen in Übersee. Die Export-Textilindustrie lagert Arbeitsschritte in Heimarbeit aus, in vielen tausend Fluren in den Arbeitersiedlungen nähen Frauen für den Weltmarkt.

• Die überwiegend migrantische Arbeitskraft in Gurgaon pendelt zwischen Stadt und Land. Die Löhne in Gurgaon sind meist zu niedrig, um eine ganze Familie zu ernähren, daher bleibt diese im Dorf zurück. Ohne Arbeitslosenversicherung bleibt das Dorf sowohl zweites Standbein wie Zukunftsillusion: 16-Stunden-Schichten kann man nur in der Hoffnung aushalten, nach ein paar Jahren die Arbeiterexistenz gegen eine Position im dörflichen Geschäftsleben eintauschen zu können.

• Seit Mitte der 1990er Jahre werden Festverträge durch Leiharbeit ersetzt. Großangriffe wie die Aussperrung bei Maruti Suzuki im Dezember 2000 beschleunigten diesen Prozess. Heute sind drei Viertel der Arbeitskraft im Industriegürtel temporär und mobil; sie haben kein Interesse an Tarifverträgen mit langer Laufzeit oder Betriebsrenten, ihre Wut und ihre Leidenschaften sind direkter.

• Ihr Feind ist nicht der einzelne Boss, sie stecken in einem vielgesichtigen Ausbeutungszusammenhang. Der Immobilienboom hat ehemalige Bauern zu Vermietern und Arbeitsvermittlern gemacht, die zusammen mit lokaler politischer Klasse, Bullenapparat und bezahlten Privatschlägern eine Front gegen jede Äußerung proletarischen Unmuts bilden - und durch das gesichtslose Regime des multinationalen Investitionsmanagements und die Politik der Zentralregierung ergänzt wird.

• Angesichts dieser Klassenstruktur enden die meisten gewerkschaftlichen Kämpfe der Minderheit der fest angestellten ArbeiterInnen in Niederlagen. Das letzte Beispiel war die Aussperrung beim Benzinpumpenhersteller Denso im März 2010. Denso hatte sich auf die Suspendierung der 30 Gewerkschaftsvertreter vorbereitet und mittels Teilelieferung aus dem Denso-Werk in Thailand Extralager eingerichtet. Auf die Suspendierung folgte die Aussperrung mittels der Forderung nach "individueller Einverständniserklärung, den Betriebsfrieden zu wahren", was der Gewerkschaftsdachverband ablehnte. Die ausgesperrten ArbeiterInnen wurden durch Leihkräfte ersetzt, die 24 Stunden am Tag in der Fabrik blieben. Die Ausgesperrten warteten Wochen vor dem Werk, die Gewerkschaft organisierte zahnlose Demonstrationen. Gleichzeitig gab es einen Lohnkonflikt bei Denso in Polen, in dessen Verlauf Denso-Arbeiter sich bei den Forderungen auf die Lohnerhöhungen bei Fiat Polen bezogen. Getrennt vom Konflikt bei Denso waren ArbeiterInnen eines weiteren Maruti-Zulieferers im benachbarten Faridabad im Ausstand ohne direkte Bezugnahme. Nach einem Monat nahmen die ArbeiterInnen trotz fortbestehender Suspendierung von 13 Gewerkschaftsvertretern die Arbeit wieder auf Das Denso-Management schickte die entmutigten, hochqualifizierten jungen FacharbeiterInnen eine Woche zur Yoga-Schulung in ein benachbartes Management-Ashram ("World Spriritual University").

• Bei der Fabrikbesetzung bei Hero Honda, den Kantinenbesetzungen bei Honda HMSI, den wilden Streiks bei Delphi usw. haben junge LeiharbeiterInnen in den letzten Jahren Kampferfahrungen gemacht, die einige Antworten auf die oben genannten Probleme geben. Das waren keine "spontanen Kämpfe", sie haben eine Vorgeschichte - und sie werfen neue Fragen auf.(**)

• Wir brauchen Treffpunkte in den Industriegebieten, um zusammen mit den ArbeiterInnen ihre (subversiven) Organisierungserfahrungen und den sozialen Produktionsprozess zu analysieren: in den Fabriken, den Zulieferketten, in den Lebenszusammenhängen der Hinterhöfe bis zur Realität der entfernten Arbeiterdörfer. Teil dessen ist der Aufbau einer Struktur von gegenseitiger Hilfe und Koordinierung.

Das versuchen die GenossInnen des Faridabad ArbeiterInnenkollektivs in diesem Moment. In den letzten Jahren hatten sie sich auf die Herausgabe und Verteilung der Zeitung und auf die Aufrechterhaltung eines Anlaufpunkts in Faridabad beschränkt. Seit Ende April gibt es in Okhla (Delhi), Faridabad, Gurgaon und Manesar vier weitere "Arbeitertreffpunkte" in angemieteten Zimmern innerhalb der Arbeitersiedlungen. Ein junger Arbeiter wurde finanziell "freigestellt", um den Treffpunkt in Okhla sieben Tage die Woche rund um die Uhr offenzuhalten; mit der Option, die "freien Tage" in Zukunft mit anderen ArbeiterInnen zu teilen; die anderen Treffpunkte werden anfänglich nur abends und sonntags geöffnet sein. In Okhla gab es bereits ein produktives Treffen mit Leiharbeitern eines Auto-Zulieferers (Kiran Industries), die für die Durchsetzung des neuen Mindestlohns auf Betriebsebene kämpfen wollen. In Manesar ist durch die Idee der "koordinierten Treffen" ein engerer Kontakt zu einem jungen casual worker bei Honda entstanden. Es besteht Hoffnung, dass ein, zwei Studenten mit mehr Zeit einen regelmäßigeren Austausch zwischen den Treffpunkten gewährleisten können. Die Genossen in Faridabad sprechen von einem "Schritt ins Nichts", einem risikobehafteten Versuch in riskanten Zeiten. Internationale Diskussion ist notwendig.


www.gurgaonworkersnews.wordpress.com
www.faridabadmajdoorsamachar.blogspot.com

*) www.sanhati.com und www.radicalnotes.com
**) vgl. Beilage Wildcat 82

Raute

GRIECHENLAND

ist das erste Land, in dem es zum offenen Kampf darüber kommt, wer die Kosten der Krise zu tragen hat. Direkte Kürzungen am Lohn und die Erhöhung aller Verbrauchssteuern sind eine Kampfansage an eine Arbeiterklasse, die schon in den letzten Jahren und Jahrzehnten einige Kämpfe gegen die Privatisierung auszufechten hatte. Die Teilnahme an Demonstrationen hat bis Anfang Mai massiv zugenommen und blieb nicht auf die traditionell gut organisierten Beschäftigten im öffentlichen Sektor beschränkt: auffällig war insbesondere die Teilnahme von Migrantengruppen und den Teilen der sozialen Bewegung, die die Revolte im Dezember 2008 getragen haben. Damit haben sich auch die Kampfformen verändert: Besetzungen von öffentlichen Gebäuden, Go-ins im Vorfeld von Generalstreiks und das offensive Verhalten gegenüber den Aufstandsbekämpfungseinheiten der Polizei prägten das Bild - bis zum 5. Mai, als durch einen Brandanschlag auf eine Bank drei eingeschlossene Angestellte an Rauchvergiftung starben. Dieses Ereignis hat der "antiautoritären" Bewegung einen heftigen Dämpfer versetzt, die jetzt grundsätzlich über Kampfformen diskutieren muss.

Der Angriff ist aber nicht mit ein paar großen Demos oder rituellen "Generalstreiks" abzuwehren. Insbesondere im Privatsektor wurde bislang so gut wie nicht gestreikt. Es besteht eine Spaltung in Festbeschäftigte, die ihre "sozialen Besitzstände" verteidigen, und junge "Leute" der "700-Euro-Generation", die über wenig "Produktionsmacht" am Arbeitsplatz verfügen.

Die Heftigkeit und Dauer der Auseinandersetzungen im Dezember 2008, die als Reaktion auf den Polizeimord an dem 15-jährigen Alexis begann und dann in zahlreichen Besetzungen und Scherbendemos die proletarische Wut von MigrantInnen der zweiten Generation und jungen Leuten ohne Perspektive ausdrückte, hat die Herrschenden nicht nur in Griechenland aufgeschreckt, sondern auch in anderen europäischen Ländern vor Augen. Es wird sich in den kommenden Monaten zeigen, ob trotz des generalisierten Angriffes die Trennungen zwischen den verschiedenen sozialen Milieus aufrecht erhalten werden können.

Einige Linke schauen mit verklärtem Blick auf Griechenlands Kommunistische Partei KKE, die mit siebeneinhalb Prozent der Stimmen im Parlament vertreten ist. Sie hat noch ein ZK und ein klares Weltbild, das mit antiimperialistischer Rhetorik gestaltet wird und Widersprüche in der Klasse wie auch die drei toten Bankangestellten - als "faschistische Provokationen" abzutun weiß.

Das linke Spektrum ist aber weitaus größer und stark zersplittert. Es reicht von parlamentarischen (SYRIZA, im Parlament mit vier Prozent der Stimmen) über außerparlamentarische (ANTARSYA - Maoisten, Trotzkisten) Bündnisse bis hin zu kleinen rätekommunistischen oder anarchistischen Gruppen. Aus dem linken, linksradikalen oder anti-autoritären Milieu wurden in den letzten Jahren Basisgewerkschaften aufgebaut für Berufe, die dort sehr verbreitet sind, z.B. für Beschäftigte in Buchhandlungen und Verlagen (die älteste von allen, die auch sehr aktiv gegen Entlassungen agiert), für KellnerInnen und Köche (in Bars, Restaurants, Cafés) und für Motorradkuriere.

Die beiden Gewerkschaftsbünde ADEDY (öffentlicher Sektor) und GSEE (Privatsektor) sind die Spitzenverbände aller Branchen- oder Betriebsgewerkschaften. Sie sind stark von der (regierenden) sozialistischen Partei beeinflusst. PAME ("Los geht's"; die Abkürzung steht für "Kampffront aller Arbeiter") ist eine Gründung der KKE, ihr gehören Parteimitglieder und Sympathisanten aus allen Branchen an. Relativ großen Einfluss hat PAME bei den Hafenarbeitern von Piräus (Hafen von Athen), auf den Werften (in Perama, Skaramangas), bei den Matrosen, in Großbetrieben und auf dem Bau. Es gibt auch andere KKE-Frontorganisationen für Selbstständige, Kleinhändler oder Kleinunternehmer. PAME organisiert meist eigene Demonstrationen, getrennt von denen der Gewerkschaftsverbände.

Die bürgerliche politische Landschaft ist von den beiden Politikerdynastien Karamanlis (ND, Nea Dimokratia) und Papandreou (PASOK, sozialistische Partei) beherrscht, im Parlament ist außerdem noch die rechtsradikale Partei LAOS vertreten. Papandreou, in den USA geborener Soziologe und in dritter Generation Ministerpräsident, fällt es nun zu, die härtesten Maßnahmen gegen die Arbeiterklasse durchzusetzen, die sich eine bürgerlich-demokratische Regierung je vorgenommen hat.

FAHNENMEERE
täuschen oft - gerade, wenn man vom Ausland drauf blickt. Deshalb kommen in diesem Heft erstmal GenossInnen aus Griechenland zu Wort:

- Aus der Korrespondenz mit einem griechischen Genossen sind verschiedene Abschnitte zur wirtschaftlichen und politischen Situation in Griechenland entstanden. Politisch wendet er sich gegen Positionen, die in der jetzigen Mobilisierung vor allem den "äußeren Feind" beschwören in Gestalt von Deutschland, EU oder IWF, statt zu verstehen, dass der Klassenfeind auch im eigenen Land steht.

- Das Papier der Gruppe TPTG wurde vier Tage nach dem Tod der drei Bankangestellten veröffentlicht. Es rekonstruiert den Ablauf der Demonstration und stellt weitere Überlegungen an zur Gewaltfrage

- Die Flugschrift "Wir sind ein Bild der Zukunft" über die Revolte im Dezember 2008 wurde von einer "europäischen" Gruppe verfasst.


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3. Februar - Die EU-Kommission stellt den griechischen Staatshaushalt unter EU-Kontrolle. Die Regierung muss regelmäßig der EU über Einsparungen Bericht erstatten.

10. Februar - Erster Streikaufruf der Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes: die Beteiligung ist schwach.

23. Februar - Am Tag vor dem Generalstreik besetzen Mitglieder von PAME morgens die Börse mit dem englischsprachigen Transparent: "Die Plutokratie soll die Krise bezahlen".

24. Februar - Am Generalstreik, zu dem ADEDY und GSEE aufgerufen haben, beteiligen sich weit über zwei Millionen Beschäftigte, insbesondere in den öffentlichen Unternehmen. An der Demo in Athen (ca. 40.000) fällt die hohe Teilnahme von ImmigrantInnen auf, die auch gegen das neue Einbürgerungsrecht protestieren.

3. März - Die Regierung kündigt die ersten Maßnahmen des Stabilitätsprogramms an. Ziel: Einsparung von 4,8 Mrd. Euro (zwei Prozent des BIP), Reduzierung des Haushaltsdefizits auf vier Prozent. Kürzung der Gehälter im öffentlichen Dienst: 30 Prozent des Weihnachts-, Urlaubs- und Ostergelds (die letzten beiden bilden das 14. Monatsgehalt), Kürzung der Zulagen für Beamte um zwölf Prozent. Einfrieren der staatlichen Renten, Erhöhung der Mehrwertsteuer von neun auf zehn Prozent bzw. von 19 auf 20 Prozent; Erhöhung der Zigaretten-, Alkohol- und Kraftstoffsteuer um 20 Prozent.

Es sind die härtesten Maßnahmen der letzten 35 Jahre im öffentlichen Dienst, sie betreffen niedrig wie hoch bezahlte Angestellte im gleichen Maß. Die traditionellen Mittelschichten verlieren ihre Lohnprivilegien. Vielleicht verliert auch ein Teil der Unternehmer ihren Zugang zu Schwarzgeld oder die Mehrheit der Beamten zu Schmiergeld. (Nach staatlichen Schätzungen können 30-40 Prozent des BIP vom Finanzamt nicht kontrolliert werden.) Es geht um eine historische Umverteilung/Konzentration des Reichtums von unten nach oben.

Da die Erhöhung der Konsumsteuern die kleinen und mittelgroßen Handelsbetriebe trifft, will die Regierung diese ab Mai mit zwei Mrd. Euro bei der Zahlung ihrer Steuern und Versicherungsbeiträge unterstützen (bis zu 300.000 Euro pro Betrieb).

5.-8. März - Ministerpräsident und Wirtschaftsminister machen ihre Runde in Luxemburg, Paris, Berlin und Washington, um ihr Rettungspaket zu präsentieren. Sie fordern "moralische politische Solidarität" und niedrigere Kreditzinsen als auf den Finanzmärkten; es gibt noch keine finanzielle Hilfe.

Der griechische Staat verkauft Zehn-Jahres-Anleihen über fünf Mrd. Euro gegen eine Verzinsung von 6,38 Prozent - das sind 3,2 Mrd. Euro in zehn Jahren. (Irland muss dafür nur 2,3 Mrd. Euro bezahlen)

4. März - PAME organisiert in vielen Städten Nachmittags-Demos. Einige Gewerkschaften, linke Organisationen und Gruppen rufen als erste Antwort zu einer Demo im Athener Zentrum auf. Es gibt u. a. Plakate wie "Die Lohnabhängigen sind keine Versuchstiere für die europäischen Imperialisten!" und "Gegen den Angriff, den das Kapital, EU, IWF und ihre lokalen Diener [Regierung und die rechten parlamentarischen Parteien Nea Dimokratia und LAOS] durchsetzen!". Parolen, die ganz einer Rhetorik der Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit verhaftet sind.

5. März - GSEE und ADEDY rufen zu einer dreistündigen Arbeitsniederlegung auf. Bei der Kundgebung auf dem Syntagma Platz in Athen wird der Sekretär der GSEE von Demonstranten und Streikenden angegriffen. Es kommt auch zu Auseinandersetzungen mit der Polizei.

11. März - GSEE und ADEDY rufen zum Generalstreik auf. PAME organisiert eine eigene Demo.

11. April - Bekanntgabe eines möglichen Finanzierungsplans mit niedrigeren Zinsen durch EU-Partner (Kredite über 30 Mrd. Euro) und IWF (15 Mrd. Euro). Die griechische Regierung hat für 2010 etwas Zeit gewonnen.

In der letzten April-Woche vereinbaren EU-Partner, IWF und griechische Regierung (nach tagelangen Debatten und heftigen Verhandlungen eine Finanzierung Griechenlands bis 2012.

5.-6. Mai - Die Vereinbarung mit EU und IWF wird im Parlament verabschiedet. In diesem Rahmen werden weitere Kürzungsmaßnahmen gegen Beamten und Rentner getroffen, die im Detail noch nicht bekannt sind. Weihnachts-, Urlaubs- und Ostergeld werden abgeschafft und durch eine Lohnzulage von 1000 und 800 Euro ersetzt (nur für Beamten und Rentner, die entsprechend bis 3000 und 2500 Euro pro Monat brutto verdienen). Die Gehälter und staatlichen Renten werden für drei Jahre eingefroren. Weitere Lohnzulagen für Beamte werden gekürzt.

Weitere Erhöhung der Mehrwertsteuer von zehn auf elf Prozent (Lebensmittel) bzw. von 21 auf 23 Prozent (Dienstleistungen); weitere Erhöhung der Tabak-, Alkohol- und Kraftstoffsteuer.

Rentenreform: die volle Rente soll es erst nach 40 Jahren Arbeit bzw. mit 65 geben. Rentenkürzungen bis 13 Prozent für diejenigen, die 20-35 Jahre arbeiten.

Generalstreik mit der größten Demo seit dem Ende der Diktatur in Athen (200.000 Menschen). Verbreitete Auseinandersetzungen mit der Polizei. Brandanschlag auf die Marfin-Bank, in dessen Folge drei Bankangestellte sterben.

18.-19. Mai - Griechenland erhält das erste Geld (20 Mrd. Euro) des Rettungspakets, 5,5 Mrd. von IWF und 14,5 Mrd. Euro von zehn EU-Staaten. Damit werden neun Mrd. Euro von alten Staatsanleihen ausgelöst. Die zweite Dosis von neun Mrd. kommt im Herbst 2010.

20. Mai - GSEE, ADEDY und PAME rufen zum Generalstreik auf gegen die neuen Arbeitsgesetze im Privatsektor und die Rentenreform.

Zwei oder drei Tage vor dem Streik treffen sich die General Sekretärin der KKE und der Präsident von SYRIZA mit dem Präsidenten der Nea Dimokratia - auf Einladung letzterer. Zufall? Oder ein Zeichen von Nationaler Einheit in Krisenzeiten?

Die neuen Arbeitsgesetze werden in den nächsten Tagen verabschiedet. Sie sehen vor allem eine Aushebelung der Tarifverträge, Aufhebung des Kündigungsschutzes, Kürzung des Arbeitslosengelds ab 2011 (um 500 Millionen Euro) und der Abfindung für Entlassene und niedrigere Einstiegsgehälter vor.


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Griechenland und die EU

Nach dem Ende der Militärdiktatur 1974 wurde Griechenland im Rahmen der "Süderweiterung" bereits 1981 zehntes Mitgliedsland der EU - fünf Jahre vor Spanien und Portugal. Die Aufnahme des relativ armen und agrarisch ausgerichteten Landes an der Südostflanke der NATO (Mitglied seit 1952) ohne gemeinsame Grenzen zu anderen EU-Staaten war eine politische Entscheidung. Zu den Aufnahmebedingungen gehörte die Schrumpfung des Staatssektors, der damals auch Teile von Industrie und Schiffbau umfasste. Die im selben Jahr an die Macht gelangte PASOK-Regierung, die gegen den EU-Beitritt gewesen war, ignorierte diese Vorgaben und verstaatlichte sogar einige "Problembetriebe", um einen Konsens herzustellen und Teile der lokalen Bevölkerung, Linke und Parteifunktionäre als Angestellte/Beamte einzustellen und zu integrieren. Die Privatisierungen, die Löhne und Arbeitsbedingungen verschlechterten, geschahen erst in den 90er Jahren. Dass der öffentliche Sektor weiterhin stark wuchs, hängt damit zusammen, dass nach einem Regierungswechsel die an die Macht gekommene Partei jeweils Neueinstellungen vornahm, um die eigene Klientel zu versorgen - dies ist die politische Dimension der Staatsschulden.

Die Landwirte profitierten in den 80er Jahren von der EU-Agrarpolitik, die feste Abnahmepreise garantierte. Sie führte zur Überproduktion einiger Agrarprodukte, die manchmal hohe Pestizid-Reste enthielten und auf dem EU-Markt nicht verkäuflich waren. Die Umstellung der Förderung auf Direktbeihilfen für die Bauern, die nicht an die Produktionsmenge gebunden sind, und die Festlegung von Produktionsobergrenzen ließ den bislang geförderten Tabak- und Baumwollanbau ab 2002 stark zurückgehen. Griechenland wurde vom landwirtschaftlichen Selbstversorger zum Lebensmittelimporteur. Die durchschnittliche Agrarfläche beträgt pro Betrieb nur fünf bis sechs Hektar, große zusammenhängende Flächen gibt es in dem vorwiegend bergigen Land kaum. Dies erhöht die Anbaukosten und ist für die insgesamt niedrige Produktivität der Landwirtschaft verantwortlich. Heute arbeiten nur noch zwölf Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft, deren Anteil am BIP aber mit 4,7 Prozent viel höher ist als in allen anderen EU-Staaten. Einige Bauern haben ihre Grundstücke verkauft oder vom Tourismus profitiert oder haben eine andere Beschäftigung in der Schattenökonomie aufgenommen. Es gibt eine neureiche und arrogante Mentalität unter griechischen Bauern, die stark für den Niedergang der Landwirtschaft verantwortlich ist. EU-Subventionen wurden von ihnen nicht für Investitionen bzw. die Umstrukturierung der Agrarproduktion benutzt, sondern zunehmend für Luxus-Jeeps, Häuserbau und allgemeinen Konsum ausgegeben... Viele betrachteten die EU-Gelder nicht als Zuschüsse, sondern als Haupteinkommen. In den 90er Jahren retteten die Migranten aus dem ehemaligen Ostblock als billige Arbeitskräfte die Bauern vor der Krise.

Von der Auflösung des Ostblocks profilierte das griechische Kapital auch insgesamt, das dort Produktionsstätten aufbaute und z.B. die Textilindustrie auslagerte. Der Beitritt zur Euro-Zone im Jahr 2001 brachte ihm große Vorteile: Griechenland wurde zum Finanzplatz, von dem aus griechische Banken Beteiligungen im ehemaligen Jugoslawien, in Bulgarien, Rumänien, Albanien oder der Türkei erwarben. Die Arbeitsproduktivität in der einheimischen Produktion hielt allerdings nicht Schritt bzw. ging zurück. Das gleiche gilt für den (wachsenden!) Dienstleistungssektor. Durch steigende Exporte in die Balkan-Länder und steigende Löhne wuchs die griechische Wirtschaft mit 3,5 Prozent jährlich stärker als die der anderen EU-Länder; der heftige Einbruch erfolgte dann 2009. Wegen seiner nicht konkurrenzfähigen Produktion importiert Griechenland wesentlich mehr Waren aus Ländern der EU, als es in diese exportiert; so wuchs das Handelsbilanzdefizit v.a. gegenüber der BRD in den letzten Jahren rasant an.

Die Wirtschaftsstruktur des Landes bringt es mit sich, dass Griechenland über wenig "Reserven" verfügt. Die Industrie besteht im Wesentlichen aus Mittel- und Kleinbetrieben. Der größte Industriebetrieb füllt Coca Cola für 28 Länder auf dem Balkan und im Mittleren Osten ab. Der zweitgrößte ist OTE, die privatisierte Telekom, die in fünf Balkanländern aktiv ist. Griechenland verfügt mit 18,9 Prozent aller Schiffe über die größte Handelsflotte der Welt - die Schiffe fahren aber fast alle unter Billigflaggen. Die Mehrzahl der Reedereien arbeitet "offshore", vor allem in London oder den USA. Die Schiffe werden auf dem Weltmarkt gekauft, in Griechenland gibt es keine Werft mehr, die große Schiffe herstellt.

Ein kurzer Blick auf die Zusammensetzung der Arbeitskraft: Nur 64,1 Prozent der "aktiven Bevölkerung" sind abhängig beschäftigt - das ist die niedrigste Rate in der EU - 21,7 Prozent sind selbständig, 8,2 Prozent Arbeitgeber, 5,9 Prozent mithelfende Familienangehörige.

Die wichtigsten Sektoren: in Landwirtschaft/Forst/Fischerei arbeiten 12,3 Prozent, in der Industrie 11 Prozent, auf dem Bau acht Prozent. Handel und Autowerkstätten beschäftigen 17,7 Prozent, Transport und Logistik 4,8 Prozent, Gastgewerbe 7,1 Prozent. Öffentliche Verwaltung: 8,3 Prozent, Erziehung: 7,3 Prozent, Gesundheit/Sozialbereich: 5,4 Prozent - das Gewicht des öffentlichen Dienstes ist unübersehbar.

Während v. a. zur Zeit der Militärdiktatur hunderttausende von Griechen im Ausland Arbeit suchten, ist Griechenland heute ein Einwanderungsland, in dem über eine halbe Million Menschen mit ausländischem Pass leben, die sieben Prozent der Arbeitskräfte des Landes stellen: vor allem auf dem Bau, in der Landwirtschaft und im Tourismus. Die Hälfte von ihnen arbeitet schwarz.

Der private Sektor ist durch Tarifverträge stark reguliert. Ein Industriearbeiter bekommt im Durchschnitt 1600 Euro brutto, unter 30-Jährige allerdings nur 1129 Euro. Es gibt einen gesetzlichen Mindestlohn, im Jahr 2000 betrug er 526 Euro, 2009 dann 681 Euro.

Bei der Arbeitslosigkeit fällt insbesondere die hohe Jugendarbeitslosigkeit (15-24-Jährige) auf; wo 2008 Griechenland mit 22,1 Prozent in der EU auf dem vorletzten Platz vor Spanien lag.


Rettungsprogramme

Die griechische Regierung will sich die Unterstützung durch EU und IWF für die Krisenjahre 2010-2012 sichern. Es geht um Kredite über 110-120 Mrd. Euro, mit denen in diesen drei "sehr schwierigen" Jahren alte Schulden (inklusive der Ausgaben für die Olympiade) mit neuen abgezahlt werden sollen.

Von den 275 Mrd. Euro der aktuellen Staatsschulden muss Griechenland 141 Mrd. Euro aus fällig werdenden Staatsanleihen bis 2015 auszahlen. Die gesamte Kreditnachfrage des Staates beträgt bis dahin 200 Mrd. Euro! Für 2010 wurden schon fällige Staatsanleihen im Wert von 8,5 Mrd. Euro ausgelöst.

Angesichts der Höhe der Verschuldung reichten die ersten Sparmaßnahmen vom 3. März bei weitem nicht aus. Zu erwarten ist jetzt eine offizielle Ausweitung der Lohnkürzungen auch im Privatsektor oder eine "Abschaffung" der Tarifverträge. Durch die Erpressung mit Entlassung haben das viele Arbeitgeber bereits umgesetzt: d.h. mehr Arbeit für denselben Lohn, oder dieselbe Arbeit für weniger Geld! Sogenannte Analytiker befürworten diese Lohnkürzungen "zur Rettung der Heimat", oder sie schlagen sinkende Sozialversicherungs- und Lohnkosten für junge Lohnabhängige vor. Weitere mögliche Maßnahmen wären die Abschaffung des 13. und 14. Monatsgehalts auch im Privatsektor.

Die Rentenreform sieht eine Grundrente für alle von 360 Euro und eine allmähliche Erhöhung des Rentenalters auf 65 Jahre vor. Um die volle Rente zu erhalten, muss man 40 Jahre gearbeitet haben. EU und IWF verlangten im April eine sofortige Anwendung dieser Reform ohne Übergangsphase. Trotzdem ist diese Reform jetzt ab 2018 vorgesehen. Die Sicherheitskräfte (Polizei, Militär, Hafenpolizei, Feuerwehr) sind übrigens davon ausgenommen, auch die Gehaltskürzungen sollen geringer sein.

Diese Sparmaßnahmen werden die Realeinkommen für Lohnabhängige und RentnerInnen um 30 Prozent senken. Zusammen mit der starken Erhöhung der indirekten Steuern (Mehrwertsteuer, Konsumsteuern) wird der Konsum sinken und sich die Rezession verstärken.


Langfristige Rezession - Auswirkungen für die Arbeiterklasse

Im Rahmen des starken Euro hat der griechische Staat nicht viele Alternativen, da er keine Abwertung der nationalen Währung mehr vornehmen kann. Ein Ziel bei der Einführung der Währungsunion war ja von Anfang an, den gesamten ökonomischen Anpassungsdruck auf die Löhne und Einkommen zu richten. Ein einseitiger Zahlungsstopp, den viele Länder in den letzten Jahrzehnten gewählt haben, ist für das griechische Kapital keine Option. Denn griechische Banken, Krankenkassen und Versicherungsfirmen halten ca. 30-40 Prozent der Staatsschulden in Form von Staatsanleihen. Die seit langem bankrotten Krankenkassen verstaatlichen so ihre Schulden. Die ersten Opfer eines Zahlungsstopps wären also die griechischen Banken selbst! (Es war die griechische Postbank, die mit CDS auf den griechischen Staatsbankrott gewettet hat!)

Der griechische Staat riskiert eine langfristige Rezession, um das Bankensystem und seine Filialen im Balkan zu retten. (Ähnliches gilt auch für das Bankensystem anderer EU-Staaten.) So bleibt das griechische Kapital handlungsfähig und kann seine Vorteile als internationale Investitionsstelle gegenüber anderen Ländern/Investoren in der südosteuropäischen Arbeitsteilung aufrechterhalten. Heute, in der Krise, profitiert die National Bank of Greece wesentlich aus einer Banktochter in der Türkei, der Finansbank.

Die Entwicklung in der "goldenen Phase der 90er Jahre" basierte auf dem Zerfall des Ostblocks und der Ausbeutung der MigrantInnen. Der starke Euro stärkte die Stellung der griechischen Banken auf dem Balkan. Dieses griechische Wachstumsmodell geht zu Ende.

Jetzt befinden sich sowohl das Kapital als auch das politische System an einem Wendepunkt. Die Stärkung einer "nationalen Akkumulation" durch Sparmaßnahmen scheint die vorläufige Lösung zu sein, damit die Banken und der Staat Kredite aufnehmen können und der griechische Kapitalismus sich gegen seine geopolitische Abwertung wehrt.

Die Auseinandersetzung geht darum, wie viele und bis wann die verlangten Opfer im Geiste einer "nationalen Einheit" von der Arbeiterklasse akzeptiert werden - ohne dass in naher Zukunft eine Entwicklungsperspektive sichtbar wird. Ohne die Perspektive eines kommenden Aufschwungs können die Herrschenden keinerlei Versprechen auf sozialer Ebene machen.

Ein anderes Problem ist die Strukturschwäche der Unternehmen (und der Ökonomie), die Griechenland einen schlechten Rang in der weltweiten Arbeitsteilung zuweisen. EU-finanzierte Investitionen im Bausektor oder in die Infrastruktur (Autobahnen, grüne Energie usw.) werden da nicht ausreichen, dafür wären neue staatliche Gelder und damit Kredite nötig. Die mangelnde Konkurrenzfähigkeit ist das größte Problem des griechischen Kapitalismus, also billigere und bessere Produkte, die den Zugang zu neuen Märkten öffnen. Die weitere Abwertung der Arbeit durch die aktuellen Maßnahmen allein kann die kapitalistische Produktion nicht konkurrenzfähiger machen.


20 Jahre Einwanderung

Vor dem "goldenen" Jahrzehnt der 1990er Jahre steckte der griechische Kapitalismus in einer Sackgasse: wachsende Staatsschulden und wirtschaftliche Stagnation. Ende 1989 hatten einige Politiker und Experten sogar vorgeschlagen, dass Griechenland IWF-Hilfe beantragen sollte - die Situation war aber weniger dringlich als heute.

Ab 1991 retteten die neuen Märkte und billige migrantische Arbeitskräfte aus dem ehemaligen Ostblock (die Mehrheit waren Albaner) den griechischen Kapitalismus aus der Krise. Als die griechisch-albanische Grenze 1991 einige Monate offen war, wurde das "Einwanderungsverbot" zum Hauptinstrument des griechischen Staates zur Verwaltung der Arbeitsmigration. Die Illegalisierung der migrantischen ArbeiterInnen hat neue Machtstrukturen, neue soziale Verhältnisse und neue Profite geschaffen.

Das "Einwanderungsverbot" füttert die Schattenökonomie und das im "organisierten Verbrechen" tätige Kapital. Schmuggler, die im Drogen-, Zigaretten-, Benzin- oder Prostitutionsgeschäft tätig sind, verdienen 1000 Euro (sogar bis zu 6000 Euro) pro Kopf wenn sie MigrantInnen über die Grenze (v. a. über die Türkei) transportieren.

Das Einwanderungsverbot verbindet kriminelle Strukturen mit dem Staatsapparat. Staatliche Institutionen wie Richter, Bullen, Hafenpolizei üben über dieses Verbot ihre Macht aus und verdienen ungeheure Summen, indem sie mit den Schmugglern zusammenarbeiten. Korruptionsfälle, die aufgedeckt werden, "schockieren" und werden der öffentlichen Meinung als Einzelfälle präsentiert, um diese verbreitete Zusammenarbeit zwischen staatlichen und kriminellen unternehmerischen Strukturen zu vertuschen.

Das Einwanderungsverbot baut eine Mafia-Gesellschaft auf. Die Ausbeutung der billigen illegalen Arbeit hat in den letzten Jahren zu einer Veränderung der konkreten Lebens- und Arbeitsbedingungen geführt. Die Arbeitgeber unterhalten nicht nur enge Kontakte zur Menschenhändler-Mafia, sondern sie werden manchmal selbst zur Mafia, um billige Arbeitskräfte zu finden und zu transportieren.

Neben den Arbeitgebern benötigen Teile der Gesellschaft (die die MigrantInnen als Prostituierte, Putzfrauen, KrankenpflegerInnen, Land- oder Bauarbeiter etc. benutzt haben oder als Kollegen hatten) eine moralische Rechtfertigung für diese Ausbeutung. Die ständige Illegalisierung der ArbeitsmigrantInnen führte also nicht nur zur Lohnsenkung (inzwischen auch für die Einheimischen!), sondern auch zu einer Formierung der Gesellschaft nach rechts.

Heute macht sich niemand mehr Illusionen über sozialen Aufstieg. MigrantInnen aus dem Balkan können angesichts der Krise auswandern oder in ihre Heimat zurückkehren. Einwanderer der zweiten Migrationswelle aus Asien und Afrika können das nicht.

Einheimische sind zunehmend gezwungen, schmutzige, ungesunde und schlecht bezahlte Jobs zu suchen, die bisher nur MigrantInnen machten. Ob dies zu einer Situation wie im "Dschungel" führen wird mit heftigen Konflikten - "Arbeit nur für Griechen!" - oder zu gemeinsamen Kämpfen, ist noch offen.


Von Anti-Amerikanismus und Anti-Deutschtum

Die griechische Linke flirtet traditionell mit dem Patriotismus. Als theoretische Grundlage diente die "Abhängigkeitstheorie". Ein großer Teil der Bevölkerung, der nach dem Bürgerkrieg (1946-49) und der Niederlage der Linken durch Exil, Gefängnisstrafen, Berufsverbote sozialen und politischen Ausschluss erlebt hatte, zimmerte sich daraus eine passende Ideologie, um seiner Erfahrung Ausdruck zu verleihen. Es war die Abkehr weg von einer Klassenpolitik und verschob den "Hauptwiderspruch" auf die Abhängigkeit Griechenlands von anderen (Metropolen-)Staaten und internationalen Institutionen.

Trotz der sichtbaren "internationalen Aufwertung" des griechischen Staates in den letzten zwei Jahrzehnten hat sich diese Theorie wenig verändert. Auch in den 1990er Jahren vermied es die griechische Linke oft, bei "nationalen" Themen öffentlich zu intervenieren - zum Beispiel nationalistischen Mobilisierungen gegen Makedonien oder die Türkei.

Reste dieser Vorstellung, den Feind außerhalb und nicht im Land selbst zu suchen - also einen nationalen und keinen Klassenfeind -, treffen wir auch in der jetzigen Krise. Die Abhängigkeitstheorie hat hier vor allem zum Anti-Amerikanismus (und manchmal zu einer Anti-EU-Stimmung) geführt, der auf den Nationalstaat und die nationale Einheit setzt. Wenn nötig, kann die jeweilige Regierung leicht die "antiimperialistischen Gefühle" Proteste der Bevölkerung im Verhandlungspoker auf internationalem Terrain benutzen.

Wie kann die Abhängigkeitstheorie weiterleben, wenn jede/r die Verschlechterung der Lebensbedingungen der Klasse erlebt? Die Wiederbelebung der alten reaktionären Parolen von nationaler Einheit wäre schlimm für uns und gut für den Klassenfeind.


Antideutschtum 1: Wo ist unser Feind?

In den letzten Monaten haben die griechischen Medien und Politiker die "großen" Spekulanten angeklagt. Sie behaupten, für die höheren Kreditzinsen, die der Staat nun bezahlen muss, seien ausländische (und vor allem deutsche) Banken verantwortlich. Diese einseitige Sichtweise passt zu dem Aufruf zur nationalen Einheit: "Die Heimat ist von den Barbaren bedroht!"

Alle Gläubiger Griechenlands verdienen an den erhöhten Zinsen - aber wer sind denn die Spekulanten? Das strukturelle Problem besteht darin, dass die griechischen Staatsschulden zu über vier Fünftel Auslandsschulden sind. Wenn wir uns aber die einzelnen Anteile betrachten, liegen die dicksten Brocken in Griechenland selber. Den größten Anteil an Staatsanleihen besitzen die griechischen Banken. Im Januar 2010 besaßen die deutschen Banken griechische Staatsanleihen im Wert von 17,8 Mrd. Euro. (Hypo Real Estate 9,1 Mrd. Euro, Commerzbank 4,6 Mrd. Euro, LBBW 2,7 Mrd. Euro, BayernLB 1,5 Mrd. Euro). Offenbar gibt es weitere deutsche Kreditgeber wie Rentenkassen, Versicherungen usw. Allein die National Bank of Greece besaß im Februar 2010 Staatsanleihen im Wert von 17,9 Mrd. Euro - also so viel wie die deutschen Banken insgesamt! Danach kommen Eurobank mit 9,4 Mrd. Euro, Alpha Bank mit 7,5 Mrd., Piräus Bank mit 5,5 Mrd., Post Bank mit 5,5 Mrd., Agricultural Bank of Greece mit 1,1 Mrd. Euro. Die gesamten griechischen Schulden an griechische Banken betragen 46,9 Mrd. Euro. Außerdem besitzen die einheimischen Krankenkassen, Rentenkassen und Versicherungen weitere griechische Staatsanleihen. Die größten Kreditgeber sitzen im Land selbst. Unser Klassenfeind ist hier...

Im Verlauf der Krise im Jahr 2009 haben die griechischen Banken von den Staatsanleihen gewaltig profitiert. Die Verstaatlichung der Bankschulden wurde weltweit über Steuergelder finanziert; heute leihen die Banken dem Staat (dem Banken-Retter) Gelder zu erhöhten Zinsen. Jahrelang haben die Globalisierungskritiker den Niedergang des Nationalstaates beklagt. Heute zeigt sich, dass der Nationalstaat immer der zentrale Verwalter der Arbeit und Verteidiger der Klassenherrschaft war und ist. Alle patriotischen rechten oder linken Positionen über die fremden Spekulanten, die "uns" ausbeuten, zielen auf eine Orientierung weg vom Klassenkampf und hin zur nationalen Einheit.


Antideutschtum 2: Populismus

Anlässlich der diffamierenden Artikel über Griechenland in der deutschen Presse konnte man hier reaktionäre und lächerliche Meinungen hören und lesen. Politiker, Abgeordnete und andere öffentliche Personen traten als Populisten auf. Viele Verteidiger der Nation ärgerten sich insbesondere über die Venus von Milo mit dem Stinkefinger in der Zeitschrift Focus (22.2.10). Der rechte Bürgermeister von Athen sagte gar: "Heute ist Europa frei und demokratisch, weil hunderttausende Griechen im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben..."


Grenzen der bisherigen Mobilisierung

In den bisherigen Mobilisierungen gibt es eine eindeutige Hegemonie der Gewerkschaften bzw. der traditionellen Organisationen wie PASOK oder KKE und einen Mangel an Autonomie. Die Mobilisierung erfasst v.a. Beschäftigte im öffentlichen Dienst, die auch streiken. Die im Privatsektor Beschäftigten kommen zwar zu Demos, aber streiken nicht. SchülerInnen sind kaum zu sehen. Hingegen nehmen "MigrantInnen" auch bei Gewerkschaftsdemos selbstverständlich teil.

Die kleinen "Basisgewerkschaften" sind marginal. Die Kampfformen der Gewerkschaftsdemos sind offensichtlich vom Dezember 2008 beeinflusst, aber die drei Toten waren ein Schock.

Die Demo zum Generalstreik am 20. Mai war wesentlich kleiner als am 5. Mai (40.000 Leute gegenüber 200.000). Die Polizei trat massiv auf und begleitete die Demo mit einem Spalier auf den Bürgersteigen. Aber noch schlimmer (und was einen pessimistisch stimmt) ist: die DemonstrantInnen schienen sich zu langweilen und von der bedrohlichen Haltung der Polizei einschüchtern zu lassen. Die Parolen wurden leise gerufen, und überhaupt war die Stimmung nicht lebendig.

Für Anfang Juni, wenn die neuen Gesetze verabschiedet werden, plant die Gewerkschaftsbürokratie weitere Demos und Kundgebungen. Es geht aber darum, was die Basisstrukturen und arbeiterautonome Mobilisierungen jenseits der Vermittlungsinstitutionen wie GSEE/ADEDY machen könnten. Solange die Basis keine radikale Phantasie und keine neuen Aktionsformen in die Produktions-/Arbeitswelt hineinträgt, kann die bisherige Ohnmacht und Individualisierung gegenüber der Lohnsklaverei nicht überwunden werden. Und Proteste bleiben Proteste - das wissen und tolerieren die Bosse seit langem.


Randnotizen

Der Lettre No. 32" von Mouvement Cornmuniste ist soeben erschienen mit einer ausführlichen Analyse und politischen Bewertung der Krise in Griechenland erschienen:
Grèce: La crise fiscale de I'Etat remet à l'ordre du jour la necessité d'une politique ouvrière independante
http://www.mouvement-communiste.com/

Von Januar bis April 2010 streikten die ägyptischen Fischerei-Arbeiter, die jedes Jahr nach Griechenland kommen. Der Bericht über diesen Kampf, der von PAME und linken Gruppen unterstützt wurde, passte nicht mehr ins Heft - Ihr findet ihn auf unserer Website www.wildcat-www.de

Die Abhängigkeits- oder Dependenztheorie erklärt die Unterentwicklung aus der Abhängigkeit der Dritte-Welt-Länder (Peripherie) von den Industrieländern (Zentrum).
Auch in Iran und Lateinamerika spielte diese Theorie eine zentrale Rolle in der linken Diskussion - (siehe den Artikel auf Seite 36 der Printausgabe.)

Raute

Kritische und erstickende Zeiten

Ein Bericht über die Demonstrationen in Athen vom 5. und 6. Mai verbunden mit weitergreifenden Überlegungen zur gegenwärtigen kritischen Situation der Bewegung in Griechenland

von TPGT (Ta Paida Tis Galarias - Kinder des Olymp)

Obwohl sich der akute fiskalpolitische Terrorismus zurzeit unter ständigen Drohungen mit einem unmittelbar bevorstehenden Staatsbankrott und "notwendigen Opfern" von Tag zu Tag verschärft, war die Antwort des Proletariats direkt vor der Verabschiedung neuer Sparmaßnahmen im griechischen Parlament beeindruckend. Es handelte sich um die vermutlich größte Demonstration von Arbeitern seit dem Ende der Diktatur, größer noch als die im Jahr 2001, nach der eine geplante Rentenreform zurückgezogen wurde. Wir schätzen, dass im Athener Stadtzentrum mehr als 200.000 und im Rest des Landes weitere 50.000 Demonstranten auf der Straße waren. In fast allen Sektoren des (Re-)Produktionsprozesses fanden Streiks statt. Auch eine proletarische Menge ähnlich jener, die im Dezember 2008 auf die Straße gegangen war (und die in der Propaganda der Mainstream-Medien abwertend als "Kapuzenjugend" bezeichnet wird), war mit dabei, ausgerüstet mit Äxten, Fäusteln und Vorschlaghämmern, Molotowcocktails, Steinen, Gasmasken, Schutzbrillen und Stöcken. Obwohl die Vermummten mitunter ausgebuht wurden, wenn sie zu gewaltsamen Angriffen auf Gebäude übergingen, passten sie insgesamt gut in den bunt zusammengewürfelten und wütenden Strom von Demonstranten. Die Parolen reichten von der vollständigen Ablehnung des politischen Systems ("Feuer und Flamme für das Parlamentsbordell!") bis zu patriotischen ("IWF raus!") und populistischen Losungen ("Diebe!", "Gauner hinter Gitter, das verlangt das Volk!"). Parolen, die sich aggressiv gegen Politiker im Allgemeinen richten, gewinnen gegenwärtig mehr und mehr Verbreitung.

Zur Demo der Gewerkschaftsverbände GSEE (privater Sektor) und ADEDY (öffentlicher Dienst) strömten die Leute zu Tausenden auf den Kundgebungsplatz. Als der GSEE-Vorsitzende seine Rede begann, wurde er ausgepfiffen. Wie bereits auf der Demo vom 11. März schlug die GSEE-Führung einen Umweg ein, um die Masse zu umgehen und sich an die Spitze des Zugs zu setzen, aber diesmal folgten ihr nur wenige...

Die Demo von PAME (der "Arbeiterfront" der Kommunistischen Partei) war mit deutlich über 20.000 Teilnehmern ebenfalls groß und kam als erste am Syntagma-Platz an. Geplant war, dort eine Weile zu bleiben und dann vor dem Eintreffen der größeren Hauptdemonstration den Platz zu verlassen. Doch die Mitglieder wollten nicht gehen, sondern blieben stehen und riefen wütende Parolen gegen die Politiker. Die KP-Vorsitzende erklärte später, faschistische Provokateure (konkret beschuldigte sie die LAOS-Partei, ein Mischmasch aus rechtsradikalen Schlägern und einem Abschaum von Nostalgikern der Junta) hätten PAME-Tafeln getragen und KP-Mitglieder dazu angestachelt, das Parlament zu stürmen, um damit die Verfassungstreue der KP zu diskreditieren! Das ist zwar insofern nicht ganz falsch, als dort tatsächlich Faschisten gesichtet wurden, doch wie Augenzeugen berichten, bereitete es der KP-Führung in Wahrheit gewisse Schwierigkeiten, ihre Mitglieder eilig von dem Platz wegzulotsen und daran zu hindern, wütende Parolen gegen das Parlament zu rufen. Vielleicht ist es zu gewagt, darin ein Anzeichen für aufkeimenden Ungehorsam in der straff disziplinierten, in Stein gemeißelten Partei zu sehen, aber in so bewegten Zeiten kann das niemand mit Gewissheit sagen...

Die gut 70 Faschisten, die sich vor den Aufstandsbekämpfungseinheiten der Polizei aufgestellt hatten, beschimpften die Politiker ("Hurensöhne, Politiker!"), sangen die Nationalhymne und warfen sogar ein paar Steine auf das Parlament. Wahrscheinlich waren sie von dem vergeblichen Wunsch gelenkt, eine Eskalation der Gewalt zu verhindern, doch sie wurden rasch von den riesigen Wellen von Demonstranten verschluckt, die sich dem Platz näherten.

Größere Gruppen von Arbeiterinnen und Arbeitern (Elektriker, Angestellte der Post und der Stadtverwaltung) versuchten schon bald, auf jedem erdenklichen Weg in das Parlamentsgebäude zu gelangen, doch mehrere hundert Aufstandsbekämpfungspolizisten auf dem Vorplatz versperrten sämtliche Eingänge. Eine andere Ansammlung von Arbeiterinnen und Arbeitern aller Altersgruppen stellte sich den Bullen entgegen, die vor dem Grab des Unbekannten Soldaten standen, und beschimpften und bedrohten sie. Die Kampfeinheiten der Polizei konnten die Menge zwar durch einen massiven Gegenangriff mit Tränengas und Rauchbomben auseinander treiben, doch es zogen ständig neue Blöcke von Demonstranten vor das Parlament, während diejenigen, die zurückgedrängt worden waren, sich von Neuem in der Panepistimiou-Straße und der Syngrou-Allee sammelten. Sie zerstörten, was immer gerade in Reichweite war, und attackierten die Einheiten der Aufstandsbekämpfer, die über die angrenzenden Straßen verteilt waren. Obwohl die meisten großen Gebäude im Stadtzentrum mit Rolläden geschlossen waren, konnten sie auch einige Banken und staatliche Gebäude angreifen. Insbesondere in der Syngrou-Allee gab es erheblichen Sachschaden, da nicht genug Polizisten da waren, um sofort gegen die Aufständischen einzuschreiten. Die oberste Anweisung lautete nämlich, das Parlament zu schützen und die Panepistimiou-Straße und die Stadiou-Straße zu räumen, durch welche die Menge immer wieder vor das Parlament zog. Luxusautos, ein Finanzamt und die Stadtverwaltung von Athen wurden in Brand gesetzt und noch Stunden später sah es in der Gegend aus wie in einem Kriegsgebiet.

Die Straßenschlachten dauerten beinahe drei Stunden. Es ist unmöglich, das Geschehen hier vollständig darzustellen. Nur ein Beispiel: Einigen Lehrern und Arbeitern gelang es, Kampfpolizisten der Gruppe D - einer neuen Einheit mit Motorrädern - zu umzingeln und zu verprügeln, während die Bullen riefen: "Bitte nicht, wir sind auch Arbeiter!"

Die in die Panepistimiou-Straße abgedrängten Demonstranten zogen immer wieder in Blöcken vor das Parlament, und die Zusammenstöße mit der Polizei gingen unaufhörlich weiter. Auch hier war die Menge bunt gemischt und wollte nicht gehen. Mit Steinen in den Händen erzählte uns ein städtischer Arbeiter sichtlich bewegt, wie sehr ihn die Situation an die ersten Jahre nach dem Ende der Diktatur erinnerte. 1980 hatte er an der Demonstration zum Gedenken an den Aufstand im Polytechnikum teilgenommen, bei der die Polizei die 20 Jahre alte Arbeiterin Kanellopoulou ermordet hatte.

Kurz darauf erreichte die Schreckensmeldung ausländischer Nachrichtenagenturen die Handies: drei oder vier Tote in einer ausgebrannten Bank!

Es hatte an mehreren Stellen Versuche gegeben, Banken niederzubrennen, aber die Menge ließ davon jeweils ab, da in den Gebäuden Streikbrecher eingeschlossen waren. Nur das Gebäude der Marfin Bank in der Stadiou-Straße wurde schließlich in Brand gesetzt. Es waren allerdings nicht "Kapuzenhooligans" gewesen, die die Bankangestellten nur wenige Minuten vor der Tragödie unter anderem als "Streikbrecher" angebrüllt und sie aufgefordert hatten, das Gebäude zu verlassen, sondern organisierte Blöcke von Streikenden. Aufgrund der Größe und Dichte der Demo, des allgemeinen Aufruhrs und der lauten Sprechchöre herrschte natürlich - wie immer in solchen Situationen - ein gewisses Durcheinander, das es schwierig macht, die Tatsachen über den tragischen Vorfall exakt wiederzugeben. Es scheint jedoch der Wahrheit nahe zu kommen (wenn man einzelne Informationen von Augenzeugen zusammenfügt), dass in dieser Bank, mitten im Zentrum Athens und am Tag eines Generalstreiks, etwa 20 Angestellte von ihrem Boss zur Arbeit gezwungen und "zu ihrem Schutz" eingeschlossen worden waren und drei von ihnen schließlich an Erstickung starben. Zunächst war durch das Loch, das jemand in eine Fensterscheibe geschlagen hatte, ein Molotowcocktail ins Erdgeschoss geworfen worden. Doch als mehrere Bankangestellte auf den Balkonen gesehen wurden, riefen ihnen Demonstranten zu, das Gebäude zu verlassen, und versuchten das Feuer zu löschen. Was dann tatsächlich geschah und wieso das Gebäude in so kurzer Zeit in vollen Flammen stand, ist bislang unklar. Über die makabre Serie von Vorfällen - Demonstranten versuchten, den Eingeschlossenen zu helfen, die Feuerwehr brauchte zu lang, einige von ihnen aus dem Gebäude zu holen, und der grinsende Banker-Milliardär wurde von der wütenden Menge verjagt - wurde wohl hinreichend berichtet. Etwas später gab der Ministerpräsident die Nachricht im Parlament bekannt und verurteilte die "politische Unverantwortlichkeit" derjenigen, die sich den beschlossenen Maßnahmen widersetzten und "Menschen in den Tod treiben", während die "Rettungsmaßnahmen" der Regierung "dem Leben dienen". Diese Verdrehung hatte Erfolg. Kurz darauf folgte ein Großeinsatz der Polizei: die Massen wurden auseinandergejagt, die gesamte Innenstadt bis spät in die Nacht abgesperrt, der Stadtteil Exarchia einem Belagerungszustand unterworfen. Die Polizei drang in ein von Anarchisten besetztes Haus ein, das als Zentrum funktionierte, und nahm Viele fest. Ein Migrantenzentrum wurde zerstört, und der Rauch über der Stadt wollte ebenso wenig verschwinden wie ein Gefühl von Bitterkeit und Betäubung...

Die Folgen wurden bereits am nächsten Tag deutlich: Die Aasgeier der Medien beuteten die tragischen Todesfälle aus, lösten sie als eine "persönliche Tragödie" aus ihrem allgemeinen Kontext (bloße Leichen, abgetrennt von allen gesellschaftlichen Beziehungen) und gingen in einigen Fällen so weit, Protest und Widerstand zu kriminalisieren. Die Regierung gewann etwas Zeit, indem sie das Thema der Auseinandersetzungen auswechselte, und die Gewerkschaften sahen sich von jeglicher Pflicht entbunden, für den Tag der Verabschiedung der neuen Maßnahmen zum Streik aufzurufen. In diesem Klima der Angst, Enttäuschung und Erstarrung versammelten sieh abends gleichwohl ein paar tausend Leute bei einer Kundgebung vor dem Parlament, zu der die Gewerkschaften und linke Organisationen aufgerufen hatten. Die Wut war noch immer da, es wurden die Fäuste gereckt, Wasserflaschen und ein paar Böller auf die Kampfpolizisten geworfen und Parolen gegen Parlament und Polizei gerufen. Eine alte Frau forderte die Leute zu Sprechchören auf, damit "sie [die Politiker] verschwinden", ein Typ pisste in eine Flasche und warf sie auf die Bullen; nur wenige Antiautoritäre waren gekommen, und als es dunkel wurde und die Gewerkschaften und die meisten Organisationen gingen, blieben noch immer Leute da, vollkommen unbewaffnete, gewöhnliche, alltägliche Leute. Von der Polizei brutal angegriffen, zurückgedrängt und die Stufen am Syntagmaplatz hinuntergeworfen, wurde die von Panik ergriffene, aber zugleich wütende Menge aus jungen wie alten Leuten schließlich in den angrenzenden Straßen auseinander getrieben. Die Ordnung war wieder hergestellt. Es stand ihnen jedoch nicht nur die Angst ins Gesicht geschrieben; auch ihr Hass war unübersehbar. Es ist sicher, dass sie wiederkommen werden.


Nun ein paar allgemeinere Überlegungen:

1. Das harte Durchgreifen gegen Anarchisten und Antiautoritäre hat bereits eingesetzt und wird sich noch verschärfen. Schon immer hat der Staat die Kriminalisierung einer ganzen sozialen und politischen Szene bis weit in die linksradikalen Organisationen hinein als Ablenkung benutzt, und jetzt, da ihm der mörderische Angriff so günstige Bedingungen bietet, wird das erst recht so sein. Doch auch wenn man den Anarchisten etwas anhängt, wird das nicht dazu führen, dass die Hunderttausende, die demonstriert haben, und die noch viel größere Zahl von Menschen, die untätig geblieben, aber ebenfalls besorgt sind, den IWF und das "Rettungspaket" vergessen, das ihnen die Regierung anbietet. Die Schikanierung unserer Szene wird niemandem die Rechnungen bezahlen oder die Zukunft garantieren - die bleibt nämlich düster. Die Regierung wird in absehbarer Zeit den Widerstand überhaupt kriminalisieren müssen, und wie die Vorfälle vom 6. Mai zeigen, hat sie damit auch schon begonnen.

2. Seitens des Staates wird es bescheidene Versuche geben, zur Besänftigung verbreiteter Stimmungen, die sich leicht zu Blutdurst steigern könnten, bestimmte Politiker zu "Sündenböcken" zu machen. Vielleicht werden ein paar besonders krasse Fälle von "Korruption" bestraft und ein paar Politiker geopfert, um die Wogen zu glätten.

3. Im Zuge eines Spektakels der Schuldzuweisungen sprechen sowohl LAOS wie die KP ständig von einer "Abweichung von der Verfassung". Darin drückt sich die zunehmende Angst der herrschenden Masse vor einer Verschärfung der politischen Krise, einer Verschärfung der Legitimationskrise aus. Derzeit erleben verschiedene Szenarien eine Neuauflage: eine Partei der Geschäftsleute oder auch eine Art Junta-Regime. Die Szenarien offenbaren die tiefe Angst vor einem proletarischen Aufstand und dienen de facto dazu, das Problem der Schuldenkrise wieder von der Straße auf die Bühne der großen Politik zu verschieben - hin zu der banalen Frage "Wer wird die Lösung sein?" statt "Was ist die 'Lösung'?".

4. Nachdem das alles benannt worden ist, können wir uns den entscheidenden Fragen zuwenden. Es ist hinreichend deutlich, dass bereits das widerliche Spiel begonnen hat, die Angst und Schuldgefühle wegen der Schulden zu verwandeln in Angst und Schuldgefühle wegen des Widerstands und des (gewaltsamen) Aufruhrs gegen den Terrorismus der Schulden. Wenn der Klassenkampf eskaliert, könnte sich die Lage mehr und mehr wie ein regelrechter Bürgerkrieg darstellen. Die Gewaltfrage ist bereits zentral geworden. So wie wir die staatliche Handhabung der Gewalt abwägen, müssen wir auch zu einer Einschätzung der proletarischen Gewalt kommen: Die Bewegung muss sich praktisch mit der Legitimierung der Gewalt im Aufstand und mit ihrem Inhalt auseinandersetzen. Was das anarchistisch-antiautoritäre Milieu und die in ihm vorherrschende insurrektionallstische Strömung betrifft, ist die Tradition der Fetischisierung und machoartigen Verherrlichung von Gewalt zu lang und ungebrochen, als dass man ihr gleichgültig gegenüberstehen könnte. Seit Jahren wird die Gewalt als Selbstzweck in allen möglichen Abwandlungen propagiert (bis hin zum bewaffneten Kampf im strengen Sinn). Besonders nach der Rebellion vom Dezember ist nihilistischer Zerfall in der Szene selbst zutage getreten (in unserem Text The Rebellious Passage haben wir an einigen Stellen darauf hingewiesen). An den Rändern des Milieus wurde eine wachsende Zahl sehr junger Leute sichtbar, die für grenzenlose nihilistische Gewalt (kostümiert als "Nihilismus des Dezember") und Zerstörung eintreten, selbst wenn dies das variable Kapital einschließt (in Gestalt von Streikbrechern, "kleinbürgerlichen Elementen", "gesetzestreuen Bürgern"). Diese Degeneration als Folge der Revolte und ihrer Grenzen sowie der Krise selbst, ist unübersehbar. In gewissem Maße wurde im Milieu bereits damit begonnen, solche Verhaltensweisen zu verurteilen und Selbstkritik zu leisten (einige anarchistische Gruppen haben die Verantwortlichen für den Anschlag auf die Bank sogar als "parastaatliche Schlägertypen" bezeichnet) und es ist durchaus möglich, dass organisierte Anarchisten und Antiautoritäre (Gruppen wie besetzte Häuser) versuchen werden, solche Tendenzen sowohl politisch wie in der Praxis zu isolieren. Die Situation ist jedoch komplizierter und übersteigt das theoretische wie praktische (selbst-)kritische Vermögen dieses Milieus. Im Rückblick betrachtet, hätte es auch während der Rebellion vom Dezember zu solchen tragischen Vorfällen mit allen Konsequenzen kommen können - verhindert wurde es nicht nur durch Zufall (neben Gebäuden, die am 7. Dezember in Brand gesetzt wurden, befand sich eine Tankstelle, die aber nicht explodierte, und die gewalttätigsten Riots fanden nachts statt, als die meisten betroffenen Gebäude leer waren). Verhindert wurde es auch durch die Herstellung einer (wenngleich begrenzten) proletarischen Öffentlichkeit und die Herstellung von Kampfgemeinschaften, die ihren Weg nicht nur durch die Praxis der Gewalt fanden, sondern auch durch ihre Inhalte, ihren Diskurs und andere Formen der Kommunikation. Bereits existierenden Gemeinschaften (von Studierenden, Fußballhooligans, Einwanderern, Anarchisten) haben sich durch die Themen der Rebellion selbst in Kampfgemeinschaften verwandelt und wiesen der Gewalt einen sinnvollen Ort zu. Wird es solche Gemeinschaften nun, da nicht mehr nur eine proletarische Minderheit aktiv ist, von Neuem geben? Werden sich am Arbeitsplatz, in den Stadtteilen oder auf der Straße praktische Formen von Selbstorganisation entwickeln, die sich die Aufgabe stellen, den Inhalt des Kampfes zu bestimmen und so die Gewalt in eine Perspektive der Befreiung einzubetten?

Das sind unbequeme Fragen in einer drängenden Phase. Die Antworten werden wir finden müssen, während wir weiter kämpfen.

TPTG, 9. Mai 2010


Randnotizen

Außerdem von TPTG vom März 2010: "Hier steht nur noch eine Abrechnung aus: unsere Abrechnung mit dem Kapital und seinem Staat" Ein Bericht über die aktuellen Kämpfe in Griechenland auf www.wildcat-www.de

The rebellious passage of a proletarian minority through a brief period of time

http://libcom.org/library/rebellious-passage-proletarian-minority-through-brief-period-time-tptg

Raute

"Wir sind ein Bild der Zukunft"

Gelebte Fragmente des Dezemberaufstands 2008 in Griechenland

Die Gruppe Les Habitants de la Lune (BewohnerInnen des Mondes) hat eine Broschüre über den Aufstand in Griechenland im Dezember 2008 veröffentlicht.

Die AutorInnen haben eine wunderbar poetische Sprache; aber sie haben nur den Blick auf"unsere Bewegung", auch wenn sie das immer "Proletariat" und "Klasse" nennen. Es gelingt ihnen, sehr viel zu sammeln, was es an Solidarität mit der Bewegung gab, sie stehen aber vor dem großen Rätsel, warum die ArbeiterInnen nicht gestreikt haben - und können es nicht lösen. Das ist kein Vorwurf, das Rätsel löst sich erst, wenn sich die ArbeiterInnen wirklich in Bewegung setzen, und es ist sehr löblich, dass sie so viele Gedanken darauf verwenden. Aber wie sie es machen und welche Gedanken sie drauf verwenden, das ist auch die Grenze ihrer ansonsten klugen Kritik am Linksgewerkschaftertum. Die Anleihen am Situationismus machen die Analyse teilweise zirkulär: "Der Kapitalismus produziert sein Gegenteil, die Entwertung" (S. 6)

Genauer und authentischer sind ihre Schilderungen der Demos und Straßenkämpfe:

"Durch diese Taktik werden die Bullen verwirrt. Die Antiaufstands-Einheiten fahren schweres Gerät auf und konzentrieren sich auf das, was sie für die zentrale Demo halten, aber wenn sich die Demonstranten zerstreuen, verwechseln sie Ortswechsel mit Auflösung und kommen mit den zerstreuten Angriffen nicht zurecht. Die Demonstranten führen dort Aktionen durch, wo die Bullen es nicht erwarten und zerstreuen sieh schnell, um sieh woanders wieder neu zu sammeln. Handies spielen eine wichtige Rolle bei der Organisierung dieser Angriffe.

In ihrem Willen, den Tod ihres ermordeten Bruders zu rächen, legen die Proletarier eine originelle Taktik und große Erfindungskraft an den Tag, und dafür brauchen sie nicht tonnenweise Handbücher zur Stadtguerilla zu lesen. Ganz nebenbei drehen sie dem "kämpfenden Marxismus-Leninismus" und dem "antiimperialistischen Guerillerismus" eine Nase, diesen militanten Mafias [racket - Schutzgelderpresser], die mit ihrem bewaffneten Fetischismus letztlich paradoxerweise das Proletariat entwaffnen, indem sie ihm seine kommunistische Perspektive wegnehmen und es zu einem bloßen Zuschauer verwandeln. Diese stalinophilen Anhänger der Diktatur über das Proletariat, große Gelehrte des lang anhaltenden Volkskriegs und der Stadtguerilla, mussten doch einigermaßen überrascht gewesen sein, wie sich unsere Klasse sozusagen aus dem Bauch heraus so einfach einige grundlegende Prinzipien des Zusammenstoßes in der Stadt zu eigen gemacht hat: kraftvoll die schwächste Stelle des feindlichen Apparats angreifen, sieh nach dem Angriff zerstreuen, um etwas weiter entfernt dort wieder aufzutauchen, wo es der Staat nicht erwartet." (S. 10 - zu den Ereignissen am "7. Dezember, dem zweiten Tag des Chaos")

Nachdem samstags Meine Minderheiten die Unruhen ausgelöst hatten, sind am Sonntag bereits "Jugendliche, Immigranten, Fußballfans, Gymnasiasten, Spezialisten der Enteignung, Illegale..." auf ihrer Seite (S. 12). Neben den Unis wurden mehr als 400 Gymnasien besetzt, hunderte von öffentlichen Gebäuden, Radio- und Fernsehstationen, Theater... Später traten Knackis 24 Stunden lang in den Hungerstreik aus Solidarität mit dem Aufstand.

Auf S. 21 geben sie ausführlich einen Offenen Brief wieder, in dem "Hunderte von Soldaten in mehr als 42 Kasernen" ihre Solidarität mit dem Aufstand erklären, Militarismus, Nationalismus und Ausbeutung verdammen und erklären, sie würden sich weigern, sollten sie gegen "ihre Brüder und Schwestern" eingesetzt werden. An anderer Stelle in der Broschüre wird davon berichtet, dass die griechische Regierung bereits bei Frankreich vorgefühlt hatte, ob sie im Notfall Truppen schicken würden!

Nicht nur die drei Tage des Aufstands werden ausführlich geschildert, die Broschüre versucht eine chronologische Darstellung bis zur Besetzung der Gewerkschaftszentrale am 17. Dezember (dem "zwölften Tag"). Der Bericht über diese Besetzung wird allerdings von der griechischen Gruppe TPTG heftigst kritisiert, weil er eine Spaltung zwischen "Basisgewerkschaftern" und "Proletariern" als Personen aufmacht, die in dieser Klarheit nicht besteht, und in der Anklage gipfelt, die Basisgewerkschafter hätten sich zu Bullen gegenüber den kämpfenden Proletariern gemacht. Hier können wir nur auf eine angeregte Diskussion und eine Richtigstellung der kritisierten Passagen hoffen!

Am Schluss kommen sie zu folgender Einschätzung des Aufstandes: "Wenn man nur die Zahl der Teilnehmer in Betracht zieht, war die Bewegung im Dezember 2008 in Griechenland relativ schwach. Aber das Erstaunliche liegt gerade darin, dass eine im Vergleich zu den großen historischen Kampfwellen kleine Bewegung es geschafft hat, die kommende Welt deutlich zu machen, die Welt von morgen, den Kommunismus. Eine Welt, die das Proletariat enthüllt, wenn es durch seine Taten vor Augen führt, dass es nicht mehr Proletariat sein will." (S. 43)


Jetzt das gekürzte erste Kapitel der Broschüre:

1. Vom Einfluss des "Café Frappé" auf das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen

"Wollt Ihr wissen, wie wir das Rathaus von Halandri besetzt haben?"(1) Evangelos erhebt sich ruckartig vom Tisch und beginnt zu erzählen. "Es war viertel nach acht, wir waren zu siebt und einige hatten einen Becher Kaffee in der Hand." Er ahmt die typische Haltung des griechischen Frappé-Trinkers nach. Mit verschränkten Armen lässig dastehend, einen Becher mit Kaffee und zerkleinertem Eis in einer Hand, den Trinkhalm im Mund... schlürft er sein Lieblingsgetränk.

"Guten Morgen, wir werden gleich das Gebäude besetzen..."

"Das ist nicht möglich", erklärt der Direktor des Zentrums förmlich. "Dies ist ein öffentliches Gebäude, für das ich verantwortlich bin, und alle Angestellten sind auf meiner Seite. Ich... "

"Beeilen Sie sich bitte..."

"Ja, ja, sicher... Ich werde alle unterrichten und wir werden verschwinden... "

Evangelos macht seinen Gesichtsausdruck nach. Er wirft einen Blick auf einen imaginierten Kumpel, nimmt erneut einen Schluck von seinem Kaffee und tut so, als ob er in aller Seelenruhe das Büro des Verantwortlichen betreten würde... dann setzt er sich wieder zu uns.

"Wir haben das alte Rathaus mit einem Becher Café Frappé in der Hand geräumt." Und er fügt diese für uns alle grundlegende Schlussfolgerung hinzu: "Physisch waren wir zu siebt, politisch waren wir Tausende... wir fühlten hinter uns die Kraft der Bewegung. Der hohe Beamte, den wir vor uns hatten, spürte diese Bewegung nicht, er sah sie. In meinem Café Frappé nahm er die gesellschaftliche Kraft wahr - das Proletariat - , die in den vergangenen Tagen ihre ganze Wut rausgelassen hatte. Seine Gesichtsfarbe änderte sich. Die Angst wechselte die Seite."

Dieser knappe Bericht eines Genossen(2) beschreibt an einem besonderen Fall wunderbar die allgemeine gesellschaftliche Trennung, die sich im bestehenden Kräfteverhältnis von dem Moment an vollzieht, in dem die Ausgeschlossenen dieser Welt gemeinsam die Ordnung, die sie tagtäglich unterdrückt, in Frage stellen.

[...] Wir alle, die nichts waren, sind in einem Moment alles geworden. Wir werden uns darüber bewusst, an etwas teil gehabt zu haben, das bewirkt, dass "in unserem Leben nichts mehr so sein wird wie zuvor".(3) [...]

Obwohl die Besetzer in diesem Gebäude des Innenministeriums nur eine Handvoll Leute waren, haben sie sich als große Kraft wahrgenommen, als Ausdruck einer solidarischen Einheit, die weit über sie hinaus weist. Diese Kraft besteht darin, dass diese Besetzung und die ihr zugrunde liegende Bewegung nicht nur eine Ansammlung von Studenten, Angestellten, Immigranten und einigen Arbeitern ist, wie uns die vorgefertigte Meinung der Journalisten und Gewerkschaften glauben machen will. Und noch unsinniger ist die Behauptung einiger Ideologen, diese Kraft komme aus einem zufälligen und ungeduldigen Aufmarsch von Jugendlichen, Aufrührern und Anarchisten... Der Dezember 2008 enthüllt wie viele andere Kämpfe vorher, dass in dieser Welt ein Widerspruch wohnt, eine Bewegung, die eine globale Perspektive transportiert und eine lebendige, praktische und materielle Alternative zum Kapitalismus entwickelt. Wenn das Proletariat seine Existenz als Ausgebeutete in Frage stellt, dann ist es nicht nur das eine oder andere einzelne Individuum vor den Türen eines Amtsgebäudes, sondern eine ganze Menschheit im Werden, eine gesellschaftliche Kraft, die egal an welchem Ort und in welcher Zahl handelt, die die Ordnung der Dinge umstürzen und das vom Kapital errichtete gesellschaftliche Verhältnis stören will. [...]

Im Dezember wurde noch ein anderer Aspekt sichtbar: der Internationalismus. Was nicht überrascht, denn wenn unsere Bewegung sich ausdrückt, zeigt sie auch ihren globalen Charakter. Die Aufteilung in Nationen kaschiert üblicherweise die weltweite Spaltung in gesellschaftliche Klassen. So lange sozialer Friede(4) herrscht, fällt es dem Proletariat schwer, zum Ausdruck zu bringen, dass es kein Vaterland hat, sondern dass es überall auf der Welt eine einzige Gemeinschaft mit gleichen Bedingungen, Interessen und Perspektiven bildet. [...] In jeder Konfrontation mit dem Klassenfeind und dem Staat lauert notwendigerweise eine internationale Dimension. [...]

Der Kampf in Griechenland hat sich aber auch auf die andere gesellschaftliche Klasse ausgewirkt, die Bourgeoisie und ihren Staat, die Angst vor einer möglichen Ansteckung hatte. Die Regierung Sarkozy zum Beispiel, die gerade mit den Gymnasiasten und Lehrern im Clinch war, die gegen ihre Reformen protestierten, verfolgte die Aufstände tausende Kilometer weit weg mit unverhohlener Furcht, aufgescheucht vom Gedanken, in Frankreich könne eine ähnliche Situation entstehen - oder schlimmer noch: sich allgemein verbreiten. Ganz unbegründet waren die Befürchtungen des Staates nicht, hat doch die kapitalistische Entwicklung der letzten Jahre das Leben der Menschen so erschüttert, dass im Namen der Herrschaft des Geldes die Bedingungen überall auf der Welt immer identischer und beschissener geworden sind. Wie viele überall auf der Welt haben sieh nicht spontan mit ihren Klassenbrüdern identifiziert, als diese in den großen Städten Griechenlands die Bullen angegriffen haben! Wie viele haben nicht davon geträumt, auch einen Pflasterstein in ein Schaufenster zu werfen oder Fahrkartenautomaten anzuzünden! Wie viele haben sieh nicht sehnsüchtig gewünscht, diesen tollen Kampf auch in ihrer Stadt, ihrem Viertel zu erleben! Im vollen Bewusstsein dieser Gefahr hat der französische Außenminister in den ersten Tagen der sozialen Explosion verkündet: "Ich möchte hiermit meine Besorgnis, die Besorgnis aller über den weiteren Fortgang des Konflikts in Griechenland zum Ausdruck bringen." Sein Kollege aus dem Bildungsministerium formulierte seine Angst vor "sozialen Unruhen, die weit über die Gymnasialreform(5) hinausgehen". Ähnlich Sarkozy, der den Ausbruch "von sozialen Zusammenstößen, gewalttätigen Auseinandersetzungen in Frankreich" befürchtete. Die französische Regierung beschloss umgehend die einseitige Rücknahme des Gesetzesvorschlags, der die Jugendlichen in Frankreich auf die Palme gebracht hatte. [...]


"Ja zum Klassenkampf. Nein zur Gewerkschaft" (Graffiti in Athen)

Eine Ecke des Planeten erhebt sich, und alle Staaten erzittern. Wie sollte es auch anders sein? Angesichts der Revolte fürchtet die Bourgeoisie überall um ihre Profite, um ihre Banken, um ihre Läden, um ihre Fabriken, um ihre Legitimität... um ihre Zukunft. [...] Das gesellschaftliche Verhältnis zwischen Produktionsmittelbesitzern und freien Verkäufern von Arbeitskraft, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, wird in Frage gestellt. Und deshalb erzittert das Kapital in seiner Gesamtheit, egal wo die Aufstände stattfinden. Für eine Weile sind Konkurrenz und Rivalität untereinander weggewischt. Denn der einzige Krieg, der jetzt zählt und den sie Hand in Hand führen müssen, geht gegen den historischen Feind: die soziale Revolution.

Die Wut des Dezembers in Griechenland hat eines bestätigt: wenn die Ausgebeuteten irgendwo auf der Welt kämpfen, nützt das dem Proletariat auf dem gesamten Planeten, bei seiner dauernden Kraftprobe mit der Bourgeoisie. Anders gesagt, die Wellen, die der Café Frappé in Athen ausgelöst hat, haben die Entschlossenheit der Mächtigen auf der ganzen Welt ins Schwanken gebracht.


Literatur

Nous sommes une image du futur - Fragments vécus du soulèvement de décembre 2008 en Grèce

leshabitantsdelalune@yahoo.fr

Wir haben mehr übersetzt, als wir hier veröffentlichen. Wenn jemand die Broschüre auf Deutsch herausgeben will → Mail an redaktion@wildcat-www.de

TPTG hat mehrere Bericht zur Dezemberrevolte geschrieben. Sie sind auf www.libcom.org zu finden oder auf Deutsch z.B. unter:
http://www.klassenlos.tk/griechenland.php

Anmerkungen

1) Gemeint ist das alte Rathaus von Halandri, das am Freitag, 12. Dezember 2008 besetzt wurde. Halandri ist ein Arbeiterviertel im Norden Athens. In diesem öffentlichen Gebäude ist ein Zentrum zur Bürgerhilfe namens KEP, das direkt dem Innenministerium unterstellt ist. Es ist eines von vielen öffentlichen Gebäuden, die in diesen drei Wochen der Kämpfe besetzt wurden.

2) Wir benutzen unterschiedslos die Begriffe Genosse, Kumpel, Bruder... um die große Bandbreite all derer zu bezeichnen, die einen gemeinsamen Kampf gegen diese Welt führen.

3) Auszug aus "Wir zerstören die Gegenwart, da wir aus der Zukunft kommen", Kommuniqué der Proletarier der Wirtschafts- und Handelshochschule, in Kurzform ASOEE, eine der großen Universitäten Athens.

4) Der Begriff "Sozialer Friede" verneint nicht die Existenz eines Klassenantagonismus, sondern meint eine Phase des Klassenkriegs, die durch die vernichtende Dominanz der Ausbeuter über die Ausgebeuteten gekennzeichnet ist. Eine Periode, in der die Bourgeoisie sich auf die Ruhe stützt, mit der sie zeitweise ihren Gegner matt gesetzt hat, um die Existenz von Klassen an sich zu negieren und den demokratischen Staat mit seinen Organisations- und Ausbeutungsformen als Ausdruck der Verteidigung der Interessen der ganzen Gesellschaft darzustellen.

5) Gymnasialreform: nach Streiks und Demonstrationen zog Sarkozy das Projekt für eine konservativneoliberale Reform der Gymnasien erst einmal zurück, um "mehr Zeit für den Dialog" zu haben.

Raute

BUCHBESPRECHUNGEN


"Akkumulation, die auf Spekulation beruht"

Robert Brenner:
The Economics of Global Turbulence: "What is Good for Goldman Sachs is Good for America - The Origins of the Present Crisis"

Der marxistische Wirtschaftshistoriker Robert Brenner hatte in den 70er Jahren in der Debatte um den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus den Ansatz vertreten, dass dieser Übergang mit dem Klassenkampf zu erklären sei (erste "Brennerdebatte"). Durch seine Betonung der (umkämpften) Eigentumsverhältnisse konnte er zeigen, warum die Entwicklung in verschiedenen Teilen Europas in unterschiedliche Richtungen gegangen war. Mehr als 20 Jahre später (1998) erschien Brenners 260 Seiten langes "The Economics of Global Turbulence" als Nummer 229 der New Left Review. Im Internet-Boom beharrte er darauf; dass sich die Weltwirtschaft in einem langen Abschwung befinde, der von Überkapazitäten, sinkenden Profitraten und stagnierenden Investitionen in Produktionsanlagen geprägt sei. Als Folge daraus seien seit den 70er Jahren Produktivitätswachstum und Lohnsteigerungen zurückgegangen. Trotz ihrer theoretischen Schwächen löste die faktenreiche Abhandlung eine internationale Debatte ("zweite Brennerdebatte") aus. Die Zeitschrift Historical Materialism veröffentlichte z.B. 1999 zwei dicke Bände mit (kritischen) Beiträgen. In der BRD wurde sowohl der Aufsatz als auch die Debatte wenig beachtet - die marxistische Krisendebatte ab Mitte der 70er Jahre wurde auf Englisch, Italienisch, Französisch und Spanisch geführt, aber nicht auf Deutsch (das hat sich inzwischen zum Glück ein Stück weit geändert).

Das nächste, viel schwächere Buch von Brenner - The Boom and the Bubble, The US in the World Economy - wurde vom VSA-Verlag auch in deutscher Sprache veröffentlicht: Boom & Bubble, Die USA in der Weltwirtschaft. Hamburg 2002. In der Wildcat Nr. 66 haben wir das Buch besprochen, seinen Faktenreichtum gelobt, aber vor allem kritisiert, dass es die fortwährende Überakkumulation nicht zu erklären versucht.

Vor etwas über einem Jahr hat Brenner fulminant nachgelegt: Im Frühjahr 2009 schrieb er ein 73-seitiges Vorwort zur spanischen Ausgabe von The Economics of Global Turbulence: What is Good for Goldman Sachs is Good for America - The Origins of the Present Crisis, das im Internet als PDF verfügbar ist. Hierin fasst Brenner die kapitalistische Krisenentwicklung seit 1973 als eine Krise ("the long downturn 1973-2007"). Die Kette der Kriseneinbrüche seit 1973 erklärt er mit der Tiefe der jeweiligen Einbrüche, die außergewöhnliche (meist historisch erst- oder einmalige) Gegenmaßnahmen erforderlich machten - wobei diese Gegenmaßnahmen dann wiederum den weiteren Verlauf bestimmten. Aber immerhin gelang es den Herrschenden damit, "fast ein Vierteljahrhundert lang systembedrohende Krisen oder eine Depression im Ausmaß der 30er Jahre zu verhindern." [die Zitate sind eigene Übersetzungen]


Die aktuelle Weltwirtschaftskrise

Nun sind sie aber an die Wand gefahren. "Die aktuelle Weltwirtschaftskrise ist die verheerendste seit der Great Depression und könnte ähnlich ernst werden. Denn sie ist sowohl Ausdruck riesiger, ungelöster Probleme in der Realwirtschaft, die jahrzehntelang mit Krediten regelrecht übertüncht wurden, als auch die tiefste Finanzkrise der Nachkriegszeit. Das sich gegenseitig verstärkende Zusammenspiel von schwacher Kapitalakkumulation und Desintegration des Finanzwesens machen die Talfahrt unlösbar für politische Regulierung und ihr Katastrophenpotential offenkundig."

Der "tiefe, systemweite Niedergang der Kapitalrentabilität" führte zum Rückgang der Kapitalakkumulation. Und da die Kapitalisten die Profitrate nur dadurch am noch schnelleren Sinken hindern konnten, dass sie einen ungeheuren Druck auf die Löhne ausübten, stagnierte auch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Die Staaten wiederum taten seit der "Ölkrise" 1973 alles, "um die Art von Krisen abzuwehren, die in der Geschichte den Kapitalismus heimgesucht hatten, indem sie immer größere öffentliche wie private Schulden aufnahmen/ermöglichten, um die Nachfrage zu stützen."

Anstatt nochmal auf Brenners theoretische Schwächen einzugehen (Krisenursache ist die sinkende Kapitalrentabilität, aber was ist deren Ursache?), will ich auf seine starken Punkte hinweisen: die Beschreibung der US-amerikanischen Blasenökonomie seit Mitte der 90er Jahre; den engen Zusammenhang zwischen Finanzkrise und Krise der "Realwirtschaft"; die Zerbrechlichkeit der Konjunkturzyklen; China ist kein neues Modell, sondern die Kopie des alten.


Seit 1998 sind die Würfel gefallen

Seit Mitte der 90er Jahre sieht Brenner eine neue Phase im long downturn und behandelt diese in zehn von dreizehn Kapiteln. Die in immer kürzeren Zeiträumen und mit immer gewaltigeren Auswirkungen platzenden Blasen seien nicht durch "Gier an der Wall Street" zu erklären und deshalb auch nicht durch "Regulierung" zu bändigen. Sie waren jedesmal der letzte Ausweg von Regierungen und Notenbanken, um das wirtschaftliche Wachstum überhaupt noch irgendwie voranzubringen. Seit 1997/98 sei es gerade die Schwäche des Kapitalismus, die sein Überleben sichere: historisch niedrige Akkumulation, damit historisch niedrige Langfristzinsen, damit Druck auf die Banken, ihr Geld anders zu verdienen ("strukturierte Anlagen"), aus all dem resultierende Kreditausweitung. Die Finanzbranche hat einen ungeheuren Druck, ständig neue Anlagemöglichkeiten für das viele "nach Anlagen suchende Kapital" zu finden - und dabei auch noch dafür zu sorgen, dass die ins Riesenhafte gewucherte Finanzbranche selbst noch Profit abwirft. Die massive Ausweitung des Kredits ist sowohl die Erklärung für den Konjunkturaufschwung als auch die Erklärung für die Krise.

Anfang der 90er Jahre "erlebten Westeuropa und Japan die bis dahin schwerste Rezession der Nachkriegszeit [...] das globale Bruttosozialprodukt wuchs so schwach wie nie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts." In Reaktion darauf beschlossen die G5-Staaten im April 1995, den Dollarkurs nach oben zu treiben. Der starke Dollar würgte die Industrieproduktion in den USA ab, aber nun floss Geld ins Land und befeuerte die Finanzmärkte, die Aktienkurse stiegen, die Zinsen konnten sinken. Das führte tatsächlich zu einem Aufschwung, der allerdings bereits im Sommer 1998 erlahmte. Im Jahr zuvor war es zur "Asienkrise" gekommen, infolge der Rubelkrise kollabierte im August 1998 der LTCM-Hedgefonds. Eine Kettenreaktion hätte zum Zusammenbruch des internationalen Finanzsystems geführt. Um das zu verhindern, gaben in der ersten Rettungsaktion dieses Ausmaßes alle großen Banken gemeinsam 3,75 Mrd. Dollar. Aber schon ein Jahr später, im Herbst 1999, brachen die Aktien aufgrund von Inflationsängsten und damit zusammenhängenden leichten Zinserhöhungen der Fed wieder ein.

Nun nutzte Greenspan das Y2K-"Problem" als Ausrede, um innerhalb von Wochen die Zinsen von 5,5 unter 4 Prozent zu senken und veranlasste Fannie Mae und Freddie Mac, die Vergabe von Hypotheken auszuweiten (der Beginn des Häuserbooms!). Aber schon 2000-2001 geriet die US-Ökonomie in die nächste Rezession, die "Dot-Com"-Blase platzte. Wiederum reagierte Greenspan mit aggressiven Zinssenkungen; die damit geschaffene Liquidität befeuerte den Häuserboom.

Die Spekulationsblase auf dem Immobilienmarkt hatte sehr viel mehr "Nachfragewirkung" als die Aktienblase davor, sie zog nicht nur Handwerker, Baumärkte, Architekten und Immobilienmakler mit. Sie ermöglichte zudem eine gewaltige Verschuldung der US-amerikanischen Privathaushalte, die auf ihre (scheinbar ständig im Preis steigenden) Immobilien Hypotheken aufnahmen und damit ihren Konsum finanzierten. Der wachsende Konsum und die Investitionen im Immobilienbereich machten zusammen 98 Prozent (!) des BIP-Wachstums in diesem Konjunkturzyklus aus. Dadurch hatte der US-amerikanische Häuserboom auch eine globale Reichweite ("Chimerica": die billigen Bankkredite waren nur möglich durch die Geldzuflüsse aus China; die US-Konsumenten kauften mit dem geliehenen Geld v.a. chinesische Waren). Nach dem Platzen dieser Blase ist nur schwer vorstellbar, was an ihre Stelle treten könnte.


Bankenkrise im Zentrum

Die Finanzkrise verschärfte somit die Krise der realen Wirtschaft. Man darf sie aber auf keinen Fall als "exogen" missverstehen, denn am gewaltigen Anwachsen der globalen Kreditmärkte hing das gesamte Wirtschaftwachstum. Deshalb war es unvermeidlich, dass die platzende Immobilienblase sowohl die wirtschaftliche Entwicklung (weiter) abwürgen als auch die Finanzbranche erschüttern würde - denn deren Expansion war gegründet auf den US-Immobilienboom. Die Tiefe der aktuellen Krise war bereits im Aufschwung angelegt. Als die Immobilienblase von zwei Seiten unter Druck kam (die Zinsen stiegen, die Hauspreise fielen), stellte sich heraus, dass die "strukturierten Papiere" das Risiko keineswegs gestreut, sondern im Gegenteil im Bankensektor selber konzentriert hatten.

Denn die gigantischen Gewinne der Banken waren nur möglich gewesen durch hohe Anteile von Fremdkapital - sprich Verschuldung - und Eigenhandel - sprich die Banken hatten selber (und nicht nur im Auftrag von Kunden) spekuliert. Deshalb war bereits Anfang 2008 klar, dass die größten Banken der meisten Länder de facto bankrott waren. "Und da ihr Problem Insolvenz und nicht Liquidität war, konnte sie kein noch so großer Kredit retten." Dass praktisch unbegrenzt Liquidität zur Verfügung gestellt wurde, löste nicht das zugrundeliegende Problem, sondern führte zu einer neuen Spekulationswelle durch die Banken (sie verliehen das Geld nicht an die "Realwirtschaft", sondern legten es gewinnbringend in Geldgeschäften an).

Die Bankenkrise ist abgrundtief, aber trotzdem nur Teil des Problems. Die niedrige Akkumulationsrate führte dazu, dass es wenig Nachfrage, aber ein gewaltiges Angebot an Kredit gibt. Warum sollten nun ausgerechnet in der Krise die Unternehmen ihre Kreditaufnahme ausweiten, die "sich im gesamten Konjunkturverlauf mit Investitionen und Einstellungen zurückgehalten und wenig Kredit aufgenommen hatten - und wenn, dann hauptsächlich um Aktien zu kaufen." Ein schlagendes Beispiel aus der BRD: Im Rahmen des Konjunkturprogramms hatte die Bundesregierung via Kreditanstalt für Wiederaufbau Not leidenden Firmen 40 Mrd. Euro in Form von Krediten zur Verfügung stellen wollen; Ende April 2010 waren davon insgesamt 6,7 Mrd. Euro abgerufen worden - der Rest war noch da!

Der einzige Motor des Konjunkturaufschwungs in den USA war der kreditfinanzierte Privatkonsum gewesen; von 2004 bis 2006 hatten Privathaushalte Schulden in Höhe von neun Prozent des BIP aufgenommen, das lag weit über allen historischen Rekordständen! Aber bereits 2007 waren sie um ein Drittel zurückgegangen und 2008 auf null gefallen. Die Sparquote hatte 2006 mit -0,6 Prozent beinahe einen historischen Tiefpunkt erreicht, war aber 2007 bereits auf +2,8 Prozent gestiegen und 2008 auf +7,1 Prozent hochgeschossen. Dementsprechend stark ging der Konsum zurück.


Die Zerbrechlichkeit der Konjunkturzyklen

Brenner macht deutlich, wie kurz die Zyklen inzwischen geworden sind! Bereits 1998 war der IT-Boom zu Ende - und wurde durch massive Zinssenkungen durch die Fed verlängert. Trotzdem platzte die Blase bis zum Sommer 2001 - und wurde durch Greenspans "great bubble transfer" in die Immobilienblase überführt; die aber schon 2003 zu Ende ging - und durch die subprime-Blase ebenfalls verlängert wurde.

Was ich hier nur schematisch zusammenfasse, entwickelt Brenner mit vielen Zahlen und Grafiken sehr ausführlich. Das hilft uns bei der Analyse des aktuellen Zustands des Kapitalismus viel mehr als marxologische Litaneien etwa von Winfried Wolf; die Krise sei "Anfang und Ende jedes Zyklus", der wiederum von "erstaunlich fester Länge" sei [vgl. die Buchbesprechung in Wildcat 86] - realitätsfremde Scholastik, weit entfernt von der eigentlichen Dynamik der Krisenprozesse. Und mal ganz davon abgesehen, dass das Gerede vom "Zyklus" bereits kapitalistische Propaganda ist, wäre zu überlegen, ob sich die krisenhaften Zuckungen des globalen Kapitals seit Mitte der 90er Jahre nicht viel besser als "Ende des Zyklus" fassen ließen.


"Globales Nullsummenspiel"

Im long downturn ist kein neues Modell, keine neue Akkumulationsweise in Sicht. Die internationalen Abhängigkeiten und die nicht weiter wachsenden Märkte sorgen dafür, dass jede Erholung auf der einen Seite des globalen Nullsummenspiels zum Problem auf der anderen Seite wird. Da die USA im Besitz der Weltwährung sind, geriet das Drucken von US-Dollar mehr und mehr zum einzigen Antrieb der Weltwirtschaft. Normalerweise hätte der Dollar dabei stetig abwerten müssen, aber das verhinderten die asiatischen Länder, indem sie gewaltige Mengen dollarbasierter Wertpapiere aufkauften und somit die wachsende Verschuldung der USA zu künstlich niedrigen Zinsen finanzierten.

Das chinesische Modell kopiert das japanische Modell, ist somit eine Kopie hoch zwei: China produziert die gleichen Waren, nur billiger, und drängt damit auf bereits gesättigte Märkte. Der Erfolg des einen ist der Misserfolg des anderen. Diesen Punkt hatte Brenner in einem Interview Anfang 2009 sehr deutlich herausgearbeitet(*) und mit dem Aufruf an "alle fortschrittlichen Menschen und linken Aktivisten" geschlossen: "Unsere erste Priorität muss darin bestehen, die Organisationen der arbeitenden Menschen wieder zu beleben. Ohne die Erneuerung der Macht der Arbeiterklasse werden wir kaum Fortschritte machen, der einzige Weg, diese Macht aufzubauen ist die Mobilisierung zu direkter Aktion." Die Krise biete dafür neue Möglichkeiten.

Brenner bringt auf nur 73 Seiten eine sehr dicht gepackte Analyse mit vielen eigenen Berechnungen und Grafiken. Unbedingte Leseempfehlung. Allerdings werdet Ihr in seiner Analyse vergeblich nach den Klassenkämpfen suchen!


Literatur

www.sscnet.ucla.edu/issr/cstch/papers/BrennerCrisisTodayOctober2009.pdf

ausführlich in: Wildcat-Zirkular Nr. 56/57 Mai 2000. www.wildcat-www.de/zirkular/56/z56kris1.htm

*) http://links.org.au/node/957

Raute

Zurückweisung des Wertgesetzes oder Koexistenz vieler Wertmaße - Zwei Varianten einer Revision

Anmerkungen zu C. George Caffentzis: "Der Marxismus nach dem Untergang des Goldes"

Die Klassenkämpfe der 1970er Jahre und die "Gegenmaßnahmen" des Kapitals sind bis heute maßgeblich für die kapitalistische Entwicklung. Wir haben in letzter Zeit verstärkt Fragmente der damaligen Debatte ausgegraben, um dem roten Faden des Klassenkampfs von den Ereignissen der 70er Jahre bis zu den aktuellen Turbulenzen auf die Spur zu kommen. Die Konstante dabei ist die historische Grenze der Kapitalverwertung, das Verhältnis zwischen notwendiger Arbeit und Mehrwert in seinen verschiedenen Ausdrucksformen: Reproduktionsansprüche der produzierenden Klassen, organische Zusammensetzung des Kapitals, Überakkumulation, fallende Profitraten.(*)

Sehr früh gaben Teile der linken Theoretiker den Bezug auf das Marx'sche Wertgesetz auf; um die Neuartigkeit des kapitalistischen Gegenangriffs verstehen zu können. Im vorliegenden Beitrag macht George Caffentzis nun den Versuch, die Marx'sche Geldware zu entsorgen, um den Marxismus als "widerspruchsfrei" zu retten.

Bei der Frage nach der Notwendigkeit einer Geldware geht es darum, ob der Kapitalismus den Kredit grenzenlos ausdehnen kann. Kann Geld und Kredit beliebig erzeugt werden, oder bleiben beide letztlich an die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft gekoppelt? Der Goldstandard war z.B. eine solche Kopplung, das Gold die dahinterstehende "Geldware", deren Wert selbst durch die in ihr enthaltene Arbeitskraft bestimmt ist. Dass Nixon diese Kopplung der Leitwährung Dollar ans Gold 1971 aufkündigte, verstehen wir als Zeichen der Krise; die gewaltige Ausweitung des Kredits seither gleichzeitig als deren Symptom und Moderator. Caffentzis dreht diese Sichtweise um und sieht in der Tatsache, dass der Kapitalismus fast vier Jahrzehnte nach dieser Abkopplung noch immer besteht, den Beweis dafür, dass der Kapitalismus auch ohne Geldware existieren könne.

Er schlägt im Kapital "Geldware" nach: "Geld als Wertmaß ist notwendige Erscheinungsform des immanenten Wertmaßes der Waren, der Arbeit", (MEW 23, S.109) Arbeitszeit-Wertmaß und Geld-Wertmaß seien nicht gleichbedeutend. Denn die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist als vorgestellter Durchschnitt ein ideelles Maß und kann nicht als Messverfahren dienen, da sie selbst erst durch den Tausch im realisierten Preis eine (annähernde) Form erhält. In der Bewegung vom vorgestellten zum realisierten Preis wirkt also das Geld als Wertmaß, das unter anderem den Grad der Produktivität der angewandten Arbeitskraft widerspiegelt. Wenn die Arbeitszeit das immanente Wertmaß (Wesen) ist und Geld das erscheinende, fragt nun Caffentzis, können wir dann nicht eins von beiden vernachlässigen?


Fixe Ideen und Messverfahren

Bei Hegel findet er als Antwort auf seine Frage nur Tautologie und bei Marx nur Lyrik. Er verwendet die Messung von Gastemperaturen als Analogie. Bei den Physikern der Thermodynamik stellt er eine Loslösung vom Wesen fest, von der "Realitätsebene, die sich der unmittelbaren Beobachtung entzieht". Die Entwicklung der Naturwissenschaften habe die "metrologische Prämisse" Marxens widerlegt, das Maß müsste etwas mit dem Gemessenen gemeinsam haben. Die "meisten philosophischen Strömungen und Schulen des 20. Jahrhunderts" hätten außerdem Hegels dialektische Verbindung von Wesen und Erscheinung abgelehnt und damit auch Marxens "philosophische Prämisse" entsorgt. Auf dem heutigen Stand der Naturwissenschaften wäre eine Kapitalismuskonzeption "mit vielen verschiedenen Wertmaßen" möglich, die selbst keinen Warencharakter haben müssen.

Wenn wir also Marxens 'fixe Idee' (vom Gold als Geldware) zurückwiesen, schlügen wir zwei Fliegen mit einer Klappe: Zum einen könnten wir den Marxismus "als empirisch widerspruchsfreie Theorie des Kapitalismus und des Klassenkampfes" retten. Zum anderen könnten wir die "komplexen und anders gearteten Wertkonzeptionen und Wertmaße", die wir in den unbezahlten, moralischen, informellen, indigenen Ökonomien, im Falschgeld wie auch in Formen des Kreditgebrauchs finden, in unsere Theorie aufnehmen. Mit einer "leichten (klassenkämpferischen) Dehnung der marxistischen Kategorien" ließe sich akzeptieren, dass neben dem Arbeitszeit-Wertmaß eine Vielzahl weitere koexistieren, wie Formen von Kredit- und Papiergeld, bloß eben das Gold nicht mehr.

So wichtig es ist, in den zeitgenössischen Vorstellungen die gemeinsamen und sich gegenseitig beeinflussenden Strömungen wahrzunehmen, wird bei Caffentzis eine Tendenz deutlich, sich auf der Ebene der Abstraktionen zu verlieren. Geben uns Phänomene aus der natürlichen Welt, Gastemperaturen beispielsweise, Auskunft über die Prozesse der sozialen Realität? Caffentzis fragte 1994 ganz ähnlich: "Bieten Relativitätstheorie, Quantenmechanik und Chaostheorie nicht bessere und interessantere Einsichten, um die zeitgenössische Post-Realität besser zu verstehen als der arbeits- und elendsgeprägte Marxismus?" und entgegnete selbst: "Unsere Realität wurzelt immer noch in der Vergangenheit. Wir können nicht über die Kategorien Arbeit, Wert, Geld, Mehrwert, Ausbeutung, Kapital, Krise und Revolution hinausgehen, weil der Kapitalismus immer noch existiert." (Maschinen können keinen Wert schaffen)


Marx: Die Wissenschaft des Proletariats ist die revolutionäre Praxis

Caffentzis stellt "Fortschritte" von Naturwissenschaften und philosophischen Strömungen der Marxschen Kritik gegenüber, als hätten wir es hier mit erkenntnistheoretisch neutralen Methoden der Analyse zu tun. Dabei geht der grundsätzliche Unterschied zwischen bürgerlicher Wissenschaft und deren Kritik verloren:. Marx entwickelte seine Kritik der bürgerlichen Ökonomie als Kritik an deren vorausgesetzten Grundbegriffen, indem er ihnen die realen Bewegungsgesetze gegenüberstellte. Nach Offenlegung der inneren Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft besteht die einzig mögliche Synthese ihrer Grundlagen in deren Aufhebung. Daher kann die Marxsche Kritik nur als Revolution praktisch wirksam werden. Bis dahin besteht die Geschichte der ökonomischen Wissenschaften darin, vorübergehende ideologische Synthesen zu finden, die für eine Weile der Vermittlung der Widersprüche dienlich sind.

Laut Marx kann Kredit- und Papiergeld dauerhaft nur aufgrund seiner Denomination durch die Geldware als Wertmaß fungieren. Die Konvertabilität in diese Geldware, "legal oder nicht - [...] bleibt Anforderung an jedes Geld, dessen Titel es zu einem Wertzeichen macht, d.h. es als Quantität einer dritten Ware gleichsetzt". (MEW Bd.42, S. 70) Es muss also umtauschbar sein, und zwar nicht in irgendwas, sondern in eine international akzeptierte Ware, deren Wert dem Geldtitel entspricht.

Das Wertgesetz bezeichnet den Punkt, der Ausbeutung und Herrschaft an die spezifische Beziehung zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten bindet. Ohne diesen Begriff gerät die Art und Weise aus dem Blick, in der das Kapital zugleich die fremde Macht und das gesellschaftliche Verhältnis ist, das von den ArbeiterInnen reproduziert wird. Die Geldware bezeichnet den Punkt, der das Geld untrennbar an das Wertgesetz bindet. Das Geld, in dem alle Macht zu gerinnen scheint, während es einer sachlichen Naturgewalt gleich die gesellschaftlichen Angelegenheiten regelt, kann in letzter Instanz nichts anderes als selbst ein Teil des produzierten Warenreichtums sein. Marx analysierte daher beispielweise, welche Auswirkungen die Veränderungen in den Produktions- und Zirkulationsbedingungen der Geldwaren Gold und Silber auf das Geldsystem haben.

Diese grundsätzlichen Bedingungen konditionieren die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft, auch wenn sie zeitlich und räumlich modifiziert werden können. Heute reichen den nationalen Geldsystemen in der Regel die gesetzlichen Garantien, um das Geld als Wertrepräsentant fungieren zu lassen. Bei Zahlungsausfällen sorgen in letzter Instanz Recht und Staat für die versprochene Wertzirkulation, ohne dass das Auftreten einer Geldware erforderlich wäre.

Caffentzis will die Marxsche Herleitung der Geldware nicht mitmachen und sieht in Nixons Aufkündigung den Schlussakt der "Saga von der Beseitigung der Referenzialität aus der Welt des Geldes". Gleichzeitig will er sich aber von den "postmodernen Theoretikern" absetzen, die das Wertgesetz in Frage stellen und das Kapitalverhältnis jenseits der Mehrwertproduktion ansiedeln, namentlich Christian Marazzi, Antonio Negri und Michael Hardt. Caffentzis hält also formal an Wert und Wertmaß fest, fasst diese aber lediglich als Gegenstand von Klassenkämpfen statt als soziales Verhältnis. Oder anders gesagt: einem Begriff von Klassenkampf innerhalb des Kapitals stellt er einen Kampf um Werte gegenüber: eine 'gute' "proletarische Wertrationaliät" außerhalb der 'bösen' kapitalistischen. Wert und Wertmaß als moralische Kategorien zu begreifen, führt dann zu Vorstellungen von proletarischem Warentausch und alternativer Wirtschaft. Caffentzis trifft hier möglicherweise "jenseits von Marx" neben ein paar alten auch einige neue Bekannte, denn Gedanken um andere Wertmaße machen sich mittlerweile auch Stiglitz und die Weltbank.

Obwohl Caffentzis an den postmodernen Revisionisten zu Recht kritisiert, dass sie Ausbeutung nicht mehr materialistisch begreifen können, trägt er mit seinen "vielfältigen Wertbegriffen" selbst dazu bei, den Begriff zu verdunkeln und letztlich im Diskurs verschwinden zu lassen.


Caffentzis: Die Geschichte der 70er Jahre ist eine des Klassenkampfs

Bei der Geldware muss es sich nicht unbedingt um Gold handeln, es gab in der Vergangenheit auch andere Geldwaren. Aber nach der Abkopplung vom Gold wurde keine neue Geldware mehr gefunden, die den veränderten Klassenverhältnissen angemessen gewesen wäre - und die auf staatlicher Ebene durchgesetzt werden konnte. Denn das Geldsystem ist von zwei Seiten bestimmt: Zum einen ist es immer Instrument, um eine bestimmte Klassenzusammensetzung auszubeuten. Zum anderen ist der globale Kapitalismus um historisch wechselnde Hegemonialstaaten organisiert, von denen die Währungsordnung ausgeht. So hat die Goldbindung unter britischer Hegemonie die Ausbreitung des Empire und damit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse bedeutet. Die Begrenzung und Regulierung von Geld, Preisen und Löhnen durch die Bindung ans Gold sollte zu Stabilität führen. Diese Hoffnung fand in der internationalen Klassenbewegung nach 1917 ihr Ende.(**)

Mit dem Bretton Woods-Abkommen 1944 wurde der Dollar zur internationalen Reservewährung, die ans Gold gekoppelt blieb - allerdings nur insofern, als die US-Regierung garantierte, bei Verlangen jeden Dollarschein in Gold zu tauschen (für 35 Dollar eine Unze Feingold).

Bereits der Wiederaufschwung des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem US-amerikanischer Hegemonie wurde so mit einer Ausweitung des Kredits befeuert. Die Klassenkämpfe in den 1960/70er Jahren trieben diesen Mechanismus aber in eine Inflationsspirale. Eine immer größere Verschuldung (auf seiten der USA zusätzlich verstärkt durch die Kosten des Vietnamkriegs) machte letztlich die Abkopplung vom Gold notwendig. Eigentlich eine klassische Staatspleite: Mit der einseitigen Aufkündigung der Goldkonvertibilität 1971 weigerten sich die USA, ihre Verbindlichkeiten zu begleichen. Caffentzis sieht hierin ganz richtig den Versuch des Kapitals, sich "eine neue Flexibilität bei der Reaktion auf den Klassenkampf" zu verschaffen und die "Anerkennung der Macht der Arbeiterklasse" (die Regierung Nixon traute sich nicht, die Klasse frontal mit Rezession und Deflation anzugreifen).

Inzwischen ist die Abkopplung des Dollars vom Gold unumkehrbar geworden, der Schuldenberg der USA lässt sich nicht in Gold aufwiegen: dessen Preis würde wahrscheinlich innerhalb von Stunden in Gefilde von 100.000 Dollar für die Feinunze schießen. Die Hegemonie der USA geht auf ihr Ende zu, der Dollar ist kaputt, aber es ist keine Nachfolge in Sicht ("Eurokrise"!).


Wie soll das gehen: Am Wertgesetz festhalten und gleichzeitig das Geld aus dem Zusammenhang der Warenproduktion herauslösen?

Der mit der Aufkündigung der Goldkonvertibilität und des Systems festgelegter Wechselkurse eingeleitete monetäre Gegenangriff sollte die Arbeiterkämpfe ins Leere laufen lassen, führte zunächst jedoch sogar zur Ausweitung der Bewegung und der Kampfformen. Während in den Fabriken die Restrukturierung einsetzte, erodierte die neue Subjektivität der jüngeren Generationen aber allmählich den Zusammenhang zwischen den Kämpfen in den verschiedenen Sektoren von Produktion und Reproduktion. Wir stehen vor dem Problem einer Vielheit von Kämpfen, aus denen sich aber bisher kein kollektives Subjekt herausbildet. Diesem Problem kann man nicht wie die von Caffentzis kritisierten "Postmodernisten" ausweichen, indem man das Problem selbst einfach zum Fortschritt erklärt. Aber auch Caffentzis' Versuch eines "dritten Weges" zwischen postmodernem Marx-Revisionismus und "old school" ist letztlich ein Trick, um subjektivistische Vorstellungen von "Klassenkampf" zu legitimieren. Letztlich sagt sich Caffentzis, wenn das Kapital mit Kreditausweitung dem Klassenkampf flexibel ausweicht, warum soll ich dann nicht genauso flexibel in jeder noch so marginalen Bewegung denselben ausmachen?

Mit der Vertiefung der aktuellen Weltwirtschaftskrise sehen wir immer deutlicher die direkte Verbindung zwischen der "neuen Flexibilität", mit der das Kapital in den 1970ern reagierte und der aktuellen Krise. Das Ende der Goldgarantie als Triumph des Kapitalismus über die Geldware und damit über die Arbeitskraft zu begreifen, wirkt da regelrecht verstaubt. Kreditexzesse und "ungehemmte" monetäre Manipulation sind in eine Kette von Zusammenbrüchen gemündet. Asien- und Russlandkrise, Platzen der IT-Blase, Immobilien-, Finanz- und Bankenkrise, sowie die aktuell drohenden Staatspleiten zeigen, dass die Abkopplung von der Geldware lediglich Ausdruck der Krise war und ist. Die gegenwärtige Krise rückt wieder die zugrunde liegenden Fragen in den Vordergrund.

Die analytischen und empirischen Argumente, die Caffentzis im Verlauf des Textes aufwirft, reichen nicht hin, um seine Ablehnung der Geldware zu stützen - wohingegen seine "leichte (klassenkämpferische) Dehnung der marxistischen Kategorien" wie Klasse, Wert und Klassenkampf diese auslöschen. Damit ist er im vorliegenden Sammelband allerdings in zahlreicher Gesellschaft.

Wird fortgesetzt.


Literatur

C. George Caffentzis: "Der Marxismus nach dem Untergang des Goldes"; in: Über Marx hinaus, hrsg. von Marcel van der Linden und Karl Heinz Roth, Assoziation A, Sept. 2009; Originaltitel "Marxism After the Death of Gold"

*) siehe v.a. Sergio Bolognas Text "Karl Marx als Korrespondent der New York Daily Tribune" - Beilage Wildcat 85; und die Aufsätze von Karl Heinz Roth und Steve Wright zu "Primo Maggio" - Beilage Wildcat 83

George Caffentzis: "Maschinen können keinen Wert schaffen." Vortrag 1994 in Zürich, abgedruckt in Wildcat-Zirkular 7.

John Holloway - Der Abgrund tut sich auf: Aufstieg und Niedergang des Keynesianismus; in: Wildcat-Zirkular 28/29, 1995. Online unter www.wildcat-www.de

Randnotizen

In den Wildcat-Zirkularen 28/29 und 30/31, die online verfügbar sind, finden sich viele Hinweise und Beiträge zu dieser Diskussion

**) "Als die Roosevelt-Regierung 1933 in den USA den Goldstandard aufgab, hatte Bernard Baruch, ein führender Demokrat, protestiert: 'Das läßt sich nur noch als Herrschaft des Pöbels rechtfertigen. Vielleicht hat das Land es noch nicht begriffen, aber ich glaube, wir werden feststellen, daß wir uns in einer Revolution befunden haben, die drastischer war als die französische Revolution. Die Masse hat den Sitz der Regierung an sich gerissen und versucht nun, den Reichtum an sich zu reißen. Der Respekt vor Recht und Ordnung ist dahin.'
In gewissem Sinne hatte Baruch recht. Roosevelts Entscheidung, den Goldstandard aufzugeben, sollte die Lenkung der nationalen Wirtschaft von den Zwängen des Weltmarktes befreien, um dem starken sozialen Druck begegnen zu können. Aber dies war keine Preisgabe der Herrschaft des Geldes. Ganz im Gegenfeil ließ sich die Herrschaft des Geldes nur durch finanziellen Nationalismus, durch die Abkopplung der nationalen Währungen vom inter-nationalen Fluß der Werte vor dem "Pöbel" retten."

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
Bearbeitung von goldführendem Gestein im alten Ägypten

Raute

Antistaatliche Bewegungen und theoretische Puzzlestücke

Buchbesprechung
Raúl Zibechi: Bolivien - Die Zersplitterung der Macht

Raúl Zibechi diskutiert in seinem Buch die letzten dreißig Jahre der Geschichte Boliviens. Die Leserin ohne Vorkenntnisse wird sich mehr als einmal eine Zusammenfassung der Ereignisse oder auch nur eine Chronologie zur Orientierung wünschen. Aber Zibechi wollte nicht über Bolivien schreiben, sondern die "innere Geschichte" der Kämpfe und Bewegungen diskutieren, um einen analytischtheoretischen Beitrag zur Diskussion mit all denen zu liefern, die "eine neue Welt schaffen wollen" (S.13). Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht El Alto, die in den letzten Jahrzehnten auf etwa eine Million BewohnerInnen angewachsene "Vorstadt" von La Paz und eines der Zentren der aufständischen Bewegung zwischen 2000 und 2005. Zibechis Bezugspunkte sind die "sozialen Bewegungen" in Lateinamerika, die Piqueteros und die Fabrikbesetzungen in Argentinien, die Zapatisten in Chiapas, die Landkämpfe in Brasilien.

Zibechi geht in der bolivianischen Geschichte bis zur Krise der "zentralisierten Entwicklung von oben" nach der Revolution von 1952 zurück. Er analysiert, wie der zeitweise diktatorisch durchgesetzte Neoliberalismus seit den 1980er Jahren die "alte" Gewerkschaftsbewegung zerschlagen hat. Und er sieht aus dieser Krise der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung ein neues Selbstbewusstsein der indigenen Mehrheit aufsteigen. Nachdem sich dieses zunächst in zentralisierten, klientelistischen, caudillistischen, letztlich "staatlichen" Formen manifestierte, bringt die dritte Migrationswelle nach El Alto (90 Prozent der heutigen BewohnerInnen sind nach 1975 dort angekommen) die Wende: Eine neue Generation setzt ihre Erfahrungen zur Wiederbelebung "kommunitärer Praktiken", zur Neuerfindung der ländlichen Gemeinschaften (ayllus) in diesem städtischen Umfeld ein. Sie besteht aus "jungen Berufstätigen", bereits in El Alto aufgewachsenen jungen ArbeiterInnen, Schüler- und StudentInnen, politisiert u.a. in den Kämpfen um eine "eigene" Universität, die sich mit BäuerInnen, Minen- und FabrikarbeiterInnen zusammentun. (S.147)

Zibechi sieht darin "eine 'Plebejeremigration', die Organisations- und Kampferfahrung mitbrachte und weite Gebiete der Stadt neu gestaltet und proletarisiert hat" (S. 37). Erst dadurch hat sie sich als anti-staatliche Bewegung konstituiert, und steht als solche seit der Wahl der Regierung Morales 2005 vor neuen Herausforderungen - im Epilog vom Mai 2008 zieht Zibechi Bilanz nach drei Jahren Morales-Regierung.

Zibechi versteht sein Buch auch als "revolutionstheoretischen" Beitrag und seziert die Bewegungen mit allen ihm zur Verfügung stehenden (orthodox)marxistischen, soziologischen, postmodernen und aymara-soziologischen Mitteln. Er stellt keinen expliziten Zusammenhang zur aktuellen Debatte um "die Commons" her, es ist aber kein Zufall, dass Negri/Hardt sein Buch in Commonwealth als Bezugspunkt nehmen. Fragestellung und Antwort sind die gleichen: Was bringt die Menschen zusammen, woher kommt die Kraft gemeinsam zu kämpfen? Und wie können die Bewegungen eine anti-staatliche Perspektive festhalten? Zibechi will diese Fragen "materialistisch" beantworten, was für ihn bedeutet, die Gemeinschaften als "gemachte" zu fassen (S.29), die in "selbst kontrollierten" Produktionsformen" (S.60) wurzeln. Seine zentrale Behauptung - und Schwachstelle - besteht darin, diese gemeinschaftlichen Produktionsformen seien eine "nicht-kapitalistische Produktionsweise", wie er auf Seite 60 zustimmend eine Studie des bolivianischen Vizepräsidenten Alvaro Garcia Linera zitiert.

Obwohl die Agrargemeinschaften, die Ayllus, sein wichtigster Bezugspunkt sind, werden sie an keiner Stelle wirklich erklärt. Er erwähnt nur immer wieder die Ämterrotation bzw die kollektive Entscheidungsfindung. Allein in den Zitaten von Patzi (z.B. S.47) finden sich Hinweise auf ihren materiellen Ursprung in einer Agrargesellschaft. Ansonsten müssen wir schon tief im Fußnotenapparat wühlen: Silvia Rivera Cusicanqui beschreibt das Ayllu als ein System, das Tributabgaben und den Zugang zum Land im Zusammenhang mit geleisteter Landarbeit regelt. Sie kritisiert westliche Sozialwissenschaftler, die (Staats-)Linke und Marxisten, die darin nur eine inegalitäre, hierarchische "Vormoderne" sehen. Dagegen setzt sie ihr Argument, das Ayllu verwalte mit einer "reichen Basisdemokratie" knappe Ressourcen, bzw den Zugang zu knappem Land. Weder Rivera Cusicanqui noch Zibechi stellen die Frage, wie sich diese "sozialen Strukturen" vor dem Hintergrund kapitalistischer Akkumulation (samt potentiellem "Reichtum") verändern.

Der von Zibechi viel zitierte Soziologe Patzi Paco sieht im Ayllu über die Agrarproduktion hinaus das Modell einer rätekommunistischen, selbstverwalteten Gesellschaft. Er sieht aber auch kritisch die Inhomogenität der indigenen Gemeinschaften und die Entwicklung einer indigenen Bourgeoisie, was sich nur durch das "Sistema comunal" aufheben ließe. Das ist zwar sympathisch, aber ganz ohne Bezug auf reale Menschen oder gar konkrete Kämpfe entwickelt (Zibechi S.146; Patzi, Sistema comunal, S.159ff).

So ein Modell ist Zibechi nicht geheuer (S.50), er stellt stattdessen den Informellen Sektor ins Zentrum. (S.58-61) Dabei ignoriert er allerdings fast schon die Tatsache, dass auch die bolivianischen Gemeinschaften Teil des Kapitalismus sind, weil er sich entlang einer klaren ideologischen Linie orientieren will: Der informelle Sektor produziert die "Zerstreuung von Staat und Kapital" - Arbeitsteilung und Taylorismus produzieren Zentralismus, Führer und letztlich den Staat. Diese Zweiteilung lässt ihn weitere Aspekte der Geschichte ausblenden, nämlich dass subproletarische Bewegungen oft zu autoritären Strukturen tendieren, während selbstbestimmte Kämpfe und Massenautonomie auch dort entstanden sind, wo es sie ihm zufolge gar nicht geben "dürfte", in der tayloristischen Fabrik.

Zibechis Neuerfindung der Gemeinschaften aus der Produktion im informellen Sektor wirkt unglaubwürdig, wenn er eine nicht arbeitsteilige "Familienproduktion" mit "affektiven Beziehungen zwischen Verwandten und Freunden" den "Arbeiter-Chef-Beziehungen" (S.59) im Taylorismus gegenüberstelle und dabei sowohl die Einbindung in den Binnen- und Weltmarkt als auch die Herausbildung einer indigenen Unternehmerschaft ausblendet (siehe z.B. Industriestandort El Alto, ila 327). Dass er die vermeintliche Abwesenheit von Ausbeutungsbeziehungen für Frauen und Kinder in diesen ach so emanzipativen Familienstrukturen einschränken muss, verwundert nicht, ist bei ihm aber nur eine Randbemerkung.

Die Verklärung des Informellen Sektors erklärt sich nur teilweise dadurch, dass Zibechi die BewohnerInnen El Altos als Subjekte und nicht allein als Opfer thematisieren will. Der tiefer liegende Grund ist, dass Zibechi den Kommunismus unbedingt in den bereits vorhandenen Produktionsformen entdecken will. Das Neue entsteht bei ihm nicht durch einen radikalen Bruch und eine Aufhebung der Produktionsweise, sondern es existiert schon und muss lediglich vor dem Zugriff des Staates geschützt werden. Was Negri in die "immaterielle und affektive Arbeit" dichtet, sucht Zibechi im informellen Sektor und der Familienproduktion. Ein Bezugspunkt ist dabei Patzis Kritik am "Entwicklungsmarxismus" der lateinamerikanischen Linken à la Zweite und Dritte Internationale (siehe den Artikel zu Patzis Thesen im ak 549, S.16). Die Abgrenzung von einer Marxinterpretation, die auf "Agrargemeinschaft plus Maschinen"(*) bzw. kapitalistische Technologie hinausläuft, ist durchaus berechtigt - und politische Positionsbestimmung gegen Garcia Linera, der in der Entwicklung des "andinen Kapitalismus" die Voraussetzung zum Sozialismus sieht. Aber Zibechi übernimmt dessen Begriffe und wechselt die Vorzeichen, um die befreite Gesellschaft aus der bereits bestehenden Form der Produktion zu entwickeln. Und indem sie jede marxistische Kritik als fortschrittsgläubig diskreditieren, berauben sich sowohl Patzi wie Zibechi der Möglichkeit, die (Wieder-)Aneignung in Maschinen geronnener Arbeit zu thematisieren.

Zibechi sucht nach den anti-staatlichen Kämpfen, nach einer Perspektive von unten, aber er verwickelt sich dabei in Widersprüche. Er arbeitet sich am Staat ab und blendet darüber die Ausbeutung weg. Er geht zwar von Prozessen der Neuzusammensetzung aus, der Migration, der Konstitution einer neuen Generation..., aber die gibt es nur am Anfang, nur "konstitutiv". Er fragt dann nicht mehr danach, wie sich die Bewegung als Klassenbewegung verallgemeinern kann - und sieht dann im Epilog von 2008 sogar die sozialen Bewegungen durch den Staat regieren! Letztlich kommt er beim Diktum der Regierung an, dass "die soziale Bewegung den Staat nicht verwalten [kann], ... alle Kämpfe haben den Staat zum Ziel, selbst die Kämpfe gegen den Staat" (Linera). Um damit nicht enden zu müssen, kommt er noch kurz auf die "ökonomischen Verbesserungen für die Bevölkerung" zu sprechen - eine (nicht nur) in Bolivien kontrovers geführte Debatte, ob die deutlich gestiegenen Steuereinnahmen aus dem Rohstoffverkauf "angemessen unten ankommen" (siehe z.B. ila 315). Beim (ersten) Generalstreik gegen die Regierung Morales nach dem 5. Mai ging es um die Erhöhung des (in Lateinamerika mit am niedrigsten) Mindestlohns, bzw. allgemein um Lohnerhöhungen. Noch gelingt es der Regierung, die Stabilität zu erhalten, ohne wirkliche ökonomische Verbesserungen für die Mehrheit. Der Streik hatte nicht die erwartete Ausbreitung und wurde am 25.5.2010 mit einer Übereinkunft beendet.

Insgesamt ein schwer lesbares und fassbares Buch, nicht nur wegen der vielen Fußnoten, Zitate und der wissenschaftlichen Sprache. Die Menschen lernt man fast nur indirekt durch Zitate von Sozialwissenschaftlern kennen. Eine Ausnahme bildet das Kapitel Der kommunitäre Krieg, in dem "Aufstandspraktiken" wie pulga (Floh), wayronko (Erdkäfer), sikititi (bunte Ameise) usw. beschrieben werden.

Und politisch!? Die Klassenkämpfe in Bolivien sind durch die Erfahrungen von 500 Jahren Kolonialismus und Imperialismus bestimmt. "Schon immer" hat es Diskussionen, Positionen, Organisationen und Bewegungen zwischen Indianismus, Antikolonialismus, Sozialismus, Syndikalismus... gegeben. Zibechis Synthese aus Kontinuität der Aylludemokratie plus egalitärer Produktion im informellen Sektor treibt ihn in ein Hin- und Her zwischen fragmentierter Bewegung und institutionalisierendem Staat. Vielleicht sollte ein anderer seiner Bezugspunkte stärker in den Blick genommen werden: die Mobilisierung in Cochabamba gegen die Wasserprivatisierung im Jahr 2000: Oscar Oliviera von den Fabriles (Fabrikarbeiter-Vereinigung) und Mitglied der "Wasserkoordination" beschreibt in seinem Buch Cochabamba! den - eher unbekannten - Weg dahin: eine jahrelange Wühl- und Kleinarbeit in den Stadtvierteln und auf der Straße, Aktionen und Besetzungen gegen die Ausbeutungsbedingungen in Büros und Kleinfabriken, Plenen und Nachbarschaftsversammlungen. Mit ähnlichen Sachen hatte Zibechis Buch eigentlich auch angefangen - bevor er dann auf dem selbst ausgebreiteten Theoriepuzzle ausrutschte.


Raúl Zibechi Bolivien - Die Zersplitterung der Macht

Aus den Spanischen von Horst Rosenberger, Nautilus Verlag Hamburg Februar 2009 224 Seiten, 14,90 Euro ISBN 978-3-89401-591-6

Originaltitel: Dispersar el Poder. Los moviementos sociales como poderes antiestatales, Barcelona 2007


Randnotizen

Auf www.wildcat-www.de Ihr findet im Dossier "Bewegungen in Lateinamerika" einiges zu Bolivien - nicht mehr "ganz" aktuell, aber für die Diskussion der Thesen von Raúl Zibechi hilfreich.

Silvia Rivera Cusicanqu Liberal Democracy and Ayllu Democracy in Bolivia: The Case ot Northern Potosi Journal of Development Studies 26 (4)

Felix Patzi Paco Sistema comunal. Una propuesta Alternativa al Sistena liberal. La Paz, Bolivia 2004

*) Unter http://wildcat-www.de/aktuel/a062_Karl_Vera.html findet Ihr einen Kommentar zu diesem Thema. Die Briefentwürfe und die dann kurze Antwort von Marx an Vera Sassulitsch findet Ihr leicht im Netz. Das "Missverhältnis" zwischen den Entwürfen und der knappen Antwort zeigt, wie schwierig Marx das Thema fand. Seine historischen Bezüge, z.B. Morgan, sind heute teilweise überholt. Aber wie er die Frage anpackt, also Eigentums- und Produktionsformen zu untersuchen, dann das "historische Milieu", die Krise des Kapitalismus, scheint uns hochaktuell - wenn wir das "historische Milieu" nicht auf Technologie verkürzen. Der Text zum "Kommunismus" in der letzten Wildcat diskutiert das als Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Ausbeutungsformen - und damit auch Kämpfen. Kämpfe gegen Ausbeutung und die für Wiederaneignung toter Arbeit statt Technik-Fetisch oder Technologiefeindlichkeit.

Siehe das (englischsprachige) Bändchen: Oscar Olivera/Tom Lewis - Cochabamba!: Water Rebellion in Bolivia, Boston: South End Press 2004

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Weltmeister Uruguay

Buchbesprechung:
Uruguay. Ein Land in Bewegung.

Am 1. März 2010 hat José "Pepe" Mujica, ein ehemaliger Guerillero, Mitbegründer der MLN-Tupamaros und langjähriger politischer Gefangener, das Präsidentenamt in Uruguay übernommen. "Bei aller kritischen Distanz zur Politik des Mitte-Links-Bündnisses Frente Amplio, das seit dem 1. März 2005 die Regierung des Landes stellt, bleibt festzuhalten, dass der 29. November 2009, der Tag der Wahl "Pepe" Mujicas, ein historischer Moment ist, der wohl nur im Lebensweg Nelson Mandelas eine Parallele findet." Damit leiten die HerausgeberInnen das Buch Uruguay - Ein Land in Bewegung ein, das pünktlich zum Amtsantritt erschienen ist.

Eine der Geschichten, die im Buch erzählt wird, ist die von Arbeiterbewegung und Sozialstaat. Zur Zeit der Unabhängigkeit 1828 hatte Uruguay nur 70.000 EinwohnerInnen. In der Folgezeit kamen hunderttausende MigrantInnen. Später suchten AntifaschistInnen aus Europa hier Zuflucht. Bis in die 1960er Jahre wuchs die Bevölkerung auf drei Millionen. Ein Sprichwort sagt, dass "die Uruguayer von den Schiffen stammen". Im Hafen von Montevideo kamen im 18. Jahrhundert die Sklaven an und später die Arbeitskräfte aus Europa. Bei Beginn der Industrialisierung 1860 war bereits fast die Hälfte der EinwohnerInnen Montevideos nicht im Land geboren. Mit den ArbeiterInnen kamen auch Ideologien und Kampferfahrungen ins Land, vor allem der Anarchismus aus Frankreich, Spanien und Italien. 1865 gründeten die Buchdrucker die erste Gewerkschaft. Zehn Jahre später entstand der erste größere Zusammenschluss: "Die Führer der Föderation waren ehemalige Mitstreiter des italienischen Freiheitshelden Garibaldi, Schüler des französischen Anarchisten Proudhon, Überlebende der Pariser Kommune und Verfolgte der europäischen Konterrevolution. Ab 1880 flammten die ersten schweren Arbeitskämpfe auf, es streikten die Krankenpfleger, die Hafenarbeiter in Paysandú, in Montevideo kam es zu Arbeitsniederlegungen im Baugewerbe und bei den Straßenbahnen." 1905 wurde die anarchosyndikalistische FOUR (Federación Obrera Regional del Uruguay) als Gewerkschaftsdachverband gegründet.


Der erste Sozialstaat Lateinamerikas

Bis zum Wahlsieg der Frente Amplio 2005 teilten sich - unterbrochen von zwei Diktaturen - zwei Parteien die Regierungsmacht: Die Blancos als Vertreter der Latifundien und die Colorados, die das städtische Bürgertum repräsentierten. Der Colorado-Politiker und zweimalige Präsident José Batlle y Ordóñez erkannte die Drohung durch die entstehende Arbeiterbewegung und antwortete mit weitreichenden Reformen. Anfang des 20. Jahrhunderts schuf er einen Sozialstaat, der nicht nur in Lateinamerika führend, sondern auch europäischen Ländern voraus war. Kinderarbeit unter dreizehn wurde verboten, die Arbeitszeit auf 48 Wochenstunden beschränkt und bereits 1915 wurde der Achtstundentag in der Industrie eingeführt. Frauen bekamen Schwangerschaftsurlaub und das Recht auf Ehescheidung und erste Sozialversicherungen wurden eingerichtet. Außerdem zeichnete sich der Batllismo durch die Kontrolle des Finanzsektors und die Verstaatlichung von Banken und Infrastruktur (Strom, Telekommunikation und Eisenbahnen) aus. Später wurde ein Staatsmonopol auf die Öl-Verarbeitung und die Produktion von Zement und Alkohol eingeführt.

In Uruguay kommen auf einen Menschen etwa drei Rinder. Die Industrialisierung begann mit Schlachthöfen und Fleischfabriken. Ein eigener Aufsatz ist der ersten Fabrik gewidmet, die 1862 im Auftrag von Justus von Liebig die Produktion von Fleischextrakt in Fray Bentos aufnahm. Das Städtchen mit 25.000 EinwohnerInnen ist von dieser Geschichte geprägt. Anfang des 20. Jahrhunderts waren mehr als 4000 ArbeiterInnen aus 23 Nationen in der Fabrik beschäftigt. "Die Leute im Barrio reden auch heute noch viel von "den Deutschen" - los Alemanes. In deren Zeit wurden die Wohnungen für die ArbeiterInnen gebaut, es gab im Viertel Elektrizität, bevor Montevideo ans Netz ging und zusätzlich zum Lohn wurden mehrere Kilogramm Fleisch pro Familie und Tag verteilt." Gegen den Mythos der "guten alten Zeit" werden jedoch auch die elenden Arbeitsbedingungen erwähnt und die harten Kämpfe der Gewerkschaften, die mehrfach Märsche in die über 200 Kilometer entfernte Hauptstadt organisierten.

Uruguay wurde lange Zeit als die "Schweiz Lateinamerikas" bezeichnet. Der Wohlstand beruhte vor allem auf dem Export von Fleischprodukten und Lederwaren, die jeweils in den Kriegen Konjunktur hatten. In den 1950er Jahren hatte das Land das höchste Pro-Kopf-Einkommen der Region sowie auf dem ganzen Kontinent die niedrigsten Raten von Analphabetentum und Kindersterblichkeit. Der öffentliche Dienst wurde enorm ausgeweitet. Aber nach dem letzten Boom im Koreakrieg führten fallende Weltmarktpreise in die Krise. Auf Geheiß von IWF und Weltbank wurden die Löhne eingefroren. In den 1960er Jahren kam es zu heftigen Streiks und Kämpfen in verschiedenen Sektoren und immer wieder zu Generalstreiks. Gleichzeitig traten die Tupamaros mit spektakulären bewaffneten Aktionen auf den Plan. Der Ursprung dieser berühmtesten Stadtguerilla lag auf dem Land: Zündfunke waren die Märsche der Zuckerrohrarbeiter, die aus dem Norden des Landes nach Montevideo kamen, um gegen ihre miserablen Lebensbedingungen zu protestieren. Aus der Unterstützergruppe wurde später die MLN gegründet. (Deren Geschichte wird am Beispiel des Lebens von Yessie Macchi erzählt, die den späteren Weg ihrer Compañeros an die Regierungsmacht nicht mitgegangen ist.)


Krise - Diktatur - Neoliberalismus

Gegen die Bewegungen ging die Regierung immer repressiver vor. Im Juni 1973 übernahmen die Militärs die Macht. Vergeblich versuchten die ArbeiterInnen mit Betriebsbesetzungen und einem Generalstreik die Diktatur zu verhindern.(1) Der Generalstreik wurde zwei Wochen lang durchgehalten, aber dann folgten zwölf Jahre Militärherrschaft. Zehntausende wurden verhaftet und gefoltert. Uruguay stellte den traurigen Rekord auf, im Verhältnis zur Einwohnerzahl weltweit die meisten politischen Gefangenen zu haben. Aus dem Einwanderungs- wurde ein Auswanderungsland: Hunderttausende gingen ins Exil. 1980 versuchten die Militärs, ihre Herrschaft durch ein Referendum über die Verfassung zu legitimieren. Der Versuch schlug fehl, das "Nein" gewann, und der Widerstand zeigte sich erneut öffentlich. Das war der Anfang vom Ende der Diktatur. 1983 kamen 150.000 zur Kundgebung am 1. Mai, um gegen die Diktatur zu demonstrieren, und ein Generalstreik im Januar 1984 zwang die Militärs schließlich zu Verhandlungen mit den Politikern.

In Lateinamerika wurde das neoliberale Modell mit Diktaturen durchgesetzt. Den UruguayerInnen ist es gelungen, die Privarisierungswelle per Referendum zu bremsen. Im Dezember 1992 wurde die Privatisierung der Telefongesellschaft ANTEL und weiterer Staatsbetriebe mit 66 Prozent abgelehnt. 2003 versuchte die Regierung, die staatliche Erdölraffinerie ANCAP, die nach fast zwei Jahrzehnten De-Industrialisierung die letzte relevante Industrie im Lande war, teilweise zu privatisieren. Auch dieser Plan wurde per Referendum vereitelt. Nicht verhindern konnten die UruguayerInnen dagegen die "zweite neoliberale Welle", die Ausbreitung von Monokulturen und Plantagen. Immer größere Flächen werden für den Anbau von genmanipuliertem Soja zur Verfügung gestellt (Ausweitung von 12.000 auf 500.000 Hektar in sieben Jahren), und die Zellstoffproduktion ist auf dem Vormarsch. Bekannt geworden ist vor allem der Konflikt um die weltweit größte Zellulosefabrik des finnischen Konzerns Botnia, die Ende 2007 in Fray Bentos den Betrieb aufgenommen hat. Auf der gegenüberliegenden argentinischen Seite des Grenzflusses wurden große Proteste mit Brücken- und Grenzblockaden organisiert. Der Umweltkonflikt wurde nationalistisch aufgeheizt und eskalierte zu einem Zerwürfnis zwischen den beiden Staaten.

Freihandelszonen, Subventionen und Weltbankkredite machen den Standort für multinationale Konzerne attraktiv. Auf den Plantagen werden teilweise halbsklavische Arbeitsverhältnisse und die Rückkehr der Kinderarbeit festgestellt. Die Eukalyptus-Monokulturen zerstören Ökosysteme, verbrauchen Unmengen Wasser und erfordern den massiven Einsatz von Agrochemie. An den schädlichen Folgen dieser Wirtschaftspolitik für das Wasser ändert auch das Referendum nichts, mit dem im Oktober 2004 das Recht auf Trinkwasser als elementares Menschenrecht in der Verfassung verankert wurde - auch dies ein bislang weltweit einzigartiger Vorgang.


Stoßdämpfer? Linksregierung und Sozialstaat

Das Bündnis Frente Amplio, das 1971 gegründet wurde, regiert Uruguay seit 2005. Der jetzige Präsident "Pepe" Mujica war vorher Landwirtschaftsminister. Am Ausverkauf des Landes und an den Besitzverhältnissen hat die Links-Regierung nichts geändert. Die Unternehmerschaft kann der nächsten Regierungsperiode gelassen entgegensehen. Trotzdem fällt die Bilanz im Buch wegen der beachtlichen Reformerfolge positiv aus. Die Rechte der ArbeiterInnen wurden verbessert, es gab verschiedene Sozialprogramme und die Zulassung der Homo-Ehe inklusive Adoptionsrecht ist ebenfalls bemerkenswert. Nach dem Krisenabsturz 2002 verbreitet sich das Gefühl, dass es wieder aufwärts geht.

Im Gegensatz zum Nachbarland Argentinien, wo die Krise im Dezember 2001 einen Aufstand auslöste, kam es in Uruguay zu keiner sozialen Explosion. Der Frage nach den Gründen für diesen Unterschied wird leider nicht nachgegangen. Ein Hinweis findet sich aber im Kapitel zur Frauenbewegung: "Der Batllismo stand nicht nur für eine fortschrittliche Gesetzgebung, sondern etablierte auch einen Grundbestand an Überzeugungen: zum einen den festen Glauben an Gesetz und Staat, der bei sozialen Konflikten und Ungerechtigkeiten regulierend zum Wohle aller eingreift...". Tatsächlich zeigt die Geschichte, dass UruguayerInnen eher Volksabstimmungen durchsetzen als Barrikaden bauen. Kritiker bezeichnen die Reformpolitik von Batlle bis zur Frente Amplio als "Stoßdämpfer". Über die Politik des Tupamaro-Präsidenten wird in den nächsten Jahren sicher noch viel gestritten werden.


Landeskunde von unten

Das Buch bietet keine systematische Geschichtsschreibung oder Analyse - aber eine Fülle von Material. 24 AutorInnen aus Uruguay und der BRD haben insgesamt 50 Artikel zu einzelnen Aspekten verfasst. Dabei bleibt manches notwendigerweise oberflächlich, aber insgesamt ergibt sich ein vielfältiges Bild. Die Beiträge sind in sechs Kapitel aufgeteilt (Inhaltsverzeichnis und Vorwort können auf der Webseite des Verlags eingesehen werden). Am Anfang stehen Impressionen aus dem Land, Artikel zur Geschichte Uruguays und eine Bilanz der Linken an der Regierung. Ein Schwerpunkt des Buches liegt auf den sozialen Bewegungen. Es werden viele Geschichten erzählt und einzelne Menschen aus den Bewegungen vorgestellt.

Die beiden letzten Kapitel beschäftigen sich mit Ökonomie / Ökologie sowie mit Kultur und Alltagsleben. Trotz geringer Bevölkerung hat das Ländchen kulturell einiges an Literatur, Musik und Filmen zu bieten. Den ewigen Streit zwischen Argentinien und Uruguay, wer nun eigentlich den Tango erfunden hat, gewinnt erwartungsgemäß Uruguay: Sowohl der erste Tango 1886 als auch der berühmteste, La Cumparsita, wurden in Montevideo geschrieben. Und Fußball darf als Teil der Landeskultur ebenso wenig fehlen - Uruguay war schließlich zweimal Weltmeister. Das Sammelbändchen ist mit vielen Fotos schön gemacht und gut zu lesen - eine Empfehlung für alle, die mehr über das kleine Land mit den vielen Rekorden erfahren möchten.


Stefan Thimmel, Theo Bruns, Gert Eisenbürger, Britt Weyde (Hg.) Uruguay. Ein Land in Bewegung.
Verlag Assoziation A. Berlin, Hamburg 2010. 272 Seiten, 18 Euro.


Anmerkung

1) Ernesto Kroch - mit inzwischen 93 Jahren der älteste der Autoren - behandelt den beeindruckenden Widerstand der ArbeiterInnen gegen die Machtübernahme der Militärs hier nur in wenigen Sätzen. Ausführlicher hat er darüber in seiner Autobiografie geschrieben. Er musste zweimal über den Atlantik fliehen: Als jüdischer und kommunistischer Jugendlicher vor den Nazis aus Deutschland und als 65-Jähriger vor den Militärs aus Uruguay. In Montevideo hat er Jahrzehnte in einem Metallbetrieb gearbeitet. Aus dieser Perspektive als Arbeiter und Aktivist beschreibt er den Widerstand gegen die Diktatur. Dieses Buch sei hiermit ebenfalls empfohlen:

Ernesto Kroch Heimat im Exil - Exil in der Heimat. Ein Leben zwischen Europa und Lateinamerika
Neuauflage bei Assoziation A, 2002.

Raute

Im letzten Heft sind uns viele Fehler passiert. Im Artikel Krise - Rückblick und Ausblick wurde auf der letzten Seite "Kämpfe gegen die Krise" nicht als Überschrift markiert - Ihr konntet euch hoffentlich denken, dass dies unser "Ausblick" sein sollte. Im Interview zur Emmely-Kampagne hat die automatische Rechtschreibkorrektur ein "Mitleid der Kampagne" produziert - das hat in erster Linie zur Belustigung des Mitglieds der Kampagne beigetragen, zum Glück! In wacherem Zustand würden wir nicht unbedingt von Prüfungsforbereitungen schreiben, und auch die Dopplung ganzer Absätze in mehreren Artikeln war der Müdigkeit und Eile geschuldet. In Die Iranische Revolution 1979 gab es Unstimmigkeiten bei der Transkription der Eigennamen. Sorry für das alles und die weiteren Tippfehler!

Raute

was bisher geschah ...

Hafenarbeiter-Komitee Bremerhaven

Während der Produktion der Wildcat 86 hatten wir von der Blockade des Bremerhavener Hafens gehört und konnten diese Information noch in eine Marginalspalte packen. An der Aktion beteiligtwaren 60-70 Leute, Hafenarbeiter und UnterstützerInnen, davon zwei Dutzend von der autonomen Vollversammlung in Bremen.

Mit dieser nicht sehr großen Masse Leute konnten sie den Hafen zwei Stunden lang blockieren; erst unter der Drohung polizeilicher Auflösung haben sie die Aktion dann selbst beendet. Dabei lernten sich zwei Scenes kennen, die bisher wenig miteinander zu tun hatten. Teile der Autonomen in Bremen interessieren sich nun wieder für Arbeiterkämpfe - aber in den unmittelbaren Konflikt im Hafen wirkte die Aktion leider nicht hinein. Wie diese Erfahrung umgekehrt bei den studentisch geprägten Autonomen hinsichtlich ihrer eigenen sozialen Auseinandersetzungen "verarbeitet" wird, bleibt bis jetzt unklar.

Die Arbeiter haben die UnterstützerInnen nicht als "KollegInnen" oder andere "Lohnabhängige" wahrgenommen, sondern als politische Gruppierung. Die Leute des Hafenarbeiterkomitees sprachen im Interview in der Wildcat 86 immer vom "Mayday-Bündnis" - von diesem waren aber nur drei anwesend, allerdings mit Fahnen.

Anfang des Jahres verlagerten sich die verschiedenen Auseinandersetzungen im Hafen vor allem auf die juristische Ebene. Im März liefen einige der Kündigungsschutzprozesse der 217 altbeschäftigten Hafenarbeiter, denen im Frühjahr - begründet mit dem Rückgang in der Autoverladung - gekündigt und ein neuer Vertrag auf der Basis des Distributionstarifs angeboten worden war. Fast alle 217 Arbeiter und dazu viele aus der (Änderungs-)Kündigungswelle im Oktober haben gegen die Sozialauswahl geklagt und vor Gericht Recht bekommen.

Die Vollstreckung der Urteile wurde aber auf Antrag der Kapitalisten bis zur Entscheidung in der nächsten Instanz ausgesetzt. Der Grund dafür ist die zwischenzeitlich veränderte Tarifstruktur im Hafen, speziell bei der Autoverladung. Hier hatte die BLG (bzw. ihre Tochter AutoTec) als Auftragnehmerin der Autofirmen Ende des Jahres nach der Auslagerung ihrer Fahrer in eine andere Tochterfirma einen Haustarifvertrag abgeschlossen, der für Neueingestellte einen sehr viel niedrigeren Stundenlohn vorsah. Die BLG (Bremer Lagerhaus Gesellschaft) verlangte nun ultimativ von der Leihfirma GHB (Gesamthafenbetriebsverein), diesen Schritt mitzumachen, um nicht aus dem Rennen geworfen zu werden. Daraufhin schloss ver.di Bremen mit dem Bremer Verband der Seehafenbetriebe eine Ergänzung zum Flächentarif ab, die eine Bezahlung von GHB-Arbeitern unter ihrem Stammlohn erlaubt hätte, und legte das der Bundestarifkommission vor. Auf dieser Basis bot der GHB nun den seinerzeit Entlassenen eine Rückkehr in den Hafen an - wobei vage davon die Rede war, dass sie als Altbeschäftigte evtl. einen rückwirkenden Ausgleich zu ihrem Stammlohn bekommen würden, wenn denn die wirtschaftliche Lage des GHBV das erlauben würde. Dieses "Angebot" lehnten die Hafenarbeiter ab und bekamen angesichts der wackligen tarifrechtlichen Basis des von der Bremer ver.di-Sektion ausgehandelten Ergänzungstarifvertrages vor Gericht recht.

Die Prozesse in Bremen und Bremerhaven waren zwar gut besucht, aber die Betroffenen blieben allgemein unter sich. Die Verschleppungstaktik und "Kompromissbereitschaft" des GHB für ihre Altbeschäftigten auf der einen und der realen Drohung mit "echten" Niedriglohn-Leiharbeitern auf der anderen Seite werden es schwer machen, den Drive aus der Anfangszeit des Komitees weiter zu halten.


Selbstorganisation - Gewerkschaft

In der Gründungsphase des Komitees vor einem Jahr war die Stimmung unter den Hafenarbeitern ver.di gegenüber eher ablehnend. Das Agieren der Gewerkschaft und ihre Verstrickung mit dem Management in sozialdemokratischen Musterbetrieben wie der BLG und dem GHB hat beim Ausbruch der Krise das Gefühl befördert, im Stich gelassen worden zu sein. Das Problem, in der Anfangsphase weder durch Demonstrationen noch durch andere Aktionen die Partikularinteressen der verschiedenen Arbeitergruppen überwinden zu können, hat Teile der Aktiven wieder der Gewerkschaft zugeführt. Während in Bremerhaven unter den "alten" Umschlagsbeschäftigten Contterm, eine neue Spartengewerkschaft, Zulauf gefunden hat, haben sich in Bremen Beschäftigte wieder ver.di angenähert. ver.di hat sich recht geschickt verhalten - auf der einen Seite hat sie den bei den Arbeitern verhassten Sekretär Bethge aus den Verkehr gezogen. Auf der anderen Seite haben die aktiven Linksgewerkschafter in ver. di (und IG Metall, die auf seiten AutoTecs in einen Teil der Tarifauseinandersetzungen involviert war) die Hoffnung genährt, auf den Apparat Einfluss gewinnen zu können.

"Seitdem sind wir über ver.di-Vertrauensleutesprecher hier in Bremen da wieder ran gekommen. Die haben uns zu einer offenen Vertrauensleuteversammlung eingeladen, wo wir vorher angefragt haben, ob wir da mal auftauchen können. Da haben so 40/50 Leute gesessen, da habe ich ca. 20 Minuten erklärt, was wir wollen und dass das, was man ihnen erzählt, wir würden Randale machen, die Gewerkschaften schlecht machen usw., dass das nicht so ist - damit haben wir aufgeräumt und die ver.di-Spitze ist auf uns zugekommen: "Das ist doch super, was ihr hier gemacht habt ihr seid ja doch anders, als wir dachten - man kann mit euch ja reden - und seitdem kommen wir ein bisschen an ver.di ran."

Diese Hoffnung hat allerdings zuletzt einen deutlichen Dämpfer erhalten: Die Bundestarifkommission hatte Ende März zunächst den von ver.di Bremen ausgehandelten Vorschlag zur Lösung des "Problems" der Autofahrertarife abgelehnt. Ende April jedoch zeigte sie, dass es ihr vor allem um den Schutz der Kernbelegschaften im Containerumschlag ging (und sie deshalb eine juristische Aufweichung des Flächentarifes ablehnte) und sie das Bremer Konstrukt nur aus formalen Gründen abgelehnt hatten. Nun lagerten sie den strittigen Bereich des Autoumschlags einfach aus dem Flächentarif aus und unterzeichneten einen extra Vertrag auf der Basis des Bremer Vorschlags. Der Billiglohn ist nun abgesegnet.

Wie kann es nun weitergehen? Aufbau einer internationalen basisgewerkschaftlichen Alternative etwa dadurch, dass sie versuchen, sich international mit Arbeitern aus anderen Autoterminals zusammenzuschließen -Emden, Rotterdam, Antwerpen und Zeebrügge? Oder neue politische Initiativen in Bremen gegen die Grundzüge des "neoliberalen Regimes" wie Auslagerungen, Prekarisierung (einsatzbezogene Bezahlung und Arbeitszeit), gegen die innerbetriebliche Willkür (Nasenprämien, ständige Versetzungen)?


Ende des "Massenarbeiters" ...

Mann + Hummel - Fahrzeug-Filter:
Nachdem Ende letzten Jahres eine Massenentlassung angekündigt worden war und dieses Jahr die Entlassung von weiteren 81 Beschäftigten im Rahmen des Rationalisierungsprojekts LEO, waren die ArbeiterInnen erst erschrocken, dann empört. Der Betriebsrat setzte eine Betriebsversammlung an und verlegte sie wegen der erwarteten Beteiligung gleich in die Sporthalle. Doch der neue Geschäftsführer kam der IGM zuvor: er wechselte die Taktik und entließ am Tag vor der Betriebsversammlung den Chef von LEO und kündigte einen wesentlich geringeren Belegschaftsabbau an.

Seit Februar ist die "Kurzarbeit" zu Ende. In der Abteilung, die Saugrohre für Opel fertigt, gibt es Arbeit ohne Ende: es wird in 20 Schichten gearbeitet, auch an Feiertagen; für die Zustimmung des Betriebsrats wurden Befristete fest eingestellt und vier Lehrlinge übernommen. Zusätzlich wurden Leiharbeiter eingestellt. Eines Tages stellte man sogar einen neuen Opel in die Halle und fuhr ein Buffet auf, um die Arbeiter den Opel-Auftrag feiern zu lassen, der die Linie bis zum Jahr 2017 (!) auslasten soll... Deshalb ist dort die Stimmung im Augenblick nicht sehr kämpferisch.

Die Sozialplanverhandlungen sind unterbrochen, der Beschäftigungsabbau läuft gleich wohl weiter, aber eben individualisiert. Im Rahmen eines "Sofortprogramms" können Arbeiter ohne Quotierung in Altersteilzeit gehen bzw. eine Abfindung erhalten, wenn sie freiwillig gehen.

Daimler Sindelfingen:
Die selbstständige Arbeitsniederlegung von 3-4000 ArbeiterInnen gegen die Verlagerung der C-Klasse (und die Co-Management-Politik des BR) während der Abwesenheit des BR-Vorsitzenden Klemm konnte dieser schließlich bei der BR-Wahl in einen Sieg für die IGM-Liste ummünzen. Die zum ersten Mal kandidierende Liste "alternative", die sich als Stimme der MontagearbeiterInnen sieht, bekam nur einen Sitz. Dafür betreibt die IGM weiter das Ausschlussverfahren im Stil der 70er Jahre gegen die Betriebsräte auf "alternative"-Listen in Sindelfingen und Berlin-Marienfelde (25 Prozent).

Behr Feuerbach:
BR-Mehrheit und VKL haben sich mit der Schließung des Werks 8 in Stuttgart-Feuerbach abgefunden und verhandeln über die "Ausgestaltung" einer dreijährigen (!) Beschäftigungsgesellschaft. Die Gründung eines linksgewerkschaftlichen "Soli-Komitees" erwies sich als Flop, als klar war, dass diese Linie durchgezogen wird - auch gegen den erklärten Willen von Arbeitern aus Werk 8.


Randnotizen

Privatinitiative! Gespräch mit AktivistInnen aus dem Bremerhavener Komitee, Wildcat 86, S. 26-29

Ende des "Massenarbeiters" im Stuttgarter Raum, Interviews mit Arbeitern aus Auto- und Zulieferbetrieben über die Nutzung der Kurzarbeit. Wildcat 86, S. 34-43.

Raute

Staatsschuldenkrise

Mainstream economists are so busy predicting the past they are incapable of forecasting the future.

Nach einer Finanzkrise kommen Staatspleiten. Der Harvard-Ökonom und ehemalige Chefökonom des IWF - geholt vom damaligem Chef, Horst Köhler - Kenneth Rogoff hat zusammen mit seiner Kollegin Carmen Reinhart die Staatspleiten der vergangenen 800 Jahre untersucht und dabei einen engen Zusammenhang zwischen "Finanzkrisen" und darauf folgenden Staatspleiten festgestellt. Wenn der Staat die Krise einzudämmen versucht, indem er die Schulden der Banken übernimmt, trägt das den Keim einer neuen Krise in sich. Als kritische Schwelle für eine Staatspleite machen Rogoff/Reinhart Staatsschulden von mehr als 90 Prozent des BIP aus (siehe die Illustration auf dem Titelbild). Dann fließt soviel Geld in den Zinsdienst und die Haushaltssanierung, dass das Land in eine Dauerflaute gerät. Rogoff ist zum Star geworden, das Buch zur Pflichtlektüre bei Bankern. Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank fasste es im Mai knapp zusammen: "Wenn man sich die Geschichte von Finanzkrisen ansieht, dann ist eine Staatsschuldenkrise nach einer Bankenkrise so logisch wie der Buchstabe B nach dem Buchstaben A." (FTD 25.5.2010)

Wie "logisch" muss diese Aufeinanderfolge erst sein nach den bis dato unvorstellbaren Summen, mit denen die Staaten seit Herbst 2008 eingesprungen waren, um eine Implosion des globalen Finanzsystems zu verhindern. In der Folge sind die Staatsschulden mit einer noch nie erreichten Geschwindigkeit gestiegen.

Das Kieler Institut für Weltwirtschaft beziffert die globalen staatlichen Konjunkturhilfen auf rund drei Billionen US-Dollar, ca. 4,7 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts. Dazu kommen laut IWF die Kosten der Banken-Bailouts in Höhe von 13,2 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts. Insgesamt wurden also 12 Billionen Dollar an zusätzlichen Staatsschulden aufgenommen - ein Vielfaches der Konjunkturprogramme der New Deal-Ära, während gleichzeitig die Steuereinnahmen drastisch zurückgingen. Diese gewaltigen Summen kommen jetzt als Bumerang zurück.

Verschärft wird die Staatsschuldenkrise dadurch, dass die insolventen Banken durch die gewaltigen Kapitalspritzen zwar am Leben gehalten, aber nicht saniert wurden ("Zombiebanken"). Bankenkrise und Staatspleiten hängen in beiden Richtungen zusammen, die Staaten sind u.a. pleite, weil sie die Banken rausgehauen haben; die Banken gehen krachen, wenn eine Staatspleite droht. Seit November war das Problem diskutiert worden, ob es dem griechischen Staat gelingen würde, seine Schulden durch den Verkauf von Staatsanleihen zu (re-)finanzieren und wieviel Zinsen er dafür zahlen muss. Als aber Ende April die griechischen Banken vor dem Kollaps standen, weil sie von den Finanzmärkten kein frisches Kapital mehr bekamen, "musste Europa handeln". Was als Rettung von Griechenland ausgegeben wurde, war in Wirklichkeit die zweite gewaltige Rettungsaktion des globalen Bankensystems. Das heißt nicht, dass es in Griechenland keine Probleme gegeben hätte...


Die Tiefe der griechischen Krise

Die südeuropäischen Staaten Griechenland, Portugal, Italien und Spanien wurden in der Produktivitätsentwicklung regelrecht abgehängt. Ihre Lohnstückkosten sind seit 1999 um 26 bis 33 Prozent gestiegen, in der BRD sind sie hingegen von 1999 bis 2007 zurückgegangen! Das griechische Leistungsbilanzdefizit hat sich von rund 10 Mrd. Euro im Jahr 2000 auf 34 Mrd. Euro im Jahr 2008 mehr als verdreifacht. Das geht allerdings nicht ausschließlich auf die negative Handelsbilanz (vor allem mit der BRD!) zurück, sondern vor allem auf einen zunehmenden Kapitalabfluss; die Ertragszahlungen an ausländische Inhaber griechischer Vermögenswerte wie Anleihen, Kredite und Aktien ist von ein Prozent des BIP im Jahr 2000 auf 4,5 Prozent im Jahr 2008 gestiegen.

Zudem hat die Militärdiktatur dafür gesorgt, dass die Reichen in Griechenland keine Steuern mehr bezahlen mussten; und Ärzte, Architekten, Industrielle ... setzen diese schöne Gewohnheit auch nach deren Ende fort. Alles, was der Staat einnimmt, sind Lohnsteuern - und natürlich die ständig erhöhten Verbrauchssteuern. Allerdings wird bereits jetzt die Schattenwirtschaft auf 30 Prozent des BIP geschätzt, somit weitere - und wachsende - Steuerausfälle.

Strukturell geht es aber um etwas, was die Eurogegner als "Südländerproblem" beschreiben: In den "Beitrittsländern" der EU führten die nun viel niedrigeren Zinsen zur Ausbildung von Defizitkonjunkturen (Immobilienblase in Spanien, hohe Privatverschuldung in den baltischen und östlichen Ländern). Die Löhne stiegen schneller als die Produktivität, so dass diese Volkswirtschaften auf dem Weltmarkt von zwei Seiten erdrückt werden: der höheren Produktivität der BRD-Industrie und den niedrigeren Löhnen etwa in China ("Sandwich-Ökonomie"). Wie in den meisten dieser Länder kam es in Griechenland nach dem Beitritt zur EU und nach der Einführung des Euro zu einer wirtschaftlichen Scheinblüte, die einerseits durch billige migrantische Arbeitskraft, andererseits durch massive Kreditaufnahme befeuert wurde.

Wenn die Zinsen auf Schulden schneller wachsen als das Einkommen, steht irgendwann ein Bankrott an. Dies war bei Griechenland der Fall. Um einzuschätzen, was ein Konkursverfahren bringen könnte (im Fall von Staaten vornehmer "Umschuldung" genannt), berechnen die Ökonomen das "Primärdefizit" (Haushaltsdefizit ohne Zins- und Schuldendienst). Dieses hegt für Griechenland noch bei 8,5 Prozent des BIP. Ganz einfach ausgedrückt müsste der griechische Staat auch dann noch 8,5 Prozent weniger ausgeben oder mehr einnehmen, wenn es ihm gelingt, seine Schulden komplett abzuschreiben!

Trotz dieser dramatischen Zahlen - die wirkliche Tiefe der griechischen Krise sehen die Finanzmärkte im Widerstand der Arbeiterklasse in Griechenland. Moody's gab Ende April bekannt, ob Griechenland weiter heruntergestuft würde, hänge "von der Einschätzung [ab], wie die Bevölkerung solche Kürzungen akzeptieren werde." (FTD 30.4.2010). Ganz knapp formulierte die FR in einer Überschrift am 6. Mai den Zusammenhang zwischen Protest und Finanzmarkt: "Rendite für Staatsanleihen: Protest verschärft Lage für Griechenland". Der Generalstreik in Griechenland am Tag zuvor hatte weltweit Panik bei den Kapitalisten verursacht und ein "Bedürfnis nach Sicherheit", bzw. "weitere Flucht aus dem Risiko" erzeugt. Wieder einmal war das "Vertrauen" in den Geschäftspartner, dass er im Klassenkampf würde bestehen können, äußerst erschüttert. Wie hypernervös zu diesem Zeitpunkt alle waren, zeigt der Rekordcrash am 6. Mai, als der Dow Jones in wenigen Minuten fast 1000 Punkte verlor. Die Ursache dafür ist bis heute nicht geklärt. Zunächst wurde eine technische Panne verantwortlich gemacht, später wurde die Angst vor der harten Landung Chinas als Auslöser genannt. Ich halte die Geschichte für am wahrscheinlichsten, dass die Händler in New York in Panik gerieten, als sie Bilder von den riots in Griechenland auf ihren Monitoren sahen - zeitlich würde es stimmen...


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Eurokrise

"There is a 'Lehman' style event waiting to happen in the Euro zone. Last week's Greek 'rescue' is Europe's 'Bear Stearns event'. The Lehman moment has yet to come." (Marshall Auerback, 21.4.2010)


Nach einem kurzen, schwachen Aufschwung hat die Staatspleitendynamik, die sich in einem ersten Schritt als "Eurokrise" ausbildete, bereits zu einer erneuten Verlangsamung der globalen Wirtschaftsdynamik geführt. Die Debatte der letzten Wochen, ob die "Griechenland-Krise" durch massive Spekulation oder durch die Verunsicherung langfristiger Anleger "verursacht" sei, hat nur Nebelkerzen geworfen. Die Spekulation ist nur Indikator, nicht Ursache der krisenhaften Entwicklung. Hinter der "Eurokrise" stecken drei strukturelle Probleme: Die Unterkapitalisierung der europäischen Banken (die eigentlich pleite sind), die Staatsverschuldung, das Problem der "Sandwich-Ökonomien".

Die Überführung der EWG in die EU (Vertrag von Maastricht 1992) und die Einführung des Euro (1999 bis 2002) waren jeweils eine Flucht nach vorn in Phasen tiefer Kriseneinbrüche. Die dabei gefundenen Kompromisse waren nicht tragfähig; in VWL-Sprache: es kann nicht funktionieren, Geld- und Fiskalpolitik zu trennen; ohne gemeinsame Wirtschaftspolitik kann der Euroraum nicht funktionieren. Die "PIGS-Krise" macht deutlich, dass die Härte der Maastrichtkriterien die strukturelle Lücke des neoliberalen Projekts "Euro" nur notdürftig verkleistert hatte.

Durch die Einführung des Euro waren den südeuropäischen Ländern zwei Instrumente weggenommen worden, die sie vorher oft eingesetzt hatten. Durch Abwertung die eigene Wirtschaft konkurrenzfähig halten; die Staatsausgaben notfalls durch Gelddrucken finanzieren.

Griechenland ist nur das schwächste Glied in der Kette; es war im Frühjahr mit etwa 125 Prozent des BIP verschuldet und hatte ein Haushaltsdefizit von über zwölf Prozent des BIP. Zudem waren über 80 Prozent der Schulden im Ausland aufgenommen worden (Italien ist z.B. stärker verschuldet, Japan sehr viel stärker, beide aber größtenteils im Inland). Durch die seit der Dubaikrise im November 2009 einsetzende "Flucht der Anleger aus dem Risiko" musste Griechenland immer mehr Zinsen für seine Staatsanleihen bezahlen (bis zu 15 Prozent!), und es wurde klar, dass es spätestens im Mai seinen Schuldendienst nicht mehr würde aufbringen können.

Die Kapitalisten in der BRD sind der Hauptprofiteur der EU und des Euro: Ihre Exportüberschüsse in die Eurozone betrugen 2008 rund 100 Milliarden Euro. Von der Einführung des Euro bis zum Ausbruch der Krise schoss der Außenhandelsüberschuss der BRD von minus 17 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf 198 Milliarden 2007. Hauptantrieb dieser Exportoffensive waren die stark sinkenden Lohnstückkosten bei schneller Ausweitung eines Niedriglohnsektors und insgesamt sinkenden Reallöhnen. Und die BRD profitierte sogar doppelt von der Eurozone, denn deutsche Banken verdienten an der Kreditvergabe an den griechischen Staat oder an spanische Unternehmen und Häuslebauer.

(Ein dritter Aspekt ist zu erwähnen: ein Teil der griechischen Schulden geht auf Waffenimporte zurück. Griechenland gibt 3,3 Prozent des BIP für Rüstung aus, die BRD z.B. 1,3 Prozent. Cohn-Bendit berichtete am 7. Mai im Europaparlament, dass Frankreich und die BRD ihre Zustimmung zu dem Hilfspaket von weiteren Waffenkäufen Griechenlands abhängig gemacht hatten.)

Auch an der "Eurokrise" hat die BRD doppelt profitiert: Die deutschen Exporte kamen aufgrund des um zehn Prozent gefallenen Euro stark in Schwung und stiegen im März im Vergleich zum Vormonat um zehn Prozent - so stark wie seit 18 Jahren nicht mehr! Und der durch die "Eurokrise" ausgelöste Run auf deutsche Staatsanleihen brachte dem deutschen Staat mehrere Milliarden Euro Zinsersparnis, Ende Mai lagen die Zinsen für seine Staatsanleihen auf einem historischen Tief.


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Die globale Dimension

"Analysts are also worried that China might take steps that will limit its economic growth, which would also affect the U.S. Recovery... the market is vulnerable to rumors about any of the major economies right now." (Guardian 20.5.2010)

Die unterkapitalisierten europäischen Banken drohten zu kollabieren und eine globale Bankenkrise auszulösen. Das ist der eigentliche Brandherd der "Eurokrise". Diese ist aber nur der Anfang, die Peripherie Europas war nur das offensichtliche schwache Glied in der Kette, der wirkliche Dominostein, der zu fallen droht, sind die USA, die befürchtete harte Landung in China der mögliche Sprengsatz. Der bereits zitierte Chefvolkswirt der Deutschen Bank: "Sieht man sich den Ausblick für die öffentlichen Finanzen in Großbritannien und den USA an, wird einem auch schwindlig. Sobald die Probleme der Euro-Randstaaten gelöst sind, sehen die Märkte ..., dass der Zustand der Staatsfinanzen in Euroland besser ist als der in Großbritannien und den USA." Deshalb war die US-Regierung direkt am Aushandeln des Bailouts beteiligt. Ein wichtiger Bestandteil des Pakets waren Währungs-Swap-Abkommen mit der EZB, um den europäischen Banken Dollarliquidität zur Verfügung zu stellen. Trotzdem blieben "die Märkte" weiterhin sehr "besorgt" und beruhigten sich erst, als China Ende Mai versicherte, seine in Euro gehaltenen Währungsreserven nicht umschichten zu wollen.

Im Zentrum der Verschuldung stehen nach wie vor die USA. Deren Gesamtverschuldung lag schon Anfang 2008 beim Dreieinhalbfachen des BIP und nähert sich inzwischen der 400-Prozent-Marke in der Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre war sie nie über 260 Prozent gestiegen! Ende Mai 2010 stieg die Staatsverschuldung der USA erstmals über 13 Billionen US-Dollar. Das sind etwa 90 Prozent des BIP. Deshalb bezeichnete Nouriel Roubini ganz richtig Griechenland als "Kanarienvogel im Kohlenbergwerk", "in den nächsten zwei oder drei Jahren werden die fiskalischen Probleme der USA in den Vordergrund rücken", "das Risiko, dass den USA etwas Ernstes passiert, ist erheblich." (FTD 29.4.2010)

US-Banken hängen in Europa natürlich fett drin, schätzungsweise ist JPMorgan Chase mit 1,4 Billionen Dollar engagiert, Citigroup mit etwas weniger als einer halben Billion... Die Probleme Chinas und Europas kamen in einer für die USA sehr ungünstigen Situation. Der von Bernanke bewusst ausgelöste Aktienboom hat statistisch gesehen die Rezession beendet, der zaghafte Aufschwung führte zwar zu höherer Produktion, nicht aber zu steigender Beschäftigung. Das Einkommen der amerikanischen Haushalte lag im Frühjahr 500 Mrd. Dollar unter dem Wert 16 Monate zuvor; das hatte es noch nie gegeben beim Ende einer Rezession. Somit sind Arbeitsproduktivität und Unternehmensgewinne in den letzten Monaten stark gestiegen, aber trotz eines Haushaltsdefizits von knapp elf Prozent gelingt es dem Staat nicht, den zurückgehenden Privatkonsum auszugleichen. Die Investitionen liegen deutlich unter dem historischen Mittel, trotzdem liegt das Außenhandelsdefizit bei 3,4 Prozent des BIP. Bezeichnenderweise traut sich die Fed seit 14 Monaten nicht, die Zinsen von ihrem historischen Tiefstand zu erhöhen. Deshalb verteidigt Bernanke auch die hochriskanten Schuldverbriefungen so grimmig - obwohl nach den Erfahrungen mit der Finanzkrise 2007 jedem klar ist, dass die Finanzbranche stärker reguliert werden muss - die Zukunft des Kapitalismus hängt daran, dem infolge der Überakkumulation beständig neue Anlagemöglichkeiten suchenden Kapital solche zu verschaffen! (siehe dazu die Besprechung von Robert Brenners Text S. 56)

Angesichts der ungeheuerlichen und historisch einmaligen Finanzspritzen und der dadurch entstandenen Rekordverschuldung Chinas, der USA und der europäischen Staaten (von Japan ganz zu schweigen!), war die Verfassung der Weltwirtschaft im Frühjahr 2010 desaströs. Eine hochriskante Mischung war entstanden, die die gewaltige Wucht des Rennens in den sicher(geglaubt)en Hafen erklärt, das sich Ende April massiv beschleunigte, als bekannt wurde, dass die US-Wirtschaft doch nicht so stark wie erhofft gewachsen war (der gestiegene Dollar bremste die Exporte), und die Arbeitslos-Meldungen in den USA sogar zunahmen (man hatte mit einer Abnahme gerechnet). Durch diese "Flucht der Anleger aus dem Risiko" schlecht gerateter Bonds und Aktien wurden die Banken der südeuropäischen Länder vom Kapitalmarkt ausgeschlossen, und der hohe Dollarbedarf führte zu Dollar-Knappheit und einem starken Abrutschen des Euro. Dadurch mussten viele Spekulanten ihre Dollar carry trades auflösen, was den Effekt verstärkte. "Ein erheblicher Anstieg der Risikoscheu hat bei den Anlegern einen Run auf Staatsanleihen ausgelöst. Gefragt waren dabei nur die liquidesten Papiere wie Bundesanleihen, britische [!!] und französische sowie US-Titel." (FTD 20.5.2010) Die "Flucht der Anleger in den sicheren Hafen" der Staatsanleihen ist angesichts der gewaltigen Staatsschulden völlig irrational - man darf auf die noch massivere Gegenreaktion gespannt sein, sobald die Ratingagenturen ihre Einschätzung der Bonität verschiedener Staaten der Realität anpassen.


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Euro-Bailout - alles weiter wie bisher...

In den frühen Morgenstunden des 8. Mai (in vielen EU-Staaten Feiertag in Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkriegs) erklärte Sarkozy: "Wir haben uns für eine absolute Generalmobilmachung entschieden". Nach monatelangen Streitereien und mehreren Anläufen ging nun alles ganz schnell. Um eine "Marktpanik im Keim zu ersticken" und aus Angst vor einem Dominoeffekt, schließlich ist "der Euro Europa, und Europa ist der Frieden", ebenfalls Sarkozy.

Der am 8./9. Mai beschlossene "Bailout" ging von länderspezifischen Hilfsprogrammen auf einen europaweiten Schutzschirm über. Das Rettungspaket bestand aus fünf Teilen:

die Regierungen der Eurozone stellen insgesamt 500 Mrd. Euro zur Verfügung (440 Mrd. Euro kommen in Form garantierter Kredite von den Euro-Mitgliedern, 60 Mrd. Euro stellt die Brüsseler Kommission als direkte Darlehen bereit);
der IWF gibt 250 Mrd;
die EZB kauft Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt;
die USA stellen über Währungs-Swaps Dollarliquidität zur Verfügung;
die europäischen Regierungen verpflichten sich auf extreme Sparprogramme; Griechenland hatte sich bereits bei dem vorherigen Rettungspaket verpflichtet, sein Haushaltsdefizit von jetzt 13,6 Prozent bis 2014 unter die Schwelle von drei Prozent vom BIP zu bringen.

Ein Paradies für Banken

Die gewaltigen Liquiditätshilfen, die nach der Lehmanpleite in den Bankensektor gepumpt worden waren - ohne dass die Banken verstaatlicht oder zumindest umstrukturiert worden wären, ja ohne dass sie ihre Bücher hatten offenlegen müssen - haben dazu geführt, dass gerade schwächere Banken ein noch größeres Rad drehten und übermäßig riskante Kredite vergaben, weil diese hohe Zinsen brachten - wie z.B. griechische Schuldtitel. Wäre es zu einer Umschuldung Griechenlands gekommen, wie im Falle früherer staatlicher Schuldenkrisen, hätten sie diese Forderungen teilweise abschreiben müssen. Stattdessen geben die europäischen Regierungen jetzt weitere Kredite an Griechenland, wofür sie sich - im Fall der BRD über den Umweg der KfW - wiederum bei den Banken neu verschulden. Diese profitieren also doppelt: Der Staat übernimmt sozusagen ihre faulen Forderungen und zahlt ihnen auch noch Zinsen dafür.

Die 750/860-Mrd.-Euro waren keine Hilfe für "Griechenland" - die griechischen Defizite waren auch gar nicht das Problem -, sondern die zweite gigantische Bankenrettung innerhalb von zwei Jahren. Die Kritiker des Rettungspakets wiesen zurecht daraufhin, dass genau dieselben Politiker, die ständig lauthals forderten, die Banken müssten an den Kosten der Krise beteiligt werden, die sie schließlich selber mit verursacht hätten, nun verhindert hatten, dass diese überhaupt irgend einen Preis für ihre (nur scheinbar riskanten) Engagements zahlen mussten. Somit werde die bisherige Spekulation belohnt und zu zukünftigen Spekulationen eingeladen, denn die "staatliche Rundumsorglos-Garantie" für die Banken werde immer selbstverständlicher. Selbst die FTD kommentierte, das Paket setze die Linie fort, "den Märkten zu geben, was sie wollen".


Was bedeutet es für Griechenland?

Das "Hilfsprogramm" Ende April verlangte von Griechenland, dreizehn Prozent des BIP einzusparen. Auf die BRD umgerechnet wären das jährlich 62,4 Mrd. Euro. Das würde z.B. bedeuten, in den kommenden fünf Jahren die Ausgaben für Hartz IV zu halbieren, den Autobahnbau und -unterhalt komplett einzustellen, die Bundeswehr, das Bundesverteidigungsministerium und die Entwicklungshilfe abzuschaffen.

"Griechenland" wäre mit einer Insolvenz und Umschuldung wesentlich besser gefahren. Aber beim Zustand der europäischen Banken Anfang 2010 hatten die Politiker keine Wahl: Sie mussten erstmal das Bankensystem retten. Denn Ende der ersten Maiwoche war der Interbankenhandel praktisch zum Erliegen gekommen. Wie beim Ausbruch der Finanzkrise 2007 fehlte es wieder an "Vertrauen", weil die Banken nicht wussten, welche Papiere der andere auf den Büchern hat.

Das Hilfspaket verschlimmert die Situation Griechenlands und verschiebt lediglich die Umschuldung. Durch die nochmals verschärften Sparprogramme wird die Arbeitslosigkeit steigen, die Wirtschaft stagnieren, die Löhne und Sozialleistungen werden noch weiter gesenkt. Berechnungen kommen zu dem Schluss, dass das BIP allein in diesem Jahr um 2,5 Prozent schrumpfen wird. Und selbst wenn das BIP wie von EU und IWF "vorausgesehen", in den Jahren darauf dann vier Prozent wachsen sollte, kann das Land daraus keine fünf bis sechs Prozent Zinszahlungen erzeugen, und der Zinseszinseffekt wird das Land in absehbarer Zeit in noch größere Bedrängnis bringen als bisher. Ganz unabhängig davon, ob es politisch gegen die Klasse durchgesetzt werden kann, Griechenland kann das verordnete Sparpaket rein ökonomisch gesehen gar nicht stemmen.

Konsequenterweise haben die Ratingagenturen griechische Banken herabgestuft, als die Sparprogramme verabschiedet wurden, denn ihre Probleme werden mit zunehmenden Insolvenzen der Privathaushalte und der Unternehmen in Griechenland deutlich größer werden.


"Einbruch des Pöbels in die Geldpolitik"?

Trotz der bedingungslosen Rettung der Banken durch den "Euro-Bailout" reagierten "die Märkte" gar nicht beruhigt, der Euro wertete weiter ab. Es wurde gestritten, ob das daran lag, dass die Größe des Rettungsschirms erst so richtig die Tiefe der Krise bewusst gemacht hatte, oder ob das Gesamtpaket von 750 Mrd. Euro (bzw. sogar 860 Mrd., wenn man das kurz zuvor beschlossene Rettungspaket dazu rechnet) noch zu gering sei. Laut FTD hatten "Volkswirte" errechnet, dass es ein Rettungspaket in Höhe von 2000 Mrd. Euro bräuchte. Als die Bundesregierung in einem Alleingang nachlegte und ungedeckte Leerverkäufe verbot, reagierten die Märkte regelrecht hysterisch. Obwohl das Verbot lediglich Symbolpolitik für die Öffentlichkeit war, zeigt es die Abhängigkeit der Bundesregierung von "Stimmungen der Straße" und weckt letztlich Zweifel an ihrer Entschlossenheit. Wenn es aber daran mangelt, wird das Aufkaufen von Staatsanleihen zu einer direkten Hilfe für Regierungen, die ihre Haushalte nicht im Griff haben (zu hohe Renten, zu hohe Sozialausgaben insgesamt...), und indirekt zur institutionalisierten Unterstützung für eine "über ihre Verhältnisse lebende Arbeiterklasse".

Diese Sorge steckt hinter der heftigen Kontroverse um den "Tabubruch" der EZB. Sie hat in der ersten Woche lediglich Staatsanleihen für 16,5 Mrd. Euro aufgekauft, und das lediglich auf dem Sekundärmarkt, und sie hat dieses "Gelddrucken" durch Aufsaugen anderer Liquidität im gleichen Zug "sterilisiert". Geldmengentheoretisch also alles kein Problem (zum Vergleich: die Fed hatte US-Staatsanleihen für 300 Mrd. Dollar gekauft, die Bank of England britische Staatsanleihen für 200 Mrd. Pfund).

Trotzdem brach großes Heulen und Zähneklappern aus, weil nun politische Konflikte und soziale Forderungen in die Geldpolitik durchschlagen und die "Unabhängigkeit" der EZB untergraben. Sollten die in die Bücher genommenen Staatsanleihen im Wert sinken oder gar verfallen, weil es den Staaten nicht gelingt, ihre Sparpolitik umzusetzen, hätte die EZB die Verluste zu tragen. Gegen diese Befürchtungen stemmt sich die EU mit einer regelrechten Sparorgie.


Sparrausch

Rogoff hatte in einem Beitrag zur Schuldenkrise Griechenlands mit einem alten Witz den Konkurrenzmechanismus geschildert, in den die einzelnen Länder dabei getrieben werden: Nach einem Flugzeugabsturz werden zwei Männer im Dschungel von einem Löwen umkreist. Als der eine seine Turnschuhe anzieht, fragt der andere, warum er dies tue. "Ich mach mich fertig, um wegzurennen." - "Aber du wirst nicht schneller sein als der Löwe". - "Ich muss nicht schneller laufen als der Löwe, nur schneller als du." Die Chance liege darin "alles in Bewegung zu setzen, um sich von der ersten und zweiten Welle an Restrukturierungen und IWF-Programmen fernzuhalten". Dann könnten die Regierungen anhand der Misere in anderen Ländern ihre Bevölkerung leichter von Sparprogrammen überzeugen. (FTD 8.2.2010, "Lauf, Athen, lauf!")

Bereits auf dem EU-Gipfel am 8. Mai mussten Griechenland (s.o.) und Portugal neue Sparmaßnahmen ankündigen; bis Ende Mai schlossen sich alle europäischen Regierungen an. Das Muster ist überall das gleiche: Gehälter im öffentlichen Dienst senken, Renten kürzen, Privatisierungen - und "langfristig" weitere Schnitte in soziale Sicherungssysteme. Italien will 2011 und 2012 24 Milliarden Euro einsparen. Spanien verschärfte sein Sparpaket in der dritten Maiwoche nochmal: zu den üblichen Kürzungen kommen Stellenabbau im öffentlichen Dienst, Streichungen bei staatlichen Investitionen und in der Entwicklungshilfe sowie weitere Steuererhöhungen hinzu (die Erhöhung der Mehrwertsteuer war bereits beschlossen). Auch Frankreich will nun die staatlichen Verwaltungsausgaben und die sogenannten Interventionsausgaben, wozu Sozialleistungen wie Wohngeld oder Beschäftigungsmaßnahmen gehören, um jeweils 10 Prozent senken; außerdem soll die Beschäftigung im öffentlichen Dienst abgebaut werden. Diese Maßnahmen reichen allerdings bei weitem noch nicht an die deutsche "Schuldenbremse" oder an die Messlatte "Griechenland" heran.


Extrem schmaler Grat

Es ist eine heftige Debatte über den ökonomischen Sinn dieser Sparpolitik entbrannt. Der Chefökonom der Financial Times Deutschland bezeichnete die Spar-Aufforderungen der EU-Regierungen an die südeuropäischen Länder als "gaga. Das ist, als würde man einem Schwimmer beim Absturz von den Niagarafällen zurufen, doch endlich mal richtig zu kraulen." Obwohl Griechenland noch immer in der Rezession steckt, kriegt es das schärfste Sparpaket in der Geschichte aufgebrummt. Aber allein durch massiv sinkende Löhne kann Griechenland weder zum Exportland werden, noch wird z.B. die griechische Landwirtschaft konkurrenzfähig. Lediglich der Tourismus kann durch billigere Preise wachsen; hier steht dann Griechenland in Konkurrenz zu Slowenien, Kroatien, Montenegro und der Türkei. Offenkundig will die EU Griechenland in eine Art kontrollierte Depression drücken, an deren Endpunkt die griechischen Löhne konkurrenzfähig sind zu denen in Ex-Jugoslawien, Bulgarien und Albanien.

Aber das Problem lässt sich nicht auf Griechenland begrenzen. Flassbeck, ehemals rechte Hand des SPD-Finanzministers Lafontaine, nun Chefökonom der Unctad, weist zurecht daraufhin, dass "Lohnsenkungen in all diesen Ländern" direkt "in eine europäische Deflation" führen. Befürchtungen, die offenkundig der IWF teilt, der die BRD am 20. Mai vor einem "Turboschuldenabbau" warnte, und die beim Deutschlandbesuch des US-Finanzministers Geithner zu öffentlich ausgetragenem Streit führten. "Nach Meinung Washingtons könnten vor allem Deutschland und China mehr tun. Die Chinesen hätten [immerhin] erkannt, dass die Inlandsnachfrage gestärkt werden müsse." (Welt 27.5.2010)

Den G20-Finanzgipfel Ende Juni in Kanada könnten sie auch streichen: es wird zu keiner Einigung über das weitere Vorgehen kommen.

Die "Märkte" erschrecken über die Inflationsgefahren durch Klassenkämpfe, wenn nicht genug gespart wird, aber auch, wenn Sparpläne ernsthaft umgesetzt werden. Am 12. Mai stufte die Ratingagentur Moody's Griechenland nach Bekanntgabe der verschärften Sparpläne herunter, weil nun eine Rezession wahrscheinlicher geworden sei. Mit der expliziten Warnung, durch die Sparprogramme drohe Deflation, setzte die Ratingagentur Fitch am 28. Mai auch das Rating Spaniens herunter, somit wird die Kreditaufnahme für Spanien wegen der Sparprogramme teurer.

Der Grat, auf dem "kapitalistische Wirtschaftspolitik" wandelt, ist extrem schmal, und Ziele werden immer fiktiver. Die Umschuldung Argentiniens, die immer wieder als gelungener Ausweg gehandelt wird, kann jedenfalls nicht als Vorbild dienen: Erstens konnte Argentinien abwerten, was im Euroraum nicht geht, zweitens konnte es ab 2003 wieder durch Exporte wachsen, weil die Fed eine neue, noch viel größere Blase aufgepumpt hatte. Wachstum ist heute aber nirgends in Sicht. Der IWF geht davon aus, dass es in Griechenland zehn Jahre dauert, bis die "eingeschlagenen Reformen Früchte tragen". (Spiegel online 1.5.2010: "Marathonsanierung in Griechenland")


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Klassenkampf

Wenn schon das spanische Ritual "Generalstreik" oder eine symbolische Handlung wie das Verbot von ungedeckten Leerverkäufen durch die BRD-Regierung die "Märkte" in Panik versetzt, wenn also nicht mal mehr die üblichen politischen Ventile zum Dampfablassen zur Verfügung stehen, wie soll sich die Politik dann noch genug Zeit kaufen können, um die Ausbreitung des Flächenbrands zu stoppen? Nimmt dann nicht schon der "Pöbel" Einfluss auf die Geldpolitik?

Diese Angst spiegelt sich in den heftigen Debatten der Herrschenden über die Regulierung (vgl. das Holloway-Zitat in der Randspalte S. 61). Wir haben aber keinen Anlass, uns an solchen Debatten zu beteiligen und den Herrschenden womöglich Regulierungsratschläge zu geben! Wir nehmen mit Schmunzeln zur Kenntnis, dass die baden-württembergische CDU diesbezüglich Attac überholt, wenn sie fordert, die Bankergehälter zu deckeln, riskante Spekulationsgeschäfte zu verbieten und eine Finanztransaktionssteuer einzuführen. Auf welcher Seite man steht, lässt sich nicht daran erkennen, wie scharf man Credit Default Swaps kritisiert.

Die Krisenpolitik der Herrschenden setzt die erste Priorität auf die Rettung der Banken. Wenn wir das nur als moralisches Problem der "Bankerboni" thematisieren, verpassen wir den eigentlichen Kern: die Spaltung des Proletariats in Leute, die was "gespart" haben und Leute, die Hartz IV kriegen und gar nichts mehr sparen dürfen! "Für den schwäbischen Facharbeiter ist Hartz IV der Super-Gau" sagte der Geschäftsführer von Südwestmetall in einem aktuellen Dokumentarfilm zu den Auswirkungen der Krise. Derselbe (übrigens multinationale!) "schwäbische Facharbeiter" kann aber auch erkennen, dass es mehr Möglichkeiten als Maloche oder Hartz IV gibt. Aber linke Flugis, die bei Arbeitsplatzabbau sofort vor dem "tiefen Sturz auf Hartz IV" warnen und vom "Kampf ums nackte Überleben" faseln, verhindern solche Erkenntnisse.


"Überschwappen" der Kämpfe?

Die Kämpfe gegen die Krise haben weltweit deutlich zugenommen, konnten bislang aber in den Medien relativ leicht totgeschwiegen werden. Mit "Griechenland" änderte sich das. Anfang Mai stellte der Economist auf seinem Titel neben einem Bild von Straßenkrawallen in Athen die Frage: "Bald auch in Ihrer Nachbarschaft?" Das ist die eigentliche Dominotheorie: Werden sich die Kämpfe angesichts der scharfen Sparprogramme ausweiten? Die Frustration in Griechenland wächst - wird es zu breiten sozialen Unruhen jenseits der gewerkschaftlich kontrollierten Demos kommen? Das hätte in der gegenwärtigen Situation sofortige internationale Auswirkungen, wenn die Leute sich nicht nur "solidarisieren", sondern die Wut über ihre eigene Situation einbringen.

Am 19. Mai protestierten in der rumänischen Hauptstadt Bukarest 50.000 Menschen gegen die Kürzungs- und Sparpläne der Regierung, die ab dem 1. Juni die Löhne im Öffentlichen Dienst um 25 Prozent und die Renten und das Arbeitslosengeld um 15 Prozent kürzen will - damit der IWF die nächste Tranche auszahlt. Zu dieser Demo hatten die Gewerkschaften aufgerufen, die zudem mit einem "Generalstreik" am 31. Mai drohten. Auch wenn diese Bewegung bisher gewerkschaftlich kontrolliert ist - das Wissen, Teil einer internationalen Bewegung zu sein, kann Berge versetzen!

Trotz der ganzen Hetze der Bildzeitung und der meisten Politiker hat sich die Meinung der Leute in der BRD in Bezug auf "die Griechen" positiv gedreht, seitdem sie im Fernsehen Bilder von Demos und Straßenkämpfen gesehen haben. In den letzten Wochen hat es auch Schritte hin zu einem direkten Informations- und Erfahrungsaustauch gegeben.

Die Krise spult weiter ab; immer mehr Leute verstehen das alles immer besser, was vorher im Himmel von Politikern und Wirtschaftsexperten verhandelt wurde. Die Strukturen der EU, die EZB, die Höhe der Zinsen..., das alles wird immer deutlicher erkennbar als die andere Seite von Niedriglöhnen, Arbeitshetze und schlechtem Essen. Und die "ganz schwierigen ökonomischen Fragen" (kommt es zur Inflation oder zur Deflation?) entpuppen sich immer mehr als das Unwissen unserer Feinde, weil sie von der Entwicklung der Klassenkämpfe abhängen (lässt sich die Arbeiterklasse weitere Reallohnsenkungen reindrücken, kommt es zur Deflation; wehren sich die Leute in Griechenland gegen die Sparpläne und setzen die ArbeiterInnen in China Lohnerhöhungen durch, kommt es zur Inflation, höchstwahrscheinlich sogar zur Stagflation). Am Ende legt die Krise den Kern offen: Klassenkampf.

"It is happening in the usual slow motion in which great historical transitions occur. But as in military conflicts, each battle seems frenetic and spurs wild zigzagging on the world's stock and bond exchanges and currency markets."
(Michael Hudson: "Greece Today, us Tomorrow: The People versus the Bankers"; 11.5.2010)

Oder beschleunigt es sich Ende Mai bereits wieder? Tagelang herrschte Panik, weil in Spanien eine kleine Sparkasse, die 0,6 Prozent der Vermögenswerte des spanischen Finanzsystems hielt, verstaatlicht werden musste...


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Spanien

"Die Krise kann auch noch Spanien treffen. Und wenn das passiert, ist auch Großbritannien nicht sicher." (Rogoff)

Und Spanien ist ein ganz anderer Brocken. Das BIP ist viereinhalb Mal so groß wie das griechische, und Spanien hat sechsmal so hohe Schulden bei deutschen Banken wie Griechenland. Unter Berücksichtigung der Privatverschuldung ist Spanien nach Japan, Großbritannien und den USA das am stärksten verschuldete Industrieland, die Privatverbraucher sind hier mit 178 Prozent des BIP deutlich höher verschuldet als in anderen Ländern. Im ersten Quartal 2010 war jeder fünfte arbeitslos, doppelt so viele wie im EU-Durchschnitt. Mit 41 Prozent ist die Jugendarbeitslosigkeit noch dramatischer als in Griechenland. Die Krise hat mittlerweile jeden fünften unter die relative Armutsgrenze gedrückt. Ein Drittel der Haushalte ist mit unvorhergesehenen Ausgaben überfordert...

Die offizielle Geschichte zur Krise in Spanien wurde immer so erzählt: Spanien hatte eine schlimmere Immobilienblase als die USA. Die ist nun geplatzt, aber zum Glück ist Spaniens Finanzbranche äußerst stabil. Als aber im Mai im Zug der Eurokrise eine relativ unbedeutende Sparkasse gerettet werden musste, wurde neben zwei bereits bekannten Problemen ein drittes deutlich, das bisher unter den Teppich gekehrt worden war.

Bekannt waren die großen Schwierigkeiten der Sparkassen. Sie sind keine "richtigen Banken" sondern Stiftungen mit sozialpolitischen Verpflichtungen und regionalpolitischen Verstrickungen. Sie können keine Aktien ausgeben und haben nur beschränkte Möglichkeiten zur Rekapitalisierung. Bislang haben sie sich über Gewinne aus dem Kunden- und Kreditgeschäft finanziert. Sie stehen für 30 Prozent der gesamten Kreditvergabe (60 Prozent der Hypothekarkredite und 55 Prozent für Promotoren und Baufirmen) und sind häufig erst in der heißen Phase massiv ins Immobiliengeschäft eingestiegen, weshalb ihre Belastungen durch Kreditausfälle überdurchschnittlich hoch sind. In den letzten 25 Jahren haben die Banken ihr Personal von 175.000 auf 115.000 reduziert, während das der Sparkassen von 65.000 auf 135.000 gewachsen ist. Schätzungen gehen davon aus, dass 40.000 bis 70.000 Stellen gestrichen werden müssen, wovon man bis zu 25.000 über Frühverrentung abbauen könnte. Da die Kassen tief mit der parteipolitischen Landschaft verwoben sind, kamen diese Versuche lange Zeit kaum voran. Im letzten Jahr wurden bei den Banken 5125, bei den Sparkassen aber nur 2446 Arbeitsplätze abgebaut. Zentralbank und Regierung drängen die Sparkassen massiv, zu fusionieren und zu schrumpfen. Ein von der EU genehmigter Fonds (FROB) soll vor allem die Sozialpläne zum Personalabbau abfedern, er läuft allerdings Ende Juni aus.

Ebenfalls bereits bekannt war, dass die Anpassung (Deflation) des Immobilienmarkts sich in Spanien bisher deutlich langsamer vollzogen hatte als etwa in Irland, England oder auch den USA. Von Ende 2007 auf Ende 2009 sollen die Wohnungspreise lediglich um gut neun Prozent zurückgegangen sein. Mit dem Zerbröseln des Aktienbooms, der selbst nur ein weiterer Ausdruck der Blasenökonomie gewesen war, schwindet aber jede Hoffnung auf konjunkturelle Erholung, und im selben Maße duldet ein panischer Kapitalmarkt einen derartigen Deflationsstau einfach nicht mehr. Solange hier keine "Bodenbildung" absehbar ist (was in den USA auch noch nicht der Fall ist), tickt eine Zeitbombe.

Ende Mai schlug der IWF Alarm. In der Risikovorsorge für Immobilienkredite wendet Spanien eigene Regeln an, die auf historischen Marktbewertungen beruhen. Es sei äußerst fraglich, ob damit die schwerste Finanz- und Immobilienkrise seit dem Zweiten Weltkrieg richtig erfasst werde. Spanische Banken müssen zum Beispiel bei notleidenden Immobilienkrediten für Privathäuser in den ersten drei Jahren nur zwei Prozent der Kreditsumme als Risikovorsorge zurücklegen - in der BRD muss 90 Tage, nachdem ein Kredit nicht bedient wurde, Vorsorge gebildet werden. Die spanische Zentralbank hat umgehend die Anforderungen für Rückstellungen verschärft - die Banken müssen künftig ab einem Jahr Zahlungsverzug 100 Prozent des Werts der Immobilie vorhalten, allerdings mit Abschlägen auf eben diesen Wert. Der IWF nutzte die Aufdeckung dieser Zeitbombe gleich, um schnelle Fusionen im Bankbereich (kommunale Sparkassen sind den Neoliberalen durchgängig ein Dorn im Auge) und die Reformierung des Arbeitsmarkts zu fordern. Die Sparprogramme müssten entschiedener durchgesetzt, die Löhne gesenkt, das Renteneintrittsalter erhöht und die gewerkschaftliche Tarifmacht eingeschränkt werden. Das Kündigungsrecht sei zu flexibilisieren, die Abfindungskosten zu reduzieren (entgegen aller Gerüchte sind sie relativ niedriger als in der BRD; siehe Artikel in der Wildcat 83).

Es stimmt, dass es in Spanien stärker als sonstwo in der EU einen dualen Arbeitsmarkt gibt. Einstellungspolitik ist in vielen Betrieben völlig klientelhaft. Wenn du nicht schon nen Bekannten oder Verwandten im Betrieb hast, wird's schwer. Und Kündigungsschutzgesetze und das Tarifrecht beschützen noch stärker als anderswo die Betriebszugehörigkeitsdauer; da ist noch etwas von den paternalistischen Strukturen der Franco-Zeit, und die Gewerkschaften leben davon und haben hier ihre Basis.


Die besondere Rolle der Immobilienbranche

Seit dem Kriseneinbruch liefen alle Maßnahmen darauf hinaus, die Abschreibung der faulen Kredite abzufedern und die Immobilien- und Baubranche zu stützen, u.a. mit zwei großen Konjunkturspritzen (Straßenbau, Infrastruktur und kommunale Einrichtungen). Die Banken haben zudem Wohnungen von pleite gegangenen Promotoren und Privatkunden aufgekauft und sind damit selbst ins Immobiliengeschäft eingestiegen, um die Abschreibung hinauszuzögern. Banco Santander, die größte Bank, hat auf diese Art Immobilien im Wert von fünf Mrd. Euro "erworben".

Der Absturz der Hypothekenzinsen hat den Leuten geholfen und damit auch Druck rausgenommen, aber die Banken haben natürlich auch immer weniger Zinsen kassiert. Sie haben stattdessen den Eintagsfliegenboom am Aktienmarkt (+29,8 Prozent in 2009) benutzt, um frisches Kapital aufzunehmen. Die Sparkassen konnten da nicht mitmischen. Ihre verzweifelte Suche nach Spareinlagen hat zu höheren Zinsen auf Sparbüchern geführt, die die Gewinnspannen aus diesem Erbsenzählgeschäft minimierten. Der Anteil fauler Kredite wuchs langsam aber stetig. Bei einer Anhebung der Leitzinsen würden die Konkurse sprunghaft ansteigen. Aber durch die enge Bindung des Bankgeschäfts an das Immobiliengeschäft wird es über kurz oder lang sowieso zu massiven Kreditausfällen kommen. Laut Zentralbank haben die Geldhäuser Kredite in Höhe von 325 Mrd. Euro in der Baubranche ausstehen (davon 125 Mrd. für Grundstückskäufe).

Das Dilemma:

mindestens anderthalb Millionen leerstehende Neubauwohnungen zerstören jede Aussicht auf wirkliche "Bodenbildung" bei den Wohnungspreisen und auf "Normalisierung" der Baubranche;
eine hoch verschuldete Finanzbranche kann kaum weitere Kredite vergeben;
ein extrem verschuldeter Privatsektor kann nicht konsumieren;
ein gewaltiger Refinanzierungsbedarf, dessen Kosten exponentiell steigen;
ein seit kurzem sieh rasch verschuldender öffentlicher Sektor, der sparen muss und u.a. die Sozialausgaben zurückfahren wird. Der Gesamtschuldenstand von Spaniens Zentralregierung, den autonomen Regionen, Städten und Gemeinden sowie den Sozialversicherungen ist von 432 Mrd. im Jahr 2008 auf 560 Mrd. Euro im Jahr 2009 gewachsen. Bis zum Jahr 2013 muss nun aber fast dieselbe Summe, nämlich 550 Mrd. Euro, aufgenommen werden, um Staatsanleihen zu tilgen oder zu refinanzieren, sowie die neu auflaufenden Staatsdefizite abzudecken.

Kurz gesagt hat die Krise in Spanien stärker als sonstwo in der EU die Arbeitslosigkeit steigen lassen, aber der Angriff auf Einkommen und "Verkrustungen" konnte noch gar nicht stattfinden, weil zunächst die Stabilisierungsprogramme die totale Implosion verhindern sollten. Jetzt kommt die eigentliche "Mission" der Krise, die auf die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse zielt. (siehe dazu auch den England-Artikel S. 24) Auf wie schmalem Grat sie dabei wandern, lässt sich bereits daran ermessen, dass der IWF am 24. Mai die schnellere Umsetzung der Sparprogramme forderte und die Ratingagentur Fitch am 28. Mai, Freitag abends nach Börsenschluss in Europa, Spanien deswegen herabstufte, weil die Sparpläne die Aussichten auf Wachstum vermindern.

Am 27. Mai hatte der Oppositionsführer gesagt, sie hätten jetzt nur noch einen Top-Punkt auf ihrem Programm: Arbeitsplätze schaffen. Das ist deshalb amüsant, weil es genau das Problem in Spanien war: Arbeitsplätze für jeden Scheiß, um jeden Preis. Die Arbeitsmarktblase wird so schnell keiner mehr aufblasen!

"Investors are in the midst of a major de-risking period due to debt concerns in Europe and signs of a slowdown in China, and now that's accelerating" (Guardian, 20.5.2010)


Randnotiz

Promotoren sind eine typisch spanische Erfindung. Mit Expolitikern oder ausgesuchten Freunden eines Bürgermeisters an ihrer Spitze lassen sie im Auftrag der Kommune ein neues Baugebiet erschließen oder die für Straßenbau, Strom-, Gas- und Telefonleitungen notwendigen Gelder eintreiben; einen Teil davon dürfen sie als Provision behalten. Als Kreditgeber suchen sie sich meist Sparkassen aus...

Raute

Update CHINA

Die Euro-Krise verschärft Chinas Probleme

Chinas Wirtschaft wuchs im ersten Quartal 2010 um 11,9 Prozent, der gewaltige Handelsbilanzüberschuss ging zurück. Manche Kommentatoren malen bereits ein rosiges Bild und halten China als positives Beispiel hoch: dort werde in erneuerbare Energie und Eisenbahnen investiert, statt mit unsinnigen Abwrackprämien veraltete Industriebranchen zu stützen. In der Tat wird beispielsweise ein Hochgeschwindigkeits-Bahnnetz ausgebaut, das größte aller kreditfinanzierten Projekte. Aber es wird wohl kaum genügend Kunden geben, die sich den Schnellzug leisten können - und die wirkliche Verschuldung des chinesischen Staates ist viel höher, als offizielle Zahlen weismachen. Der kurzfristige Rückgang des Handelsbilanzüberschusses geht weitgehend auf gestiegene (und regierungsfinanzierte!) Importe von deutlich teurer gewordenen Rohstoffen zurück. Langfristig werden aber die chinesischen Exporte aufgrund der sinkenden globalen Nachfrage zurückgehen. Das chinesische Regime versucht mit Regierungsgeldern, die Wirtschaft vor dem Einbruch zu retten, und steht gleichzeitig vor der Anforderung, Liquidität aus dem System zu ziehen. Letzteres ist dringend notwendig, um eine Inflation und ein weiteres Wachstum von Blasen zu verhindern, deren Platzen an allen Ecken droht. Im Kampf gegen die Krise war in China die Kreditvergabe in einem Tempo hochgefahren worden, das es im Kapitalismus noch nie gegeben hatte. Damit wird aber vor allem spekuliert, weil das viele Geld gar nicht produktiv angelegt werden kann: Überinvestition und Unterkonsumtion bei hauchdünnen Profitmargen.

Bremsmaßnahmen beschneiden diese Profite noch weiter, gefährden damit das Wachstum - und provozieren womöglich Börsencrashs, weil die Nervosität bereits sehr groß ist. Ministerpräsident Wen Jiabao hat schon verkündet, angesichts der Eurokrise mit solchen Maßnahmen vorsichtig zu sein - prompt stiegen die Aktienkurse. Was kann die Regierung also tun, um die Überhitzung zu bremsen? Die realen Zinsen liegen sehr niedrig, können aber nicht erhöht werden, weil sonst noch mehr hot money ins Land fließen und die Spekulation an den Börsen und auf dem Immobilienmarkt weiter anheizen würde.

Eine Aufwertung des Yuan würde zwar die ohnehin prekäre Lage der Exportwirtschaft verschärfen, sie könnte aber die Blasenbildung bremsen, Importe verbilligen und die Nachfrage im Land stärken. Die USA fordern eine solche Aufwertung seit langem, mittlerweile haben sich auch die Handelspartner in Asien (Indien!) und Afrika angeschlossen. Es war klar, dass China über kurz oder lang aufwerten würde - allerdings weniger als von den USA gefordert. Im März wurden über 1000 Unternehmen aus zwölf Branchen daraufhin untersucht, welche Auswirkungen eine Aufwertung der Währung auf sie hätte. Aber dann kam die "Eurokrise". Der Yuan ist in den vergangenen vier Monaten um 14,5 Prozent zum Euro gestiegen, chinesische Waren werden in Europa teurer, und die Eurozone ist der größte Absatzmarkt Chinas!

Zudem hatte China einen Teil seiner Währungsreserven von Dollar in Euro umgeschichtet. Die FAZ berichtete Mitte Mai, durch den Wertverlust des Euro habe China ca. 80 Mrd. Dollar verloren - das entspricht dem Jahreseinkommen von 80 Mio. ArbeiterInnen. Berichte, dass China sich nach anderen Anlagemöglichkeiten umsehe, wurden eilig dementiert, um weitere Kursstürze zu verhindern.


Wo bleibt die Zeit fürs Rebalancing?

Im Kapitel "Rebalancing" seines aktuellen Berichts zur Weltwirtschaft nimmt der IWF die Überschussländer China und Deutschland regelrecht an der Hand. Mehrere Länder werden angeführt, die ihren Handelsbilanzüberschuss abgebaut haben, ohne dass dies zu weniger Wachstum geführt habe. Auch die Beschäftigung sei nur in der Produktion, nicht aber insgesamt zurückgegangen. Und dann wendet sich der IWF direkt an China - ohne es beim Namen zu nennen: Eine Währungsaufwertung habe das Wachstum zwar verlangsamt, das könne aber durch die Stimulation der Binnennachfrage ausgeglichen werden. In einigen Fällen sei die Entwicklung einer höherwertigen Produktion gelungen. Dazu sei die Liberalisierung des Handels und eine Restrukturierung in Richtung "Dienstleistungen" vonnöten. Gefährlich sei hingegen eine zu expansive Geldpolitik, die Inflation und Blasenbildung mit sich brächte.

Aber das chinesische Regime kennt die Geschichte: Japan hat in einer ähnlichen Situation mit dem Plaza-Abkommen von 1985 dem Druck nachgegeben und seine Währung aufgewertet. Den USA hat das nur kurzfristig genützt, Japan hat es bisher zweieinhalb Jahrzehnte Stagnation gebracht.

Obwohl "Griechenland-" bzw. die "Eurokrise" schon wie eine Aufwertung des Yuan wirkt, werden die globalen Ungleichgewichte größer. Die Spar- und Deflationspolitik, die die EU den südeuropäischen Ländern verordnet hat, führt dazu, dass diese weniger (chinesische) Waren auf dem Weltmarkt kaufen. Bisher hat sich die Handelsbilanz der EU-Länder insgesamt ungefähr ausgeglichen: 26 Prozent der Handelsbilanzdefizite (weit hinter den USA) wogen knapp 30 Prozent der globalen Handelsbilanzüberschüsse (fast so viel wie China und Hongkong zusammen) fast auf Nun steigen die Überschüsse sogar noch (siehe die Entwicklung der BRD-Wirtschaft), die Defizite fallen aber weg. Von wegen Rebalancing! Mit der verschärften Konkurrenz um Absatzmärkte drohen Handelskriege und protektionistische Maßnahmen, die weiter zum Rückgang der Weltwirtschaft beitragen und Chinas Exporte hart treffen würden.

Das Zeitfenster für eine "Anpassung" Chinas wird somit extrem eng. Ob aber in dieser Situation eine (weitere) Aufwertung überhaupt richtig ist, darüber wird in China scharf gestritten. Denn es gibt ja auch noch innenpolitische Probleme, Überhitzung der Wirtschaft, Immobilienblasen, ein überschuldetes, marodes Bankensystem, Probleme mit der Arbeiterklasse...


Immobilienblase

Die Immobilienblase wird immer praller. Die Immobilienpreise stiegen im Februar und März stark, laut chinesischem Statistikbüro um 12,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, auf der Urlaubsinsel Hainan stiegen die Preise im vergangenen Jahr um 50 Prozent. Land ist inzwischen so teuer, dass nur noch staatliche Unternehmen kaufen. Der Handel damit ist zu einer Transferkette zwischen unterschiedlichen Abteilungen des Staates geworden, staatliche Banken leihen staatlichen Unternehmen Geld, damit diese Land vom Staat kaufen.

Da ein guter Teil des Wirtschaftswachstums - bis zu 60 Prozent- auf die Immobilien- und Baubranche zurückgeht, sind scharfe Eingriffe der Regierung hochriskant (die Zinserhöhungen der US-Notenbank haben schließlich vor vier Jahren die subprime- und Finanzkrise getriggert!). Schon länger fährt sie deshalb eine Stop-and-Go Politik, um zwischen "Anfeuern" und "Überhitzung" zu balancieren. Im Moment ergreift sie einige regulatorische Maßnahmen, um die Spekulation und ein weiteres Steigen der Preise einzudämmen. Im April wurden die Anzahlungen bei Immobilienkäufen und die Zinsen für Zweitwohnungen erhöht. Die Kreditvergabe für Immobilien soll stärker kontrolliert werden. Die Immobilienpreise sind in Reaktion darauf Ende April bereits gefallen.


Banken und Kredit

Die Geldpolitik der Zentralbank wird schrittweise restriktiver. Sie hat die Mindestreserve erhöht, die Banken halten müssen. Im Vergleich zu Zinserhöhungen ist das ein behutsamer Schritt, um Geld aus dem Umlauf zu ziehen. Trotzdem ist er nicht ohne: Die Banken müssen ihr Kapital in diesem Jahr viermal so stark erhöhen wie geplant, ohne zu wissen, wie sie es auftreiben sollen. Denn wegen einer Masse fauler Kredite, die bereits seit Jahrzehnten verlängert werden, und solchen, die aufgrund der lockeren Geldpolitik im Rahmen der Krisenbekämpfung noch fällig werden, stehen die chinesischen Banken sowieso schon mit einem Bein im Grab. Sie sind an den Börsen stark überbewertet, westliche Anleger werden ihre Anteile schnell zurückziehen, wenn diese Probleme an die Oberfläche kommen.

Der Chef der großen Bank ICBC, Yang, fordert bereits die Zulassung von "kreditbesicherten Wertpapieren", also genau der "Junkbonds", die das Kreditrisiko breit streuen und so zur Ausweitung der weltweiten Finanzkrise beigetragen haben.


Arbeitskräftemangel

In den Sonderwirtschaftszonen fehlen bereits wieder Arbeitskräfte, nach dem Frühjahrsfest sind in diesem Jahr weniger Wanderarbeiter zurückgekehrt als sonst. Die Anziehungskraft dieser Zentren hat nachgelassen, die Leute wandern nicht mehr so weit, gehen in nähere Provinzstädte. Dort sind die Löhne inzwischen nicht mehr viel niedriger als in den Küstenregionen, der Unterschied wird durch geringere Lebenshaltungskosten ausgeglichen. In den zentralen Provinzen gibt es im Moment mehr Jobs aufgrund der regierungsfinanzierten Infrastrukturprojekte, und auch weil bereits viele Betriebe aus den Küstenregionen auf der Suche nach günstigerer Arbeitskraft dorthin abgewandert sind. Die Sonderwirtschaftszonen könnten nur mit höheren Löhnen mehr ArbeiterInnen anziehen. Die können aber bei der bestehenden Industriestruktur nicht gezahlt werden, weil viele Exportbetriebe mit sehr geringen Profitraten von höchstens zwei, zum Teil unter einem Prozent operieren. Die Preise können sie andererseits kaum erhöhen, weil sie in einem stark umkämpften Markt tätig sind. Manche Betriebe haben in letzter Zeit draufgelegt, um überhaupt ihre Kunden zu halten.

"Meine Großeltern waren Bauern, meine Mutter hat am Fließband gestanden, beides möchte ich nicht", sagt die 25 Jahre alte Jian Fengjuan aus der Provinz Hunan.
(Aus einem Artikel von Anfang März zur Arbeitskräfteknappheit in den chinesischen Exportzonen)

In die Produktionszonen an der Küste zu gehen, lohnt sich nur noch, wenn man einen richtig guten Job kriegt. Fabrikarbeiterin zu sein reicht kaum noch, um die steigenden Lebensmittelpreise und Lebenshaltungskosten zu tragen. Die neue Generation der WanderarbeiterInnen hat höhere Ansprüche als die Eltern, ist selbstbewusster und mobiler, weiter weg vom Landleben: "Was an mir sieht denn aus wie ein Bauer?", sagt einer von ihnen. Vermehrt wird berichtet, dass junge Leute nicht mehr in Fabriken arbeiten wollen, dass ihre Eltern versuchen, ihnen eine Ausbildung zu ermöglichen. In Shenzen sind die Jobmessen für FabrikarbeiterInnen schlecht, die für Fachkräfte der Autoindustrie sehr gut besucht. Die besser Ausgebildeten haben allerdings Schwierigkeiten,Jobs zu finden. Die viel beschworene "Mittelklasse" hat kaum am Wachstum teil, die steigenden Wohnungskosten drücken auf den Konsum, ein Makler oder eine Bankangestellte kann sich oft keine Wohnung in Peking leisten. Die Konsumausgaben steigen zwar - aber es ist unklar, wieviel davon auf kurzfristige Konjunkturmaßnahmen und Ausgaben der Regierung zurückgeht.

Im Frühjahr wurden in verschiedenen Provinzen Mindestlohnerhöhungen beschlossen, durchschnittlich 20 Prozent in der Provinz Guangdong, 13 Prozent in Jiangsu, 24,5 Prozent in der Provinz Fujian im Osten. Die tatsächlich gezahlten Löhne liegen oft darüber. Es wird mit einer durchschnittlich sechs- bis achtprozentigen Erhöhung der Reallöhne in diesem Jahr gerechnet. Nachdem mit der Krise anfangs Lohnsenkungen durchgesetzt werden konnten, scheinen die Löhne damit zurück auf Vorkrisenniveau zu sein. Im Mai erregte ein wilder Streik bei einem Zulieferbetrieb von Honda Aufsehen. Die über 1800 ArbeiterInnen fordern angeblich, dass ihre Löhne von 1500 Yuan auf 2000-2500 Yuan und damit das Niveau der Honda-ArbeiterInnen angehoben werden. Honda musste mangels Teilen seine vier chinesischen Fabriken anhalten - das erste Mal hat ein Streik in China einen multinationalen Konzern derart zum Stillstand gebracht. Beim riesigen Elektronikkonzern Foxconn führte eine Selbstmordserie von ArbeiterInnen zur Ankündigung von zwanzigprozentigen Lohnerhöhungen.

Bisher sind aber die Lohnerhöhungen noch nicht so groß, dass sie eine starke inflationäre Wirkung hätten. Trotzdem steigen die Preise, im April um 2,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr, und damit am stärksten seit 18 Monaten. Die Regierung hatte beim Volkskongress im März angekündigt, dass die Teuerung drei Prozent nicht übersteigen solle. Es ist fraglich, ob ihr das gelingt. Auch hier steht das Regime vor einer Gratwanderung: Wenn sie gegen die Inflation die Zinsen erhöhen, locken sie nicht nur mehr hot money ins Land (s.o.), sie würgen auch das Wirtschaftswachstum ab und bringen eine Vielzahl von Krediten zum Platzen. Aber Inflation bedroht den "sozialen Frieden", wer kaum was verdient, kann und will nicht auch noch steigende Preise verkraften - das haben die chinesischen ArbeiterInnen in der Vergangenheit schon öfter demonstriert.

In a country where inflation and social unrest are historically linked, that statistic cannot be ignored by China's leaders. On several occasions in the past, rising food prices in China have led to political problems for the government. Inflation in 1988 is thought to have contributed to the demonstrations in Beijing's Tiananmen Square the following year. (BBC 2007)

"Im Westen" wiederum hat man Angst davor, dass in China die Löhne zu schnell steigen, oder die Regierung zu viel Geld ausgibt, um den "sozialen Frieden" zu erhalten. Dann würde die Inflation "aus den Schwellenländern hierher überschwappen". So oder so steckt dahinter die Angst vor der chinesischen Arbeiterklasse.

Raute

"Sparen um zu gestalten" - Die Krise in Wuppertal

Die deutschen Städte und Gemeinden stehen vor einem Finanzdesaster. Städtetagspräsidentin Roth warnte Mitte Mai vor einem "riesigen Defizit, doppelt so groß wie der bisherige Negativrekord". Ebenfalls Mitte Mai kam eine Studie zu dem Ergebnis, dass viele Krankenhäuser aufgrund der kommunalen Schulden in den kommenden Jahren geschlossen oder verkauft werden. Wegen sinkender Steuereinnahmen könnten immer weniger Kommunen die Defizite ihrer Krankenhäuser ausgleichen.

Im Vergleich zum (lokalen) Bruttosozialprodukt sind z.B. Berlin, Bremen oder Sachsen-Anhalt vier- bis sechsmal so stark verschuldet wie das "bankrotte" Kalifornien. Allein in NRW stehen 19 Kommunen vor dem Konkurs, u.a. Bochum, Dortmund, Essen und Duisburg. Dass Wuppertal in der bürgerlichen Presse als Paradebeispiel genommen wird, liegt vor allem an den öffentlichkeitswirksam vorgestellten Sparvorschlägen des Oberbürgermeisters unter dem Motto "sparen um zu gestalten". Darin schlug er auch die Schließung des Theaters vor. Seitdem ist die Aufregung groß...

Tatsächlich ist Wuppertal von der Krise deutlich getroffen. Die städtischen Einnahmen sind 2009 vor allem durch den Einbruch der Gewerbesteuer um etwa 100 Mio. Euro zurückgegangen, was den Haushalt in ein Minus von 220 Mio. Euro gestürzt hat. Für 2010 wird das Defizit auf 252 Mio. Euro geschätzt. Die strukturellen Gründe sind dieselben wie bei anderen NRW-Städten: Industrie wanderte ab, die Aufwendungen für die knapp 46.000 ALG II-EmpfängerInnen betragen jährlich fast 80 Mio. Euro, bei sinkenden Einwohnerzahlen. Aktuell ist die Stadt mit etwa 1,8 Mrd. Euro verschuldet, von denen 1,4 Mrd. Euro Kassenkredite sind, bis Ende des Jahres wird die 2 Mrd. Euro-Grenze überschritten, und 2011 ist wohl das Eigenkapital aufgebraucht.

Inzwischen wurden die Haushalte von 19 Städten unter die Aufsicht der jeweiligen Bezirksregierung gestellt. Diese haben sich zum Bündnis "Raus aus den Schulden" zusammengeschlossen, um mehr Geld und Hilfe von Bund und Land zur Entschuldung zu fordern.


Sparen

In Wuppertal sollen neben dem Theater fünf Schulen, Bibliotheken, Schwimm- und Freibäder geschlossen werden. Die Beiträge für Kindertagesstätten, Hunde- und Vergnügenssteuer, Karten für Oper, Konzerte, Schwimmbäder und den Zoo wurden bereits erhöht. Die Öffnungszeiten vieler öffentlicher Einrichtungen verkürzt (Personalabbau). Viele städtische Einrichtungen sollen zusammengelegt werden, teilweise mit den Nachbarstädten Solingen und Remscheid, wie z.B. Feuerleitwarten und Volkshochschulen. Weiteres städtisches Eigentum wird privatisiert. Insgesamt sollen so bis 2014 216 Mio. Euro eingespart werden, davon 80 in den nächsten zwei Jahren. Beschlossen sind bisher nur die 47 Mio. Euro, die unstrittig waren oder keinen Ratsbeschluss brauchen. Der Rest soll nun nach der Landtagswahl angegangen werden.

Überhaupt setzt sich die Politik der Kürzungen und des finanziellen Aushungerns der Städte mit den Sparprogrammen seit Kriseneinbruch nur fort. Die Steuerpolitik der letzten Bundesregierungen hat die Finanzen der Kommunen immer weiter belastet, und das auch bewusst. Diese von oben aufgedrückte Sparpolitik erlaubte der Kommunalpolitik, ihre Verantwortung bei sozialen Einschnitten von sich abzuwälzen ("Es gab keine andere Wahl"), ohne dass erstmal jemand anders verantwortlich zu machen ist. Auch sollen "die Bürgerinnen" über die Sparmaßnahmen "mitbestimmen" und "selber entscheiden", wo gekürzt werden soll. In Wuppertal müssen z.B. die bisher unterstützten Initiativen gegeneinander um weitere Förderung konkurrieren, weil die Stadt beschlossen hat, eine Initiative entweder ganz oder gar nicht zu kürzen.


Widerstand?

Erstaunlicherweise kommt es erst jetzt zu irgendeinem merkbaren Widerstand gegen die städtische Politik. Immerhin ist es das zehnte Wuppertaler Sparpaket der letzten Jahre - allerdings das massivste. Es gibt zwei Protestorganisationen: Wuppertal wehrt sich, die die Kommunalpolitik in ihrem Kampf gegen die "falsche" Landes- und Bundespolitik unterstützen und Wuppertal "produktiv mitgestalten" will. Und Basta Wuppertal, die ihre Forderungen gegen die Kommunalpolitik durchsetzen will. Dazu wollen sie eine Gegenöffentlichkeit zu den lokalen Medien schaffen und sich gemeinsam organisieren und handeln. Vorbilder sind für sie Stadtteilinitiativen in Hamburg und das gemeinsame Handeln verschiedener Gruppen bei der Blockade des Naziaufmarschs in Dresden.

Mal sehn, ob diese Widerstandversuche wirklich eigene Stärke entwickeln, oder nach ihren ersten Aktionen wieder einschlafen.


Randnotiz

Kassenkredite dienten ursprünglich zur schnellen Finanzierung und sollten möglichst im Haushaltsjahr zurückgezahlt werden. Mittlerweile haben sie sich zum Hauptmittel der Schuldenaufnahme von Kommunen entwickelt, weil kurzfristige Kredite niedriger verzinst sind als langfristige; gerade für topgeratete Städte wie Wuppertal. Wenn die Zinsen aber steigen oder das Rating der Städte sinken sollte, würde sich die Lage dramatisch weiter verschlechtern. (Bereits 2009 zahlte Wuppertal fast so viel Zinsen, wie es für Hartz IV ausgab!)

Raute

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Quelle:
Wildcat 87 - Sommer 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juni 2010