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FILM/041: Neben der Spur (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 163 - Heft 01/19, 2019
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Neben der Spur

Von Ilse Eichenbrenner


Aufmerksame Leser haben es bereits bemerkt: Filmknäcke geht nicht nur ins Kino! Denn auch Öffentlich-Rechtliche und Streamingdienste zeigen interessante Filme und Serien. Außerdem können Sie diese Filme auch noch sehen, nachdem Sie meine Besprechung in der SP gelesen haben. Aus den Kinos sind die von mir besprochenen Filme meistens längst verschwunden; nur bei den Berlinale-Filmen bin ich Ihnen immer um ein paar Monate voraus.


Maniac

Mit großer Spannung war der Start der amerikanischen Miniserie "Maniac" erwartet werden. Basierend auf einer norwegischen Serie sollte es um psychisch Kranke und Medikamentenversuche gehen. Regisseur Fukunaga wird seit der Serie "True Detective" unter Liebhabern des Genres als Genie gehandelt. Auch die Namen der beiden Hauptdarsteller (Emma Stone und Jonah Hill) versprachen Filmknäcke Trost und Nahrung zum Abgang dieses traumhaften Sommers.

Ich will Sie nicht mit einer langen Inhaltsangabe quälen. Denn "Maniac" ist vielleicht ein bisschen manisch, aber absolut kein Psycho-Film. Annie und Owen haben unterschiedliche biopsychosoziale Probleme. Sie ist arm, seine Familie ist reich. Aus unterschiedlichen Gründen landen beide bei einer Psychopharmaka-Studie.

Zusammen mit den anderen Probanden müssen sie jeweils eine Pille schlucken, die sie in einen fantastischen Traumzustand versetzt. Diese Sequenzen sind "Filme im Film" und teilweise echt lustig: Beide sind plötzlich ein Profi-Pärchen mit Kindern und jagen einem wertvollen Lemur hinterher, dann sind sie Hauptakteure in einer nostalgischen Gangster-Story, zuletzt irren sie wild kostümiert durch eine Fantasywelt im Stil von "Herr der Ringe".

Ungewöhnlich sei - so wird immer wieder betont -, dass beide in ihren Episoden miteinander verknüpft sind. Auch im wahren Leben kommen sie sich ein wenig näher. Rund um die Traumszenen herum agieren völlig überdrehte Forscher, denen ihre Computer über den Kopf wachsen. Jede Szene ist prall gefüllt mit filmischen Zitaten, absurden Details, überdrehten Anspielungen und Fundstücken aus Science-Fiction- und Trash-Filmen. Am Ende der mich völlig überfordernden Handlung landet Owen in der Klapse, und Annie befreit ihn. Es ist eine Psycho-Anstalt, in der die Patienten eine rote Uniform tragen müssen und Owens Entweichen zu einem riesigen Tumult führt. Die psychischen Störungen der beiden bleiben obskure Behauptung; eine Philosophie oder so etwas wie eine Logik der Ereignisse hat sich mir nicht erschlossen. Der ganze Quatsch ist technisch ungeheuer brillant und wirkt wie eine XXL-Tüte mit Süßkram: Man weiß, dass einem schlecht wird, und kann trotzdem nicht aufhören. Vielleicht erging es dem genialen Regisseur ebenso.


Leave no Trace - Hinterlasse keine Spur

Es ist nicht der zweite Film von Debra Granik, aber der zweite Film, der (nach dem Meisterwerk "Winter's bone") international Beachtung findet. Granik orientiert sich am Realismus; ihre Filme wirken authentisch, dokumentarisch und sind doch Fiktion. "Leave no Trace" basiert auf einer wahren Begebenheit. Das 13-jährige Mädchen Tom lebt zusammen mit seinem Vater in einem großen Park. Sie haben sich hier gut eingerichtet, sammeln und jagen und üben regelmäßig Überlebenstechniken und das spurlose Verschwinden. Ab und zu gehen die beiden in die Stadt, kaufen ein und besuchen eine Beratungsstelle für Veteranen. Mir ist nicht ganz klargeworden, ob der Vater dort seine finanzielle Unterstützung abholt. Auf jeden Fall erhält er Medikamente, die er auf dem Schwarzmarkt vertickt. Denn Toms Dad ist ein Veteran, und er hat eine posttraumatische Belastungsstörung. Der Film wirft kurze Blicke in ein Milieu am Rande der US-Gesellschaft: Männer, die im Krieg waren, die bei jedem Geräusch erschrecken, die in Zelten hausen, Drogen nehmen und sich nur gegenseitig verstehen. Tom und ihr Vater gehen beladen mit Lebensmitteln zurück in den riesigen Park, wo sie entdeckt werden. Nach der Festnahme bringt man sie in eine soziale Einrichtung. Sie werden erstaunlich behutsam befragt, eingeschätzt und von einer Sozialarbeiterin zu einem Farmer gebracht, der Weihnachtsbäume anbaut und ihnen einen Bungalow überlässt. Tom lebt sich ein, findet erste Kontakte und fühlt sich allmählich wohl, doch mitten in der Nacht reißt sie der Vater hoch, weil er wieder weg will. Sie wechseln mit dem Bus den Bundesstaat, irren durch die Wälder und finden in eisiger Kälte eine Hütte, die sie aufbrechen. Der Vater will Lebensmittel besorgen und verletzt sich auf dem Rückweg das Bein. Tom holt Hilfe in einer kleinen Siedlung, wo alte Hippies und andere Aussteiger in einem Wohnwagencamp hausen. Ihr Vater wird von ihnen abtransportiert und medizinisch versorgt; der Sommer kommt, und mit ihm die abendlichen Gesänge am Lagerfeuer. Diese Menschen sind tolerant und freundlich, und Tom hat endlich eine Heimat gefunden. Als ihr Vater wieder losziehen will, kann sie das erste Mal sagen, dass sie nicht mit ihm gehen wird. Verzweifelt akzeptiert er ihren Entschluss. Er packt seinen Rucksack und verschwindet im Wald. An einem der Bäume hängen die Frauen der kleinen Gemeinschaft immer wieder einen Sack mit Lebensmitteln auf. Sie versorgen einen Veteranen, den man seit Jahren nicht mehr gesehen hat.

Außergewöhnlich gut gelingt Granik die Beobachtung der kleinen Leute, der Alten und Kinder, der Außenseiter und Eigensinnigen. Sie sind vielleicht alle Opfer, aber sie kümmern sich umeinander, beruflich und privat. Sozialarbeiterinnen sind vielleicht erfolglos, aber bemüht, und die Kinder, die im Kaninchenzüchterverein das Präsentieren ihrer Karnickel üben, nehmen das fremde Mädchen freundlich in ihrer Runde auf. So wird hier der "White Trash" endlich einmal zum Sympathieträger eines ganzen, inzwischen ausgezeichneten Kinofilms.


Endlich trocken. Wege aus der Sucht

Andrea Rothenburg, deren Filme ich an dieser Stelle nachdrücklich empfehle, hat wieder einen ihrer bemerkenswerten Dokumentarfilme fertiggestellt. Sie hat in zwei Einrichtungen alkoholkranke Menschen besucht, um ihnen vor der Kamera das Wort zu geben.

In der vollstationären soziotherapeutischen Einrichtung Ahornhof in Schleswig-Holstein gilt das Abstinenzgebot. Hier leben und arbeiten Männer und Frauen seit Jahren und Jahrzehnten. Sie haben eine Heimat gefunden. Die Suchttagesstätte Altas in Berlin-Wedding war die erste ihrer Art und ist in der Berliner Szene durchaus berühmt. Hier werden auch Rückfälle akzeptiert und begleitet. Auch bei Altes berichten Männer und Frauen in sehr kurzen, thematisch sortierten Sequenzen darüber, wie sie alkoholabhängig wurden und wie sie nun versuchen, clean bzw. trocken zu bleiben. Den jungen Studierenden ist häufig gar nicht klar, wie extrem zerstörend Drogen und Alkohol wirken. Mir ging es genauso.

Mich hat an diesem Dokumentarfilm enorm beeindruckt, dass die verheerenden Folgen der Sucht gezeigt werden und die Protagonisten gleichzeitig ganz offensichtlich geschätzt, gewürdigt, vielleicht sogar geliebt werden. Denn auch die Sozialarbeiterinnen und Ergotherapeuten der beiden Projekte kommen zu Wort, erklären und kommentieren, ohne zu dozieren. Die Betroffenen sprechen sehr offen über ihre prekären Vorgeschichten. Sie berichten vom Entzugsdelir und von epileptischen Anfällen, von Gewalt und Suizidversuchen; mehrere der Hauptdarsteller lagen bereits im Koma. Sie reflektieren, jeweils im Wechsel, über ihre Wünsche und Träume. Was hat ihnen geholfen? Die meisten sind äußerlich gezeichnet vom exzessiven Konsum; sie sind ungeheuer dankbar für die Chance, die sie in den Einrichtungen erhalten. Und in der Tat staunt man über die Großzügigkeit des deutschen Sozialsystems. Ich habe den Film im Rahmen der Berliner Woche der Seelischen Gesundheit gesehen. Der Leiter eines Sozialpsychiatrischen Dienstes wollte in der anschließenden Diskussion tatsächlich wissen, wie man denn gegenüber dem Sozialamt begründen könne, dass seit mehr als 20 Jahren die Eingliederungskosten hierfür übernommen werden. Und ob das BTHG hier nicht zukünftig Grenzen setze.

Ich finde, dieser Film sollte in den unterschiedlichsten biopsychosozialen Disziplinen, wenn zum Thema Abhängigkeitserkrankungen aus- und fortgebildet wird, seinen Einsatz finden. Er zeigt die tragische Wucht der Sucht und macht gleichzeitig Betroffenen und Profis Mut.


Auf meiner Haut

Auch Stefano Cucchi (Alessandro Borghi) ist süchtig. Zwar hat er schon mehrere Langzeittherapien hinter sich, aber er konsumiert noch immer. Seine Eltern trauen ihm nicht mehr über den Weg, trotzdem hat ihm der Vater einen Job in seiner Firma gegeben. Eines Tages wird Stefano von der Polizei kontrolliert. Er hat eine größere Menge Drogen bei sich, angeblich zum Eigenbedarf. Er wird festgenommen und noch auf der Polizeiwache verprügelt. Die Schläge und Tritte werden nicht gezeigt; doch die fatalen Spuren der Misshandlung sind deutlich zu sehen, innere Verletzungen sind zu ahnen.

Der Film zeigt fast unerträglich minutiös die folgenden Tage bis zu seinem Tod. Er zeigt, wie verzweifelt und erfolglos sich die Eltern um Kontakt bemühen; er zeigt die Verlegung auf eine Krankenstation, auf der sich Stefano weiterhin extrem abweisend und mürrisch verhält. Dass Stefano kein Sympathieträger ist, macht diesen Film so andersartig und gleichzeitig anstrengend. Die Story hat eine authentische Grundlage, die in Italien ein breites Echo gefunden hat. Im Rahmen des Angebots von Netflix ist dies ein ungewöhnlich harter Film, der außerdem nur in der Originalfassung mit Untertiteln zu sehen ist.


Elternschule

Die Einladung zur Pressekonferenz hatte ich zur Seite gelegt. Babys und kleine Kinder in einer psychosomatischen Klinik - nicht meine Baustelle. Doch dann brach im Netz ein wahrer Shitstorm gegen die beiden Filmemacher und vor allem das therapeutische Personal dieser Kinderklinik in Gelsenkirchen aus. Also habe ich mich auf den Weg in eines der beiden Kinos gemacht, die in Berlin diesen Dokumentarfilm zeigen. Die mediale Debatte hatte natürlich dafür gesorgt, dass das Kino gut gefüllt war.

Worum geht es? Das Team hat in der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen gedreht, Abteilung "Pädiatrische Psychosomatik". Hier landen Eltern, die am Ende sind. Ihre Kinder schlafen nur selten, aber schreien viel, werden wütend oder essen kaum etwas. Eine Mutter meint, dies sei der letzte Versuch. Wenn er scheitere, dann müsse das Kind ins Heim. Im Zentrum des Films steht der Leiter der Abteilung, der Psychologe Dietmar Langer. Zweimal wöchentlich hält er Vorträge und versucht, den Eltern das Verhalten ihrer Kinder zu erklären. Er malt viele Pfeile an die Tafel, spricht von Regulationsstörungen und chronischem Stress. immer wieder zeigt er den Teufelskreis auf, in dem sich Kinder und Eltern verstrickt haben. Dieser Kreis müsse durchbrochen werden. Die Eltern sollten lernen, wieder Grenzen zu setzen und das Heft in die Hand zu nehmen. Dazu bleiben Eltern und Kinder mindestens drei Wochen gemeinsam auf der Station.

Es gibt Trainings für Essen und Schlafen und Verhalten; alles wird gefilmt und von den Mitarbeiterinnen beobachtet. Mütter müssen sich von ihrem Kind trennen und aushalten, dass das Kind nach ihnen schreit. Sogar in der Nacht liegt das Kind beim Schlaftraining in einem Bett mit hohen Gittern allein in einem dunklen Raum mit Babyphone; regelmäßig schaut eine Mitarbeiterin nach dem Kind. Man hört Langer im Gespräch mit Eltern und Kindern; er ist unermüdlich, leidenschaftlich und überzeugend. Am Ende des etwas zu lang geratenen Films ist die Beziehung zwischen Eltern und Kind reguliert, die Machtkämpfe sind entschieden, und das Kind ist besiegt. Nach einigen Monaten folgt ein kurzer Kontrollaufenthalt, und die Erfolge haben sich verstetigt. Ganz ehrlich - mich hat das Konzept überzeugt. Gewöhnungsbedürftig ist die kühle, wenig empathische Haltung der Mitarbeiterinnen, wenn sie die Kinder füttern, mit ihnen spielen oder um den See laufen. Aber es gehört wohl dazu, dass nicht ständig gelobt und betüddelt wird. Gleichzeitig wischen sich die Mütter ständig die Tränen aus den Augen.

Ich habe keine Ahnung von Kleinkinderziehung. Als Kindergärtnerin habe ich tobende, schreiende, beißende und verweigernde Kinder erlebt. Aber nur äußerst selten. Das waren die ersten Minuten, nachdem die Mütter sich verabschiedet haben. Nicht auszudenken, wenn das rund um die Uhr auszuhalten wäre.

Im Netz sind viele entsetzte Statements zu finden, von Experten und Eltern. Es läuft eine Petition, die das Ausstrahlungsende des Films und die Überprüfung der Klinikabteilung fordert. Gleichzeitig findet sich auch ein positiver Pressespiegel auf der Website www.elternschulefilm.de. Es wurde eine leidenschaftliche Debatte ausgelöst - mehr kann ein Film nicht erreichen.

Wem das jetzt alles zu schwer ist, der kann sich auf Netflix mit einer Art Vorabendserie entspannen.

Atypical sind Episoden für die müde Psycho-Arbeiterin und ihre ganze Familie. Die Serie handelt von einem Jungen, der etwas neben der Spur ist, und von seiner Familie. Man lernt darin eine Menge über Pinguine und Autisten und amerikanisches family life.

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Atypical
USA 2017/2018
Serie auf Netflix
D: Jennifer Jason Leigh, Keir Gilchrist

Auf meiner Haut (Sulla mia pelle)
Italien 2018 (OmU); 100 Min.
Seit 12. September 2018 auf Netflix
R: Alessio Cremonini
D: Alessandro Borghi, Jasmine Trinca, Andrea Lattanzi

Elternschule
Dokumentarfilm Deutschland 2018; 120 Min.
R: Jörg Adolph, Ralf Bücheler

Endlich trocken. Wege aus der Sucht
Dokumentarfilm Deutschland 2018; 90 Min.
R: Andrea Rothenburg
DVD im Handel oder per info@psychiatrie-filme.de

Leave no Trace
USA 2018; 108 Min.
R: Debra Granik
D: Thomasin McKenzie, Ben Foster

Maniac
USA 2018
Miniserie auf Netflix
R: Cary Joji Fukunaga
D: Emma Stone, Jonah Hill

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 163 - Heft 01/19, 2019, Seite 54 - 56
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juli 2019

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