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WILDCAT/038: Die Bewegung der Jasic-Arbeiter und ihrer Unterstützerinnen


Wildcat 102 - Herbst 2018

Die Bewegung der Jasic-Arbeiter und ihrer Unterstützerinnen

Wanderarbeiter im chinesischen Shenzhen kämpfen für eine eigene Gewerkschaft


Am Nachmittag des 21. Juli, kurz nachdem die am Vortag verhafteten Arbeiter und Arbeiterinnen von Jasic wieder frei waren, postete Mi Jiuping: "... die Sache ist noch nicht zu Ende. Denn wir, die eine Gewerkschaftsgruppe gründen wollen, werden zusammengeschlagen, verleumdet, an uns wird Rache geübt, auf uns werden Schläger gehetzt und wir werden abgeführt, all das ist noch nicht geklärt. Wir werden weiter aktiv und gemeinsam gegen diese Angriffe kämpfen und wir hoffen, dass mehr und mehr Online-Freunde und Arbeiterbrüder und -schwestern uns dabei unterstützen."

Die Bewegung der Jasic-Arbeiter und ihrer Unterstützerinnen ist zu einem der wichtigsten Kämpfe der letzten Jahre gegen schlechte Löhne, miese Behandlung von Arbeitern und Polizeirepression geworden. Aufgrund der Unerschrockenheit der Arbeiter, der breiten Unterstützung in China und der Dauer der Auseinandersetzungen seit Mitte Juli wurden sie zu einem Sammelpunkt verschiedener Unmutsäußerungen von anderen Arbeiterinnen in Shenzhen, linksmaoistischen Studierenden, Arbeiteraktivisten, Feministinnen, den Kämpfen um Entschädigung von Staublungenerkrankten bis hin zu Altmaoisten, die die kapitalistischen Reformen als Revisionismus verurteilen. Bis Anfang September wurden rund 100 Arbeiterinnen und Unterstützer verhaftet und etwa 1000 oder sogar weit mehr von verschiedenen Behörden verhört und bedroht. Mi Jiuping hätte kaum hoffen können, dass die Unterstützung so breit werden würde.

Die Anfänge

Das Unternehmen Jasic Technology produziert seit 2005 Schweißgeräte in Shenzhen, darunter mobile, tragbare und industrielle Schweißmaschinen. Im Werk in Shenzhen arbeiten etwa 1200 Leute, daneben gibt es in den inländischen Industriezentren Chengdu und Chongqing noch zwei weitere Standorte. 2017 wurde ein Gewinn von ca. 20 Millionen Euro ausgewiesen, ein Zuwachs um 42 Prozent gegenüber 2016. Die Auseinandersetzungen bei Jasic begannen spätestens im Juli 2017, als sich Yu Juncong und zehn weitere Arbeiter und Arbeiterinnen beim staatlichen Bezirkspersonalbüro über die willkürliche Festlegung von Überstunden und freien Tagen beschwerten. Je nach Auftragslage ließ das Management entweder bis zu zwölf Stunden täglich ohne freie Tage durcharbeiten oder setzte unbezahlte freie Tage fest. Zur Strafe für diesen Beschwerdegang wurden Yu und anderen daraufhin für zwei Monate die Überstunden ganz gestrichen, was ihre Löhne auf deutlich unter 2000 Yuan fallen ließ. Der Mindestlohn in Shenzhen, einer der höchsten in China, lag 2017 bei 2130 Yuan, was für eine einzelne Person gerade eben zum Überleben reicht, aber bei Weitem nicht genügt, eigene Kinder oder andere Familienangehörige zu ernähren.

Yu meint rückblickend, dass die Willkür des Managements und besonders krasse Lohnabzüge nach der Beschwerde weniger geworden seien. Obwohl viele Kollegen glaubten, dass Widerstand zwecklos sei, sieht er das Gegenteil bewiesen.

Aber im März 2018 lässt das Management den ganzen Monat täglich zwölf Stunden ohne freie Tage durcharbeiten. Als Krönung sollte es am Ende einen halben Ruhetag geben, allerdings müssen alle am Vormittag an einem zehn-Kilometer-Firmenlauf teilnehmen. Yu hat die Verärgerung darüber in der betriebsinternen Chatgruppe ausgedrückt. Zur Strafe wurden ihm wieder keine Überstunden gewährt und er wurde zum Putzen abgestellt.

Ungefähr zeitgleich erfindet das Management 18 Verbote, mit denen Lohnabzüge und fristlose Kündigungen gerechtfertigt werden sollen. Wer die Klimaanlage unter 26 Grad regelt, das Lichtausschalten nach Feierabend vergisst oder während der Arbeitszeit das Handy benutzt, soll mit 200 Yuan beim ersten, 300 Yuan beim zweiten und fristloser Kündigung beim dritten Mal bestraft werden. Für Drängeln in der Kantine, Fallenlassen von Müll oder Heimkehr ins Wohnheim nach Mitternacht werden 100 Yuan, bzw. 200, 300 und beim vierten Mal fristlose Entlassung angesetzt.

Mi Jiuping und andere Arbeiterinnen von Jasic beschweren sich deshalb erneut beim Bezirkspersonalbüro, wo man zunächst unterstützend reagiert und meint, die "18 Verbote" seien natürlich rechtswidrig. Aber es gibt erstmal keine Abhilfe, stattdessen denunziert ein Jasic-Personalmanager Yu in der Betriebschatgruppe als Unruhestifter. Yu beantragt daraufhin am 3. Mai ein Schlichtungsverfahren beim Bezirkspersonalbüro, aber die machen erstmal nichts. Ein paar Tage darauf wird Yu von einem Vorgesetzten das Handy aus der Hand geschlagen, er selber wird verletzt.

Gewerkschaftsgründung

Am 10. Mai wenden sich Mi und 27 weitere Kollegen erneut an das öffentliche Personalbüro und an das Bezirksbüro des Allchinesischen Gewerkschaftsverbands (ACFTU). Letzterer drückt explizit seine Unterstützung für die Gründung einer Betriebsgewerkschaft aus. Abends erhält Yu die fristlose Kündigung wegen Fehltagen, obwohl er im genehmigten Urlaub war. Auch die Polizei schaltet sich ein und beginnt Arbeiterinnen vorzuladen. Am 7. Juni stellen Mi und Kollegen dann den Antrag auf Gewerkschaftsgründung bei der örtlichen ACFTU, die aber die Zustimmung des Unternehmens oder mindestens 100 Unterschriften sehen will. Am 22. Juni bitten Mi und andere um das OK vom Management, das aber - für sie wenig überraschend - ablehnt. Sie erkundigen sich auch bei der ACFTU, was sie tun können, wenn das Management Rache übt und sie kündigt - was nicht lange auf sich warten lässt.

Die Sache wird ernst, als die Arbeiter um den 10. Juli herum innerhalb kurzer Zeit 89 Unterschriften von Kolleginnen einsammeln. Das Management versucht daraufhin, Arbeiter zum Rückzug ihrer Unterschriften zu zwingen, und auch die Bezirksstelle der ACFTU behauptet plötzlich, nichts mit der Gründung einer Betriebsgruppe zu tun zu haben und sie auch nicht unterstützen zu wollen. In den folgenden Tagen nehmen die gewaltsamen Übergriffe auf Arbeiterinnen zu, es hagelt Entlassungen, und die ersten Arbeiter werden von den Bullen auf die Wache geschleppt.

Am 20. Juli, als die Entlassenen morgens wie üblich an ihren Arbeitsplatz gehen wollen, kommt es zu Auseinandersetzungen mit dem Wachschutz und der Polizei. Arbeiterinnen werden auf die Wache mitgenommen, und als am Nachmittag etwa 20 Arbeiter von Jasic und anderen Betrieben vor der Wache für ihre Freilassung demonstrieren, werden sie von vollbewaffneten Bullen gekesselt, geschlagen und abgeführt. Dies wird später als "20. Juli-Pingshan-Vorfall" bekannt.

Solidaritätsbewegung

Die Nachricht vom Pingshan-Vorfall verbreitet sich schnell und weitere Unterstützer fahren nach Shenzhen und rufen zur Solidarität auf. Shen Mengyu spielt für die Entstehung einer Solidaritätsgruppe eine zentrale Rolle. Sie hatte sich nach dem Abschluss eines Ingenieursstudiums an der angesehenen Sun Yat-Sen Universität entschieden, als Arbeiterin in einer Autofabrik in Guangzhou zu arbeiten, um mit Arbeitern gemeinsam deren Lage zu verbessern. Im Frühsommer wurde sie von Kolleginnen zur Sprecherin gewählt, und da sie sich nicht vom Management kaufen lassen wollte, wurde sie gefeuert. Sie und andere beginnen regelmäßige Proteste vor der Polizeiwache.

In den folgenden Tagen versuchen die Entlassenen jeden Tag aufs Neue, wieder zur Arbeit zu gehen, werden aber jedes Mal von Wachleuten, Managern und Bullen abgehalten. Am 27. Juli eskalieren die Bullen und verhaften über 20 Arbeiterinnen und einige Unterstützer. In der Folge wachsen die Unterstützungsaufrufe rasch an, mehr und mehr junge Aktivisten kommen nach Shenzhen, die Solidaritätsgruppe wächst auf über 50 Leute an und organisiert täglich Protestkundgebungen, Straßentheater und vieles mehr. Studierendengruppen von fast 20 Unis schicken Solidaritätsaufrufe, organisieren eigene Proteste oder fahren nach Shenzhen.

Repression

Das Management und die Polizei reagieren fast durchgängig repressiv. Die Manager setzten zunächst auf die üblichen Bestrafungen wie Verweigerung von Überstunden, Putzen usw., prangern aber auch direkt Arbeiterinnen im betriebseigenen Chat an. Es folgen körperliche Gewalt durch den Wachschutz, Werkleiter und Schlägertrupps sowie Entlassungen. Als die Entlassenen wiederholt versuchen, morgens wie üblich zur Arbeit zu gehen, verkleiden sich Manager und Teamleiter als einfache Arbeiter und imitieren eine Kundgebung "Zerstörer haut ab!", als würden normale Arbeiter gewaltsam ihren Kolleginnen entgegentreten, um die Firma zu verteidigen.

Den Gewerkschaftsgründern werden keine Angebote gemacht, und die Unterzeichner des Gründungsantrags werden ebenfalls mit Verweigerung von Überstunden bedroht. Ansonsten gibt es eine Einladung ins Restaurant und diverse Ansprachen auf dem Fabrikhof für die Belegschaft. Das einzige Abweichen von der Strategie der Härte ist die Hals über Kopf gestartete Gründung einer Betriebsgewerkschaft durch Manager - an sich keine Seltenheit in größeren chinesischen Betrieben, bei denen dann oft die betrieblichen Gewerkschaftsvorstände die Chefs der Personalabteilung sind.

Die Repression durch die Bullen steigerte sich Schritt für Schritt. Bereits im Mai mischten sich die örtlichen Bullen mit Vorladungen zur Feststellung von Personalien ein. Die ersten Verhafteten vom 20. Juli wurden am Tag danach entlassen, am 27. aber erneut verhaftet und für Wochen in Gewahrsam genommen; Anfang September wurden vier sogar der Strafjustiz überstellt. Gegen die Proteste vor der Wache wurden Schlägertrupps und Zivilpolizisten eingesetzt, außerdem jede Menge Verfolgungen und Belästigungen auf offener Straße. Ende Juli konnte die Solidaritätsgruppe zwei Spitzel aufdecken, die offenbar sehr schnell zur Stelle gewesen waren. Außerdem unterhielten Polizeispitzel ein Zelt mit Jobangeboten auf der Straße gegenüber der Unterstützerinnenwohnung. Mit der Solidaritätsgruppe war die örtliche Polizei sicherlich überfordert. Der Vermieter wurde erpresst, der Soligruppe die Wohnung zu kündigen; das ist eine übliche Taktik. Am 11. August wurde Shen Mengyu vom nationalen Sicherheitsbüro entführt, Mitte August kam es auch in Beijing zu Razzien und Verhaftungen, und am 24. August wurde eine Razzia gegen eine Solidaritätsgruppe von Spezialeinheiten der Provinzpolizei durchgeführt.

Wie konnten die Arbeiter bei Jasic so lange durchhalten?

Das Entscheidende war, dass eine Gruppe von Arbeiterinnen die Missstände gemeinsam angehen wollte, statt individuell den Job zu wechseln. Diese Gruppe ist sehr systematisch und umsichtig mit guter Kenntnis der Rechtslage und unerschrocken vorgegangen. Sie haben stets darauf geachtet, graduell zu eskalieren, sich stets an die jeweils - rechtlich - Zuständigen zu wenden und nichts Illegales zu unternehmen. Und sie sind davon ausgegangen, dass das (Arbeits-)Recht und die Verfassung auf ihrer Seite sind.

Unter den unzähligen Solidaritätsbriefen der letzten zwei Monate finden sich auch solche von Arbeiterfreunden und -kolleginnen, die ihre Begegnungen mit den verhafteten Arbeitern beschreiben. Die Briefe berichten sowohl von der Gewalt, die Wanderarbeiterinnen, gerade auch außerhalb der Betriebe im Alltag erfahren, und von alltäglicher, gegenseitiger Hilfe und Widerstand gegen Bullen. Sehr viele wurden von Arbeitsvermittlern um beträchtliche Summen betrogen, als sie nach Shenzhen kamen, und mussten deswegen auf der Straße schlafen. Ein Arbeiter berichtet, wie sie einem Kollegen beim Umzug halfen, weil dieser kurzfristig aus der Wohnung geworfen wurde. Weil ihr Umzugsfahrzeug, ein geliehenes Elektrodreirad, eine Straße versperrte und nicht sofort beiseite gefahren werden konnte, erregte sich ein BMW-Fahrer und schlug sie mit einem Vorhängeschloss, so dass einer ins Krankenhaus musste. Der Gewalttäter ist Chef einer Werkschutztruppe und wurde vom hinzueilenden Polizisten natürlich nicht belangt. Ein anderer Brief schildert, wie eine ebenfalls verhaftete Arbeiterin auf dem morgendlichen Arbeitsweg sieht, wie ein Straßenhändler vom Ordnungsamt übel drangsaliert wird. Sie mischt sich sofort ein und es gelingt ihr, die Herausgabe seiner Kochutensilien durchzusetzen, aber sie wird dafür mehrere Stunden auf eine Polizeiwache geschleppt. Die beschriebenen Misshandlungen durch Manager und Polizisten sind für die Jasic-Arbeiterinnen nichts besonders Neues gewesen, gerade weil sie solchen Auseinandersetzungen auch früher nicht aus dem Weg gegangen sind.

Eine Besonderheit besteht in dem selten gemachten Versuch, sich durch Gründung einer Betriebsgewerkschaft gegen die Willkür des Managements zu wehren. Obwohl 90 Arbeiter den Gründungsantrag unterzeichnet hatten, war vermutlich der Rückhalt unter Kolleginnen für einen Streik nicht ausreichend. Hinzu kam, dass die aktiven Arbeiterinnen bereits die Erfahrung gemacht hatten, dass die Manager zwar für eine gewisse Zeit ein wenig zur Räson gebracht werden können, bald darauf aber wieder neue Niederträchtigkeiten aushecken.

Ähnliche Erfahrungen haben Arbeiterinnen auch in anderen Betrieben im Perlflussdelta gesammelt, wo Streiks zwar zunächst Verbesserungen brachten, diese später aber wieder zurückgenommen wurden. Andere schlechte Erfahrungen mit Streiks sind, dass Arbeitervertreter in den Verhandlungen übers Ohr gehauen wurden oder sich haben kaufen lassen.

Bei Jasic geht es um kompliziertere Fragen als nur Lohnerhöhung oder ausstehende Löhne. Angesichts dessen hätten die Arbeiter wohl die Hoffnung gehabt, so einige Beobachter, mit der Gründung einer Betriebsgewerkschaft eine längerfristige Verteidigung ihrer Interessen zu schaffen.

Warum war das Management so gänzlich unnachgiebig?

Der naheliegendste Grund ist, dass die Manager nichts anders gelernt haben, sie machen nur dann Konzessionen, wenn sie wegen Produktionsausfällen nicht anders können. Bei Jasic kommt hinzu, dass sie sich gegenüber Polizei und anderen Behörden sehr sicher fühlen, weil zwei Vorstandsmitglieder in der Shenzhener Volksvertretung sitzen und mit der politischen Elite verbandelt sind. Es ließe sich auch spekulieren, ob das Management überhaupt Luft für Lohnerhöhungen oder die Rücknahme der "18 Regeln" zum Lohnraub gehabt hätte. Sie geben zwar eine hohe Gewinnsteigerung für 2017 an, aber ob sie diese angesichts von abkühlender chinesischer Wirtschaft und Handelszöllen durchhalten können, ist zumindest fraglich.

Wie kam es zu der großen Unterstützerinnenbewegung?

Mehrere Umstände kamen zusammen. Verschiedene Unterstützerinnen wie Shen Mengyu sind sehr rasch zu den Arbeitern gefahren und haben sofort mit Protestkundgebungen begonnen und eine Öffentlichkeit geschaffen, was die Arbeiterinnen aus eigenen Kräften kaum hätten erreichen können. Die studentischen, linken und linksmaoistischen Gruppen, die aus dem ganzen Land Solidaritätserklärungen schickten oder sich selbst den Protesten vor Ort anschlossen, scheinen nur darauf gewartet zu haben, dass ein Arbeitskampf durch den Versuch einer Gewerkschaftsgründung eine explizit politische Dimension annimmt. Linksmaoistischen Studierendengruppen organisieren häufig Tage der kollektiven Arbeitserlebnisse, an denen Studierende für kurze Zeit als Tagelöhner arbeiten, um die Lage der Arbeiterklasse kennenzulernen. Darin drückt sich eine gewisse Distanz zwischen Studierenden und Arbeiterinnen aus, doch nicht wenige Studierende kommen selbst aus der Arbeiterschicht und haben Eltern, die als Wanderarbeiter malochen - das motiviert sie. Die Altmaoisten und alten Parteimitglieder und Kader, die man auf einigen Fotos sieht, haben insofern eine wichtige Rolle gespielt, als ihre Beteiligung die Repression gemildert haben dürfte, da man seine alten Parteigenossen nicht so wie Arbeiter niedermachen kann.

Neben der Größe der Solidariätsbewegung ist besonders das Zusammenkommen verschiedener aktueller Auseinandersetzungen und ihre Produktivität und Kreativität beeindruckend. Die Feministin Xue Yin hatte im Mai an der Beijing Universität einen alten Vergewaltigungsfall öffentlich gemacht. Anfang August schloss sie sich der Unterstützergruppe an. Seit dem 24. August ist sie in Haft. Sie steht wie eine Reihe anderer, sehr aktiver feministischer Gruppen für einen Klassenfeminismus, der den Fokus auf die besondere Benachteiligung und Gewalt gegen Arbeiterinnen legt; ihr Ziel ist die Abschaffung von Sexzismus und Ausbeutung, den bürgerlichen Feminismus der gleichberechtigten Teilnahme am Ausbeutungsprozess kritisieren sie scharf.

Auch Sprecher der in den letzten Monaten ebenfalls sehr aktiven ehemaligen Shenzhener Bauarbeiter aus Leiyang, die an Staublunge erkrankt sind, haben sich mit Jasic-Arbeiter getroffen. Seit Ende der 90er Jahre haben viele frühere Bauern aus dem sehr armen Bezirk Leiyang in Henan als Bohrer auf Baustellen gearbeitet. An den Folgen des feinen Bohrstaubs sind die meisten bereits gestorben, die Überlebenden kämpfen um Unterstützung für ihre Pflegekosten. Sie zählen zu den schätzungsweise sechs Millionen Opfern von Staublunge in Chinas Wachstumsjahrzehnten.

Sie alle haben in Shenzhen und Huizhou täglich Protestkundgebungen, Theater, Singen und vieles mehr organisiert und die Geschichten der Arbeiterinnen, ihrer Proteste, ihre Forderungen, Lieder und Gedichte in Texten und Videos festgehalten und bekannt gemacht. Als sehr früh bereits alle Nachrichten und Postings zu Jasic zensiert wurden, tauchten Tutorials zum Anlegen von Blogs auf github.io auf, einer Internetseite für Softwareentwicklung, die nicht so einfach blockiert werden kann. Im Nu entstanden neue Blogs, und das Experimentieren mit alternativer Kommunikationssoftware blüht plötzlich auf. So wurden und werden die Auseinandersetzungen bei Jasic so ausführlich wie nur wenige andere Streiks dokumentiert.

Und warum wurde auch von staatlicher Seite wieder nur draufgeschlagen?

In vielen Fällen von Lohnrückständen, insbesondere auf dem Bau, wo Streiks ineffektiv sind, versuchen Arbeiterinnen durch Straßenblockaden oder andere Mittel die Bullen als Vermittler einzuspannen, um ausstehende Löhne entweder von der Lokalregierung direkt oder mit deren Hilfe vom Unternehmer zu bekommen. Nicht selten übernimmt die Polizei diese Rolle. Bei Jasic gab es aber offensichtlich keinen einzigen Vermittlungsversuch seitens der Bullen. Vielleicht haben die Shenzhener Funktionäre, die im Vorstand von Jasic sitzen, direkt oder indirekt Druck auf sie ausgeübt. Dass Arbeiterinnen und Unterstützer von Schlägertrupps und Zivilbullen sogar in unmittelbarer Nähe zur Wache oder zum Werk angegriffen wurden, lässt vermuten, dass die örtlichen Bullen mit der Solibewegung überfordert waren.

Einzig im Bezirksgewerkschaftsbüro hat man anfangs Sympathien für die Arbeiterinnen gezeigt und ist ein bisschen herumgeschlingert. Dies kann damit zusammenhängen, dass in Shenzhen neben Shanghai zur Zeit mit Gewerkschaftsreformen experimentiert wird und neue Gewerkschaftssektionen auch für Wanderarbeiter geschaffen werden, wie die Shanghaier Sektion für Paket- und Essenslieferdienste. Solche Sektionen kümmern sich zwar in erster Linie nur um ein paar Freizeit- und Kulturangebote oder stellen Personal für Scheinverhandlungen, stehen aber auch für Experimente mit neuen Strategien. Erst der Bezirksleiter der ACFTU hat dann die Linie klargestellt: gegen die Arbeiter und für eine Gewerkschaft der Manager. Die Razzia um den 10. August gegen das Dagongzhe Zentrum, eine kleine NGO, die seit Anfang 2000 Arbeiterinnen in Shenzhen mit einem sozialen Treffpunkt, Kultur und Rechtsberatung unterstützt, sowie die Entführung von Shen Mengyu waren das Werk höherer Sicherheitsorgane.

Streikbewegungen in jüngster Zeit

Nach dem Exporteinbruch in der Krise 2008/9 hatte der Streik im Honda-Getriebewerk in Foshan, ebenfalls im Perlflussdelta, eine Welle von offensiven, kurzen und erfolgreichen Streiks um Lohnerhöhungen losgetreten. Unter anderem als Reaktion auf steigende Lohnkosten nahm ab 2014 die Zahl der Fabrikverlagerungen und -schließungen im Perlflussdelta stark zu und viele langwierige und komplizierte Auseinandersetzungen um ausstehende Löhne, unterschlagene Sozialversicherungsbeiträge und Abfindungen entbrannten. Um 2016 klang die Welle der Fabrikverlagerungen langsam ab und die Zahl der Konflikte in der herstellenden Industrie sank. Die meisten Konflikte gingen um Lohnraub auf dem Bau. Auseinandersetzungen im Dienstleistungs- und Transportsektor nahmen deutlich zu, was den wachsenden Anteil an Dienstleistungsjobs widerspiegelt. Bei einer Reihe von bekannteren Kämpfen wie bei Coca Cola 2016 oder bei Walmart wird die zunehmend bessere und längerfristige Selbstorganisierung von Arbeiterinnen sichtbar. In den neuen, Internet-basierten Dienstleistungsindustrien, Taxi, Essens- und Paketlieferdiensten kommt es regelmäßig zu kleinen lokalen Auseinandersetzungen um Lohnrückstände oder die plötzliche, willkürliche Umstellung der Prämien. Anfang Juni sind viele der 30 Millionen LKW-Fahrer landesweit in Streik getreten, u.a. gegen steigende Dieselpreise, willkürliche Strafzettel und die Monopolstellung der Frachtvermittlungsplattform Manbang.

Roboter statt Menschen

Die Verlagerung von Fabriken wird in vielen Industriestädten im Perlflussdelta mit Subventionsprogrammen für Automatisierung flankiert. Städte wie Dongguan, Huizhou und Foshan konkurrieren mit Programmen wie "Menschen durch Roboter ersetzen" und Subventionen von bis zu 70 Prozent unter der Auflage, dass Arbeiterinnen durch Maschinen ersetzt werden.

Aber obwohl 2016 allein in Dongguan ca. 70.000 Stellen der Automatisierung zum Opfer fielen, basieren weite Teile der herstellenden Industrie nach wie vor auf dem alten Prinzip der Ausbeutung billiger Arbeit und skrupellos gesundheitsschädlichen und gefährlichen Arbeitsbedingungen. Ein Sozialarbeiter, der in einem Krankenhaus in Foshan Arbeitsunfallopfern hilft, erzählte, dass sie im Jahr zwischen 2000 und 2500 Arbeitsverletzungen behandeln. Die meisten davon an Händen und Armen, Schnittverletzungen, Quetschungen, abgetrennte Finger, Hände oder Arme. Für Arbeiter bedeutet eine solche Verletzung oft, dass sie anschließend nicht mehr in einer Fabrik arbeiten können, weil sie die Hände nicht mehr so gut oder so schnell bewegen können. Ihnen bleibt oft nur die Rückkehr in den Heimatort und die ökonomisch immer prekärer werdende Perspektive, dort ein kleines Geschäft zu eröffnen.

Steigende Wohnkosten

Die Immobilienpreise sind in den letzten Jahren insbesondere in den großen Städten rasant gestiegen. Immobilien dienen nicht nur als private Geldanlage und Alterssicherung, sondern die Umwandlung von Land in Baugrund stellt auch die wichtigste Einnahmequelle von Lokalregierungen dar. Wenn ich Kollegen von den Wohnungspreisen in Berlin erzähle, lachen sie, wie günstig die sind. In Guangzhou kostet eine Wohnung mit zu Deutschland vergleichbarem Standard umgerechnet 8-9000 Euro pro Quadratmeter. Ständig kommt es zur Vertreibung von Mietern. Mitunter werden 50 Leute innerhalb von 24 Stunden mit allem Hab und Gut auf die Straße gesetzt. Arbeiterinnen bleibt dann nicht viel anderes übrig, als enger zusammenzurücken und sich kleine Zimmer zu mehreren zu teilen, oder weiter weg zu ziehen und lange Arbeitswege von über einer Stunde hinzunehmen.

Schwächelnde Löhne

Das Wirtschaftswachstum hat sich verlangsamt, auch wenn die Einzelheiten in den gezinkten Statistiken versinken. Die Immobilienblase soll gedämpft, die Schattenbanken verkleinert werden, der Handelskrieg wirft seine Schatten voraus, und so weiter. Neulich hörten wir von einem Bankangestellten in Shenzhen, der seinen Angehörigen empfahl, auf Immobilienkäufe und teure Luxusreisen zu verzichten und sich auf einen langen und kalten Winter vorzubereiten.

Die Lohnsteigerungen haben sich im Vergleich zu vor fünf Jahren ebenfalls deutlich verlangsamt, die Erhöhungen der Mindestlöhne lassen länger auf sich warten und fallen niedriger aus. Für das Perlflussdelta liegen diese zwischen 2300 (Guangzhou), 1720 (mittlere Städte wie Foshan, Dongguan) und 1550 Yuan im Monat. Vor drei Jahren lagen sie bei 1895 in Guangzhou, bzw. 1510 in den mittleren und 1350 in den kleinen Städten. Die Grundlöhne von Arbeitern liegen kaum höher, einschließlich Überstunden und Zulagen kommen viele auf einen Lohn von 3-4000 Yuan, nur ca. 30 Prozent verdienen mehr (Zahlen von der chinesischen Website Workers Empowerment). Die Grundlöhne bei Jasic entsprechen dem in etwa, im Schnitt liegen sie eher im unteren Mittelfeld. Kassiererjobs im Supermarkt werden für 2800-3200 angeboten, ein Posten als Wachmann für 3500. Die Verbreitung von Arbeitsverträgen stagniert, nur knapp über 60 Prozent der Arbeiterinnen im Delta haben einen ordentlichen Arbeitsvertrag.

Neben den Wohnkosten verteuern sich auch die Lebensmittel, gefühlt um zehn Prozent im Jahr. Daneben sind insbesondere die Kosten für Kinderbetreuung und Ausbildung enorm hoch. Ein Kindergartenplatz in einem urbanen Dorf kostet 2000 Yuan im Monat. Das Hukou-System wurde zwar gelockert, doch trotzdem müssen viele Wanderarbeiter ihre Kinder weiterhin zu den Großeltern aufs Land schicken. Nur die Fahrscheine des überfüllten ÖPNV bleiben unverändert relativ günstig. In vielen der neuartigen Dienstleistungsjobs wie Essens- oder Paketzustellung kann man zwar bis zu 5000 Yuan oder mehr verdienen, wenn man pausenlos durcharbeitet. Die Jobs sind aber sehr prekär, gefährlich im chaotischen Straßenverkehr, und die Leute haben oft mit Lohnraub zu kämpfen. Die Unterschichtung, Auslagerung und geringe Größe von solchen Dienstleistungsklitschen erschwert die Gegenwehr.

Die Bewegung der Jasic-Arbeiterinnen und ihrer Unterstützer findet vor dem Hintergrund umfassender Veränderungen in China statt. Die kommunistische Partei, die vor 70 Jahren gegen die Despotie der Grundbesitzer antrat, ist zur Partei der Immobilieneigentümer geworden. Einerseits soll die Industrie weltmarktfähig modernisiert werden, andererseits erwarten die vielen Neureichen weiterhin hohe Gewinne. Für Arbeiterinnen und Studierende bedeutet das nichts Gutes. Sie haben allzu guten Grund sich gegen miese Arbeitsbedingungen, schwache Reallöhne, Sexismus und Willkür zu wehren - in den vergangenen Wochen haben Viele gezeigt, mit welcher Unerschrockenheit sie das tun.


Wir werden diese gesellschaftlichen Umbrüche und die Kämpfe darin weiter verfolgen; siehe Teil II in der nächsten Wildcat!


Ergänzende Informationen:

Die Proteste dauern noch an. obwohl die meisten aktiven Arbeiter und etliche Unterstützerinnen bereits im Knast sind. Unter diesen Umständen ist nur eine eingeschränkte Analyse möglich, zum einen, weil immer noch Neues passiert, zum anderen, weil die Geschehnisse nur unter Weglassung jener Details beschrieben werden können, deren Veröffentlichung die Beteiligten möglicherweise gefährden könnte. Daher konzentrieren wir uns auf die Hintergründe.

In den chinesischen Industriezentren arbeiten etwa 280 Mio. Arbeiterinnen, die vom Land oder inländischen, ärmeren Provinzen dorthin zum Arbeiten gezogen sind.

Das Hukou-System regelt das Residenzrecht und den Zugang zum Sozialsystem, zu Schulen und zur Gesundheitsversorgung.

Aufgrund der niedrigen Löhne, des eingeschränkten Zugangs zum Sozialsystem, Schulen und Gesundheitsversorgung müssen die Meisten ihre Kinder bei den Großeltern in den Heimatorten zurücklassen.


In diesem Artikel wird sowohl die weibliche als auch die männliche Form als universelle Form verwendet.

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Quelle:
Wildcat 102 - Herbst 2018, S. 54 - 59
E-Mail: redaktion@wildcat-www.de
Internet: www.wildcat-www.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2018

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