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Z/273: Zu Rosa Luxemburgs "Die Akkumulation des Kapitals"


Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 120 - Dezember 2019

Zu Rosa Luxemburgs "Die Akkumulation des Kapitals"(*)

von Eduard März


Rosa Luxemburgs opus magnum, 'Die Akkumulation des Kapitals', ist knapp vor dem ersten Weltkrieg erschienen, das heißt am Ende einer Periode, die wir als die geistige Blütezeit der ersten nach-Marxschen sozialistischen Generation betrachten müssen. Es genügt, an Namen wie Kautsky, Hilferding, Liebknecht, Bernstein, Lenin, Plechanow, Trotzky, Bauer, Renner und Max Adler zu erinnern, um vor unserem geistigen Auge ein Bild des gewaltigen Ringens erstehen zu lassen, das den Verlauf der europäischen Geschichte in diesem Jahrhundert so maßgeblich beeinflußt hat.

Wer sich die Mühe nimmt, um in den theoretischen Organen der deutschen Sozialdemokratie aus jener Zeit zu blättern, wird sich kaum des Eindrucks erwehren können, daß das Werk Rosa Luxemburgs eine eher ungünstige Aufnahme bei den Kritikern fand.[1]

Und dies war natürlich kein Zufall. Denn obwohl Bernstein und seine Waffenbrüder in den Auseinandersetzungen um die Jahrhundertwende eine deutliche Schlappe hinnehmen mußten, hatte sich das geistige Klima in der deutschen Arbeiterbewegung im Verlauf der nächsten Dekade gründlich geändert. Man bekannte sich wohl anläßlich von Festtagsreden zu den Zielen der 'sozialen Revolution', aber die tägliche Praxis stand unverkennbar im Dienst der 'sozialen Reform'. Kein Wunder, daß man sich gegenüber der Luxemburgschen Perspektive - der Kapitalismus bereite unter immer heftigeren Konvulsionen seinen eigenen Untergang vor[2] - im großen und ganzen ablehnend verhielt. Kaum zwei Jahre nach diesem Ausspruch Luxemburgs kam es in der Tat zu einer der heftigsten 'Konvulsionen' in der Geschichte des Kapitalismus, nämlich zum ersten Weltkrieg.

Auch in der Zwischenkriegsperiode - in der Zeit des ersten sozialistischen Planungsexperiments, der kolonialen Erhebungen und der Wirtschaftskrise - war das Schicksal dem Buch Rosas kaum gnädiger gesinnt. Ihr einziger bedeutender theoretischer Nachfahre, Fritz Sternberg, stieß auf heftigen und beinahe ungeteilten Widerspruch.[3] Allerdings muß die Leistung Sternbergs weitaus geringer bewertet werden als die der großen Luxemburg. Selbst im Jahre 1942, als bereits der zweite Weltkrieg unterwegs war, erteilte Paul Sweezy, einer der bedeutendsten marxistischen Theoretiker unserer Generation, dem Werke Luxemburgs eine eher schlechte Zensur. Auch er stieß in das Horn seiner kritischen Vorgänger, indem er Luxemburg eine mechanistische Zusammenbruchstheorie zuschrieb.[4]

In den Dreißigerjahren bahnte sich jedoch eine Wandlung in der wissenschaftlichen Wertung des Luxemburgschen Hauptwerkes an. Der Anstoß dazu kam interessanterweise nicht vom marxistischen Lager, sondern von einer Gruppe von Nationalökonomen, die man als linke 'Keynesianer' zu bezeichnen pflegt. Es war vor allem Michael Kalecki, der in einem Essay auf die geistige Verwandtschaft zwischen Luxemburg und Keynes hinwies.[5] In einem ähnlichen Sinn interpretiert auch die geniale englische Theoretikerin Joan Robinson die Leistung Rosa Luxemburgs in ihrem Vorwort zur englischen Ausgabe der 'Akkumulation des Kapitals'.[6] Fast auf jeder Seite der 'Akkumulation des Kapitals', wo Luxemburg die Lösung eines diffizilen theoretischen Problems versucht, verspürt man das geradezu explosive, revolutionäre Temperament der Autorin. Ähnlich wie ihr großer Lehrmeister Karl Marx, wirkt auch sie um das Knochengerüst der Theorie das lebendige Gewebe der politischen Praxis und der geschichtlichen Erfahrung. Zu den Höhepunkten des Buches gehören die Kapitel über die kapitalistische Durchdringung der vorkapitalistischen Räume. Insbesondere die Schilderung des Leidensweges der ägyptischen Fellahim in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts muß als eine der großen Leistungen der marxistischen Geschichtsschreibung gewertet werden.

Das Hauptanliegen des Buches ist die Lösung eines Problems, das - nach Ansicht unserer Autorin - von Marx nicht befriedigend beantwortet worden ist. Wie kommt es, daß der kapitalistische Akkumulationsprozeß trotz periodischer Schwankungen und Krisen sich in Form einer Spirale (wie dies Sismondi einmal formulierte) weiterentwickelt? Welches ist der Mechanismus dieses Prozesses und wo liegen die Grenzen seiner Ausdehnung? Wir wollen vorwegnehmen, daß Luxemburg die Lösung dieses Problems nicht völlig geglückt ist, daß sie aber - trotz der abfälligen Bewertung, die ihrem Bemühen vielfach zuteil geworden ist - der weiteren Diskussion wichtige Impulse und Anregungen gegeben hat.

Am Anfang der Luxemburgschen Analyse steht das bekannte Marxsche Reproduktionsschema, das unsere Autorin als eine der epochalen geistigen Leistungen auf dem Gebiete der Ökonomie feiert. (In ähnlicher Weise hat bekanntlich auch Marx das noch recht primitive Modell Quesnays gerühmt.) Luxemburg macht dabei - gleichsam im Vorbeigehen - aufmerksam, daß das Marxsche Schema die, wie wir heute sagen, wichtigen makroökonomischen Beziehungen einer kapitalistischen sowie einer sozialistischen Wirtschaftsordnung durchleuchtet.

Dem Schema der einfachen Reproduktion liegt die Annahme eines stationären Wirtschaftsprozesses zugrunde, bei dem die Höhe der Produktion (pro Kopf der werktätigen Bevölkerung) in jeder beliebigen Produktionsphase konstant bleibt. Der klaglose Ablauf eines solchen Prozesses ist von zwei Bedingungen abhängig: erstens muß dafür Sorge getragen werden, daß die in jeder Produktionsphase verschiedenen Produktionsmittel zureichend ersetzt werden, und zweitens, daß Kapitalist und Arbeiter ihr gesamtes Einkommen auf den Ankauf von Konsumgütern verausgaben.

Wie der Augenschein lehrt, widerspricht jedoch die zweite Bedingung der normalen Funktionsweise des kapitalistischen Systems. Es ist wohl richtig, daß der durchschnittliche Arbeiter sein gesamtes Einkommen konsumtiv verausgabt, wenn man von bescheidenen Rücklagen für das Alter und von kurzfristigen - dem Erwerb von dauerhaften Konsumgütern zugedachten - Spargeldern absieht; aber die Annahme, daß auch der Kapitalist keine andere Ambition kennt als die fortgesetzte Anhäufung von Konsumgütern, läuft auf die absurde These hinaus, daß der Raimundsche Verschwender[7] die repräsentative Figur der kapitalistischen Wirtschaftsordnung sei.

Die kapitalistische Produktionsweise ist nicht stationär, sondern wie die fast zweihundertjährige Geschichte des industriellen Kapitalismus zeigt, ein spiralenförmiger Prozeß, der sich aus Phasen der Expansion und der Kontraktion zusammensetzt. Der Kapitalist muß wohl einen Teil des ihm zufallenden Mehrwerts konsumtiven Zwecken zuführen, weil er nur so seine physische Existenz aufrechterhalten kann, aber er schlägt - unter dem Druck der Konkurrenz - einen (gewöhnlich) wachsenden Teil seines Einkommens zu den konstanten und variablen Bestandteilen seines Kapitals dazu. Die Akkumulation, unter der man die Verwandlung von Mehrwert in Kapital versteht, ist nach Marx das bestimmende Moment der kapitalistischen Produktionsweise.

Marx hat das Schema der erweiterten Reproduktion im zweiten Band des 'Kapital' ausführlich dargelegt. Es besteht interessanterweise, wie Paul Sweezy gezeigt hat, eine 'strukturelle' Ähnlichkeit zwischen den Gleichgewichtsbedingungen der einfachen und der erweiterten Reproduktion.[8] Aber im Gegensatz zum System der einfachen Reproduktion, bei dem man von der Annahme ausgeht, daß die Zahl der Produktionsmittel und der Arbeiter von Jahr zu Jahr konstant bleibt, vergrößert sich im Falle der erweiterten Reproduktion die Masse des konstanten und des variablen Kapitals in jeder neuen Produktionsperiode. Der Kreislauf wandelt sich in eine Spirale.

Dies ist der Punkt, an dem die Kritik Rosa Luxemburgs einsetzt. Sie meint mit Recht, daß das Marxsche Schema der erweiterten Reproduktion den Eindruck vermittelt, daß sich der kapitalistische Akkumulationsprozeß völlig reibungslos - also bei völliger Abwesenheit von periodisch wiederkehrenden ökonomischen Schwankungen und Erschütterungen - vollziehe. Da dies ein Ergebnis ist, das der Marxschen ultima ratio diametral entgegengesetzt ist, macht sich Luxemburg ans Werk, um das 'missing link' der Marxschen Analyse zu finden. Wir haben bereits vermerkt, daß ihr dies Unterfangen nicht völlig gelingt.

Der Ausgangspunkt der Luxemburgschen Betrachtungsweise ist die bekannte Marxsche These von der 'Konsumtionsbeschränkung der Massen' im Rahmen des kapitalistischen Systems. Dabei ist es falsch, Marx oder seiner Schülerin Luxemburg die Ansicht zu unterstellen, wie dies immer wieder geschieht, daß der Kapitalismus die Tendenz zeitige, den Lohn auf das physische Existenzminimum herabzudrücken. Wir wollen bloß an eine Stelle in den Theorien über den Mehrwert erinnern, in welcher Marx hervorhebt, daß die Arbeiter zwar aus der Steigerung der Arbeitsproduktivität resultierende Herabdrückung des Lohnes (dem Werte nach) nicht hindern können, aber ihn nicht absolut auf das Minimum herabdrücken lassen, vielmehr qualitativ einige Teilnahme am Fortschritt des allgemeinen Reichtums erzwingen".[9]

Wiewohl Luxemburg die Möglichkeit von Reallohnsteigerungen im Rahmen des kapitalistischen Systems nicht ausschließt, ist die These von der 'Konsumtionsbeschränkung der Massen' oder, wie dies später von den Keynesianern genannt wurde, die 'demand deficiency' das Kernstück ihrer Analyse. Technischer Fortschritt und die daraus resultierende Hebung der Mehrwertrate sind dazu angetan, dieses Übel nur noch zu verstärken. Der Kapitalist stößt so bei seinen Bemühungen, den kapitalisierten Mehrwert zu realisieren, auf die - durch die Konsumtionsbeschränkung bedingten - engen Schranken des inneren Marktes. Luxemburg sieht nun den schwachen Punkt der Marxschen Betrachtungsweise darin, daß dieser den Akkumulationsprozeß in einem 'geschlossenen System' untersucht.

Der Kapitalismus kommt zur Welt" - sagt Rosa Luxemburg - "und entwickelt sich historisch in einem nichtkapitalistischen sozialen Milieu."[10] In seiner Darlegung der Phase der 'ursprünglichen Akkumulation' hat Marx diesem Umstand vollauf Rechnung getragen. Er hat aber verkannt, so glaubt unsere Autorin, daß die Existenz nichtkapitalistischer Räume nicht bloß für den jungen, sondern auch für den reifen Kapitalismus von lebenswichtiger Bedeutung ist. Dieser vermag die engen Grenzen des inneren Marktes nur durch die gewaltsame Eroberung und wirtschaftliche Durchdringung der 'früheren Hinterländer' zu überwinden. Luxemburg kommt auf diese Weise zu ihrer vielfach zitierten Imperialismus-Definition: "Der Imperialismus ist der politische Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus."[11] Auch in dieser Phase der kapitalistischen Entwicklung ist die Gewalt das 'Vehikel des ökonomischen Prozesses'. Die spezifischen Operationsmethoden der Einbeziehung der Hinterländer in den kapitalistischen Lebensnexus sind - "auswärtige Anleihen, Eisenbahnbauten, Revolutionen und Kriege".[12] Das Kapital überwindet so die dem System inhärenten Konsumtionsbeschränkungen und setzt den Prozeß der Kapitalakkumulation auf immer höherer Stufenleiter fort; mit dieser weltweiten Ausdehnung bereitet es aber auch - "unter immer heftigeren konvulsivischen Zuckungen seinen eigenen Untergang vor".[13] Aus dieser Stelle haben viele Autoren, darunter auch Sweezy, geschlossen, daß wir es hier mit einer rein mechanistischen Vorstellung von den Zusammenbruchstendenzen im Kapitalismus zu tun haben. Denn wenn der letzte nichtkapitalistische Raum erschlossen ist, ist den Realisierungsmöglichkeiten des Mehrwerts sozusagen der natürliche Nährboden entzogen. In einem 'geschlossenen' kapitalistischen System, das erst in diesem geschichtlichen Zeitpunkt erreicht ist, kommt der Akkumulationsprozeß zu einem natürlichen - wenn auch nicht notwendigerweise friedlichen Abschluß.

Rosa Luxemburg selbst hat in ihrer kleinen Schritt 'Die Akkumulation des Kapitals oder was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben' (Leipzig 1921) diese Interpretation ihrer Theorie eine 'theoretische Fiktion' genannt. In jüngster Zeit hat sich ein junger polnischer Sozialwissenschaftler, Tadeusz Kowalik, mit dem gegen Luxemburg erhobenen Vorwurf einer mechanistischen Auffassung vom sozialen Entwicklungsprozeß gründlich auseinandergesetzt und ihn - unseres Erachtens - in überzeugender Weise entkräftet.[14] Er verweist dabei auf eine nur allzu häufig übersehene Stelle in der Luxemburgschen Studie: "Der Imperialismus ist ebensosehr eine geschichtliche Methode der Existenzverlängerung des Kapitals, wie das sicherste Mittel, dessen Existenz auf kürzestem Wege objektiv ein Ziel zu setzen. Damit ist nicht gesagt, daß dieser Endpunkt pedantisch erreicht werden muß. Schon die Tendenz zu diesem Endziel der kapitalistischen Entwicklung äußert sich in den Formen, die die Schlußphase des Kapitalismus zu einer Periode der Katastrophen gestalten."[15]

Der große Vorzug der Luxemburgschen Theorie liegt, wie Kowalik richtig hervorhebt, in der Erkenntnis, daß der Entwicklungsprozeß des Kapitals auch in neuerer Zeit aufs engste mit den Daseins- und Entwicklungsbedingungen der sogenannten 'unterentwickelten' Länder zusammenhängt. Unsere Autorin berücksichtigt in ihrer Analyse die Bedeutung des Kapitalexports und der militärischen Ausgaben sowie die Rolle der politischen Gewalt viel klarer und eingehender als die meisten modernen Theoretiker der wirtschaftlichen Entwicklung. (Eine rühmliche Ausnahme ist der leider viel zu früh verstorbene Paul Baran.) Auf der anderen Seite schrieb sie dem Kapitalismus eine übertriebene Bedeutung für die Industrialisierung der rückständigen Gebiete zu. Diese Aufgabe kann, wie die Geschichte der letzten Jahrzehnte gelehrt hat, nur von einem planwirtschaftlichen System geleistet werden.

Bei allem Respekt für die analytische Leistung Luxemburgs muß man am Ende feststellen, daß es der Autorin nicht gelungen ist, das Schema der erweiterten Reproduktion, wie es Marx im zweiten Band des Kapitals dargelegt hat, in einer solchen Weise weiterzuentwickeln, daß dabei die inneren Widersprüche des Systems zum Ausdruck kommen. Heute, nach einem halben Jahrhundert der Diskussion über die theoretischen Probleme der wirtschaftlichen Entwicklung, sind wir in der Lage zu erkennen, an welchen Schwierigkeiten die große Rosa gescheitert ist.

Beim Marxschen Schema der Reproduktion (der einfachen wie der erweiterten) haben wir es mit einer Identität zu tun. (Genauso wie es sich bei den berühmten Gleichungen aus der 'General Theory' von John M. Keynes um Identitäten handelt.) Aus Identitäten lassen sich aber bekanntlich keine Kausalzusammenhänge ableiten. Damit Aussagen über den Ablauf einer Entwicklung möglich sind, müssen sogenannte Verhaltensgleichungen eingeführt werden. Es ist aber in diesem Falle nicht richtig, von einem Ausbau des Marxschen Modells zu sprechen, denn das entscheidende Moment ist die Annahme über das 'Verhalten' und nicht die von Marx formulierten Identitäten.

Hat man diesen Zusammenhang begriffen - wozu Luxemburg vor einem halben Jahrhundert, also noch lange vor der sogenannten 'Keynesschen Revolution' kaum in der Lage war - dann wird es möglich, das Marxsche System etwa in der von Lawrence Klein angedeuteten Weise zu 'dynamisieren'.[16] Man kann zum Beispiel eine Konsumfunktion mit einem 'time-lag' einführen oder eine Investitionsfunktion, die neben den Gewinnen auch den akkumulierten Kapitalstock als Bestimmungsgröße enthält; man kann ferner generelle Erwartungen bezüglich bestimmter ökonomischer Größen einführen und diese Erwartungen als Funktion der bisherigen Entwicklung darstellen und ähnliches mehr. Es ist natürlich klar, daß man sich auf diese Weise kein generelles Modell vom kapitalistischen Akkumulationsprozeß, sondern nur eine der möglichen Varianten seines weiteren Fortganges erarbeitet.

Rosa Luxemburg hat zweifellos, wie andere revolutionäre Denker ihrer Generation, die Lebens- und Adaptionsfähigkeit des Kapitalismus unterschätzt. Sie verkannte die praktische (wenn auch nicht die theoretische) Möglichkeit der Steigerung der Reallöhne im Rahmen des kapitalistischen Systems und vernachlässigte, wie Joan Robinson gezeigt hat, "den inneren Anreiz zur Investition, der durch den technischen Fortschritt geschaffen wird". Aber Robinson, die diese Schwächen der Luxemburgschen Analyse sehr deutlich herausgearbeitet hat, meint am Ende, daß diese Fehler die große theoretische Leistung der revolutionären Denkerin nicht entscheidend beeinträchtigen:

"Dennoch werden nur wenige bestreiten, daß die Ausbreitung des Kapitalismus auf neue Territorien die Haupttriebfeder dessen war, was ein akademischer Nationalökonom den großen säkularen Aufschwung der letzten zweihundert Jahre genannt hat, und viele akademische Nationalökonomen erklären die unangenehme Lage des Kapitalismus im zwanzigsten Jahrhundert weitgehend aus dem Schließen der Grenzen auf der ganzen Welt. Aber die akademischen Nationalökonomen sind erst im Nachhinein klug. Trotz aller Verworrenheit und Übertreibungen beweist das Buch von Rosa Luxemburg mehr Voraussicht als jeder beliebige orthodoxe Zeitgenosse von sich behaupten könnte."[17]


Eduard März (1908-1987) - Wien, Wirtschaftshistoriker


Anmerkungen

(·) Zuerst erschienen als "Einleitung" zu Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. [Nachdruck der Ausgabe Berlin 1913, unter Einschluss von: Die Akkumulation des Kapitals oder Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben. Eine Antikritik von Rosa Luxemburg, Leipzig 1921], Archiv sozialistischer Literatur, Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main 1965, S. I-X. Die Einleitung ist von Eduard März gezeichnet mit "Wien, im September 1965".
(Der Schattenblick dankt dem Verlag Neue Kritik für die Nachdruckgenehmigung.)

[1] So schrieb zum Beispiel Franz Mehring in seiner kurzen, positiv gehaltenen Rezension des Buches: "Obgleich das Buch erst wenige Monate alt ist, hat es doch schon seine Geschichte und eine recht bewegte dazu. Vom marxistischen Gesichtspunkte aus geschrieben, ist es innerhalb der marxistischen Kreise der Gegenstand der lebhaftesten Erörterungen geworden. Während die einen es als eine völlig mißlungene Arbeit zurückweisen, ja als eine wertlose Kompilation brandmarken, sehen die anderen in ihm die bedeutendste Erscheinung der sozialistischen Literatur seitdem Marx und Engels selbst die Feder aus der Hand gelegt haben." Siehe: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, (hrsg. v. Carl Grünberg), 4. Jhg. 1914, S. 356 ff. Mehrings Bericht über die Aufnahme des Buches innerhalb des sozialdemokratischen Kreises ist insofern unvollständig, als er hinzuzufügen vergaß, daß die Zahl der negativen Kritiken die Zahl der positiven Bewertungen bei weitem übertraf. Rosa Luxemburg hat dies selbst in ihrer 'Anti-Kritik' wenige Jahre später vermerkt.

[2] Siehe: Rosa Luxemburg, 'Die Akkumulation des Kapitals - Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus', Berlin 1913, S. 431.

[3] Siehe: Fritz Sternberg, 'Der Imperialismus', 1926

[4] Siehe: Paul M. Sweezy, 'The Theory of Capitalist Development' Oxford University Press New York 1942 (Kapitel XI, The Breakdown Controversy, S. 202 ff.)

[5] Vgl. M. Kalecki, 'Essays in the Theory of Economic fluctuations', London 1939, S. 45-46.

[6] Der Leser findet diesen geistvollen Aufsatz in dem Essayband 'Über Keynes hinaus', Europa Verlag, Wien 1962, S.75 ff.

[7] Ferdinand Raimunds "Der Verschwender" ist noch heute eines der beliebtesten Volksstücke des österreichischen Theaters. Das Vorbild dafür soll der Neffe des österreichischen Multimillionärs Geumüller aus der Zeit des Vormärz abgegeben haben.

[8] Vgl. Paul M. Sweezy, 'The Theory of Capitalist Development', New York 1942, S. 163 ff.

[9] 'Theorien über den Mehrwert', J. H. W. Dietz, Stuttgart 1905 - 1910, Bd. III., S. 371.

[10] 'Die Akkumulation des Kapitals', a.a.O., 27. Kapitel, 3. 239.

[11] Ebenda, s. 423.

[12] Ebenda, s. 394.

[13] Ebenda, s. 431.

[14] Siehe: Tadeusz Kowalik, 'R. Luxemburg's Theory of Accumulation and Imperialism', in: "Problems of Economic Dynamics and Planning', Essays in Honour of Michael Kalecki, Warschau 1964, S. 203 ff.

[15] Siehe: 'Die Akkumulation des Kapitals', S. 424.

[16] Siehe: Lawrence R. Klein, 'The Keynesian Revolution', New York 1947, S. 134.

[17] Siehe: Joan Robinson, 'Über Keynes hinaus', S. 91.

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Quelle:
Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 120, Dezember 2019, Seite 120 - 126
Herausgeber: Forum Marxistische Erneuerung e.V. und IMSF e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. März 2020

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