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BERICHT/150: Das Alpha-Prinzip - Alte und neue journalistische Wortführer (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2009

Das Alpha-Prinzip
Alte und neue journalistische Wortführer

Von Stephan Weichert / Christian Zabel


So sehr sie Debatten weiterdrehen und publizistisch ausschlachten, man weiß noch nicht viel über den publizistischen Überbau in Gestalt der "Alpha-Journalisten". Welches professionelle Selbstverständnis, welche publizistischen Strategien haben die neuen Taktgeber? Und wie steht es um die Zukunft von Meinungsmachern in den neuen internetbasierten Medienwelten?


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Vor einiger Zeit wurde der amerikanische Neurowissenschaftler Robert M. Sapolsky in einem Interview mit dem Wirtschaftsmagazin Brand eins zum Sozialverhalten von Affen befragt. Sapolsky fand heraus, dass es keineswegs nur Muskelkraft und lautes Gebrüll braucht, um sich an der Spitze einer Gemeinschaft langfristig zu behaupten, sondern vor allem emotionale Intelligenz und soziales Durchsetzungsvermögen. Auf die Frage, wozu eine Horde Primaten einen Boss brauche, antwortete er: "Vor 30 Jahren glaubte man, das Alpha-Tier würde die Weibchen beschützen, seine Gruppe zu Futterplätzen führen und dafür sorgen, dass die besten Gene weitergegeben werden." Das alles habe sich jedoch als kompletter Unfug herausgestellt. Das nüchterne Fazit des Interviewten: "Die Gruppe braucht das Alpha-Tier also überhaupt nicht." Soweit die Rudeltheorie der Serengeti.

Die Alpha-Tiere der Berliner Republik, eine Handvoll Wortführer, hat ihr Führungsinstinkt und eine virtuose Selbstvermarktung weit nach vorne gebracht: Sie zählen nicht zwangsläufig zu den Edelfedern im Journalismus, sind in der Regel keine recherchierenden Wühlmäuse; vielmehr gelingt es ihnen, eifrig die politische Themenagenda zu (be)setzen und soziale Schwingungen im Lande mit medienwirksamen Statements aufzugreifen. Einige reizen auch gerne Pseudo-Ereignisse ohne jegliche Nachrichtenrelevanz für ihre Zwecke aus - während das Prekariat das Nachsehen hat.

Doch wo kommunikative Zugpferde und etablierte Blattmacher unlängst noch das Methusalem-Komplott witterten, eine Rückkehr der Religion prognostizierten oder Rettet den Kapitalismus forderten, warnt inzwischen die nächste Alpha-Generation vor dem "großen Ausverkauf der freien Meinung", propagiert ein "intelligentes Leben jenseits der Festanstellung" oder prägt geniale Sprachformeln wie "Die Welt ist eine Google". Zwar sind die alten und jungen Taktgeber der Branche bisweilen medial allgegenwärtig, stellen selbst aber eine unsichtbare Koordinate auf der Matrix des Mediengeschäfts dar.

Auf etwa 100 Personen schätzt Siegfried Weischenberg die Clique der alteingesessenen Zeremonienmeister, die in Mediendeutschland bislang den Ton angab, und die durch ihre publizistische Sonderstellung als Chefredakteure, Kolumnisten oder TV-Moderatoren die öffentliche Agenda prägen und dadurch automatisch Definitionsmacht ausüben: Sie arbeiteten bei überregional wahrgenommenen Leitmedien, genössen immense berufliche Freiräume, etwa für Buch- und Filmprojekte, und verdienten sehr gut - bis zu fünfstelligen Monatsgehältern, wenn man dem Hamburger Journalistik-Professor Glauben schenkt. Dabei sind die oberen Etagen des Medienbetriebs immer noch fest in Männerhand. Bei Spiegel, Wirtschaftswoche und Handelsblatt bleiben die leitenden Herren Journalisten unter sich, auch bei der Süddeutschen, FAZ, Focus, Stern und Zeit ist höchstens jede sechste leitende Position von einer Frau besetzt. Im Fernsehen, mit seinen stärker auf Ästhetik und Emotionalisierung bedachten Zwängen, herrscht weitgehend Gleichberechtigung. In Online-Medien - von Weischenberg noch unberücksichtigt - zeigt sich hingegen ein leichter Trend zu mehr Weiblichkeit in Führungspositionen.


Zweifacher Generationswechsel im politischen Journalismus

Das publizistische Establishment der späten Bonner Republik, dem schon Haudegen wie Manfred Bissinger, Helmut Markwart und Josef Joffe angehörten, schreibt in seinem vermutlich letzten Berufsjahrzehnt gegen die Glaubenswelt charismatischer Forty-Somethings wie Claus Strunz, Christoph Keese, Georg Mascolo, Kai Diekmann oder Giovanni di Lorenzo an, die inzwischen in den Chefetagen von Redaktionen und Verlagen reüssieren konnten - dicht gefolgt von der nächsten Journalistengeneration "Alpha 2.0", die sich haupt- oder nebenberuflich eher in digitalen Netzwerken zusammenschließt, als sich in der analogen Massenpublizistik zu verorten. Die neuen Stars der deutschen Medienszene arbeiten als Web-Kolumnisten, Blogger und Online-Chefredakteure primär im Internet und nebenbei auch als Moderatoren oder Buchautoren in klassischen Medien. Damit erweitert sich das publizistische Oeuvre: Biografisch-soziologische Reizthemen sind heute nicht mehr - wie in der Kohorte der Altmeister - Klassenkampf und Konsumkritik, sondern Klimawandel, Wirtschaftskrise und internationaler Terrorismus.

Auch der politisch-ideologische Habitus der Alpha-Tiere verschiebt sich damit zusehends. En vogue war bis vor kurzem noch ein kommoder, neoliberaler Wohlstandsjournalismus, der sich in rigiden Management-Qualitäten (Führungsstil, Blattmacher-Kompetenzen), aber auch in entsprechenden weltpolitischen Kommentierungen niederschlug: Wirtschaftsliberale wie Ulrich Reitz, Roger Köppel oder Wolfram Weimer wollen konservative Werte modern vermitteln und den Kapitalismus als Chance neu begreifen. Hinzu gesellen sich jetzt Pragmatiker der häufig als 'orientierungslos' gescholtenen 89er-Generation, die im bürgerlichen Milieu der späten Kohl-Ära aufgewachsen ist und später die Hochs und Tiefs der Medienkanzlerschaft Gerhard Schröders miterleben musste. Auch sie gestalten den Wandel hin zu einer weitgehend ideologiebefreiten Journalismuskultur, eher charakterisiert durch kommerziellen Konkurrenzkampf, 24-Stunden-Online-Nachrichten und konfektionierte Medienangebote als durch politische Nachhaltigkeit. Dem gegenüber stehen aber nach wie vor Querdenker, gegen die kein Kraut gewachsen ist: Bettina Gaus, Henryk M. Broder, Thomas Leif oder Sonia Mikich verteidigen gemeinsam mit Einzelkämpfern aus der Online-Sphäre wie Peter Glaser und Florian Rötzer das Berufethos eines kritisch-emanzipativen Journalismus wacker.

Nicht wenige unter den Wortführern bekennen politisch Farbe, wenn auch nicht immer so explizit wie Hans-Ulrich Jörges, Josef Joffe, Kai Diekmann oder Manfred Bissinger, die in der Rolle des Hilfspolitikers schon mal Wahlempfehlungen abgeben. Dem gegenüber stehen selbst ernannte Vertreter "absoluter Objektivität", zu denen insbesondere Bildschirmpersönlichkeiten wie Maybrit Illner, Peter Kloeppel, Frank Plasberg, Claus Kleber und Günther Jauch zählen - und das, obwohl man dem System Fernsehen häufig vorwirft, das Amalgam von Journalismus und Politik vorangetrieben zu haben. Die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern diese zu verändern, ist ebenfalls für einige Wortführer der "Next Generation" wie Holm Friebe, Markus Beckedahl oder den Blogger "Don Alphonso" vorstellbar, obwohl sich ihr politisches Selbstverständnis von dem der etablierten "Alphas" erheblich unterscheidet: Politische Befindlichkeiten werden stärker aus einer spielerisch-popkulturellen Perspektive beurteilt, verwurzelt zwischen digitalem Nomadentum und originärem Journalismusauftrag.

Die Alpha-Tiere unter den Journalisten balancieren das Öffentliche und das Private sehr unterschiedlich aus. Während einige ihre berufliche Prominenz mit sichtbaren Starallüren durch ein wohl kalkuliertes System der publizistischen Selbstveredelung perfektioniert haben - beispielhaft dafür stehen Großpublizisten wie Frank Schirrmacher, Hans-Ulrich Jörges oder Franz Josef Wagner -, will ein anderer Archetyp zwar öffentliche Wirkung erzielen, jedoch unerkannt bleiben. Dennoch sind die meisten Alpha-Journalisten talentierte Netzwerker: Journalisten-Vereinigungen wie das Netzwerk Recherche, in dem sich Hans Leyendecker und Thomas Leif im Vorstand engagieren, und das von Jochen Wegner gegründete jonet erlauben ein bundesweites Networking über die Berichterstattungsblase in Berlin-Mitte hinaus.


Medienlandschaft im Umbruch

Auch die professionellen Herausforderungen, mit denen sich die neuen Protagonisten konfrontiert sehen, unterscheiden sich gravierend und verändern den Journalismus in seinem Kern. Ein Blick auf die Krise in den USA verdeutlicht, dass die gesamte Medienlandschaft einen heftigen Umbruch durchleidet. Einige Zeitungen verschwinden von der Bildfläche, die Gesamtheit der traditionellen Medien ist inzwischen online, neue publizistische Felder mit kostengünstigen ökonomischen Konstellationen werden erschlossen. Dadurch wird sich auch das Machtgefüge derjenigen ändern, die diesen Medienwandel in unserem Land maßgeblich steuern und prägen. Gerade die kommenden Leitfiguren der Branche, die Teil einer aufstrebenden, völlig andersdenkenden Medienelite sind (selbst wenn viele von ihnen sich niemals als "Elite" verstehen würden), werden selbst zu Motoren eines Wandels, der die Konturen des professionellen Journalisten allmählich verblassen lässt.

Im Online-Journalismus werden inzwischen mehr und viel schneller politische Themen umgewälzt als dies noch vor einem Jahrzehnt der Fall war - Spiegel Online ist in Deutschland einer der treibenden Kräfte dieser Entwicklung. Neben dem veränderten Arbeitsalltag, der sich durch die technologischen Neuerungen ergibt, kristallisieren sich zugleich alternative Berufsfelder heraus: Das Tätigkeitsprofil eines "Community-Redakteurs" etwa, resultiert aus den erstarkten Interaktionsweisen zwischen Journalisten und Nutzern, die das Internet erst ermöglicht; die globalisierten Online-News haben zudem das Berufsbild des "Krisenreporters" erforderlich gemacht, das Journalisten wie Matthias Gebauer über Krisen und Katastrophen in Echtzeit berichten lassen. Hinzu kommt: Schon jetzt unterhalten viele Journalisten eigene Blogs, umgekehrt drängen immer mehr Blogger in die Sphäre der Profis vor. Auch wenn in Deutschland dieser Trend noch hinterherhinkt, deuten Blogs wie Bildblog, Basic Thinking oder Spreeblick an, dass massentaugliche Inhalte nicht zwingend in den bekannten journalistischen Gefäßen daherkommen müssen.

Wer nun einwendet, dass wir das Gebrüll und die Muskelspiele der Wortführer im Journalismus eigentlich gar nicht brauchen, der sei auf die Logik des Alpha-Prinzips verwiesen. Es besteht darin, dass wir uns nun mal gerne an den Meinungsverschiedenheiten prominenter Zeitgenossen reiben und uns erst so in der medialen Kakophonie mitunter auf schwergängige politische Themen einlassen.


Stephan Weichert (*1973) ist Professor für Journalistik an der Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation in Hamburg und Projektleiter am Institut für Medien- und Kommunikationspolitik in Berlin. Ende Februar erscheint der Band Die Alpha-Journalisten 2.0. Deutschlands neue Wortführer im Porträt.
s.weichert@macromedia.de

Christian Zabel (* 1976) ist Vorstandsassistent bei der Deutschen Telekom AG. Zuvor arbeitete er u.a. als freier Journalist. Zuletzt erschienen: Wettbewerb im TV-Produktionssektor. Produktionsprozesse, Innovationsmanagement und Timing-Wettbewerb (VS-Verlag 2009).


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2009, S. 54-57
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. März 2009