Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → FAKTEN

FORSCHUNG/086: Studie zu der Rolle Sozialer Medien während der tunesischen Revolution (idw)


Universität Siegen - 29.01.2013

Decknamen für die Facebook-Kommunikation

Wirtschaftsinformatiker der Universität Siegen untersuchten im Rahmen einer Studie die Rolle Sozialer Medien während der tunesischen Revolution.



Sidi Bouzid ist ein eher kleines Städtchen. Rund 200 km südlich von Tunis gelegen, zählt es etwa 40.000 Einwohner. Vor gut zwei Jahren hat es - wenn auch eher traurige - Bekanntheit erlangt. In Sidi Bouzid verbrannte sich am 17. Dezember 2010 der junge Händler Mohamed Bouazizi. Er erlag am 4. Januar 2011 seinen Verletzungen. Die Selbstverbrennung war in seiner Heimatstadt Anlass für Demonstrationen. Diese weiteten sich über nahezu ganz Algerien aus, mündeten im Sturz des Ben Ali-Regimes und schließlich im Arabischen Frühling.

Soziale Medien spielten während der tunesischen Revolution eine ganz besondere Rolle in der Kommunikation. Wie es genau darum bestellt war, wollten der Siegener Medieninformatiker Prof. Dr. Volker Wulf sowie seine Ko-Autorinnen und -Autoren Kaoru Misaki, Meryem Atam, David Randall und Markus Rohde genau wissen. Sie recherchierten nicht zuletzt vor Ort. Wulf: "Wir wollten ein Jahr nach der Revolution schauen, wie es in Tunesien aussieht." Reiseziel war auch Sidi Bouzid. Wulf und seine Frau Kaoru Misaki kamen in der Stadt und auf ihrer Reise mit vielen Menschen in Kontakt und ins Gespräch. Meryem Atam konnte bei der Vor-Ort-Recherche auf vorhandene Netzwerke und somit auch auf einen Vertrauensbonus ihrer Interviewpartner bauen. Auf der Basis von rund zwei Dutzend zum Teil sehr langer Interviews erhielten die Forscher Einblicke in Art und Weise des Informationsflusses während der tunesischen Revolution und ganz besonders in Sidi Bouzid. Wulf: "Wir wollten besser verstehen, welche Rolle Social Media in politischen Prozessen spielen und mit welchen Tools man Beteiligungsprozesse ermöglicht." Eine Feld-Studie entstand.

Die Ergebnisse erstaunen: Nicht - wie vielfach kommuniziert - Twitter, sondern Facebook und Satellitenfernsehen (Al Jazeera, France 24) waren in Tunesien die Leitmedien. Internet an sich war zur Zeit des Aufstandes in Sidi Bouzid noch nicht weit verbreitet. Es gab fünf Internet-Cafés, einige Schulen hatten Internet-Zugang. Mobiltelefone und Smartphones indes waren unter der recht großen gebildeten Schicht der Jugendlichen, von denen viele keine Zukunftsperspektiven sahen, häufiger anzutreffen. Neben der eingebauten Kamera boten Smartphones mobilen Internetzugang. Das Ben-Ali-Regime hatte aus politischen Gründen Internetseiten gesperrt, nicht aber die von Wikileaks. Wikileaks veröffentlichte amerikanische Dokumente, die die Korruptheit der Ben-Ali-Familie belegten sowie die Zusammenarbeit zwischen Israel und dem Herrscher-Clan. Diese Information erhielten die Tunesier in der Regel nicht über Wikileaks selbst, sondern über Satellitenfernsehen von Al Jazeera und France 24, da alle terrestrischen Fernsehstationen in Tunesien staatlich kontrolliert waren. Satellitenfernsehen trug dazu bei, die Nachrichten über die Demonstrationen auch außerhalb der Landesgrenzen zu verbreiten. Dabei hatte Al Jazeera kein Studio in Tunesien. Dennoch brachte der Sender zuerst die News von der Selbstverbrennung. Zwei Versionen zur Nachrichtenübermittlung gibt es. Eine besagt, Augenzeugen hatten mit ihren Handys Aufnahmen gemacht. Ein Aktivist lud das Videomaterial über Facebook hoch. So gelangte auch der Satellitensender an Bilder und Infos. Das würde bedeuten, dass das traditionelle Medium über das neue Medium Facebook gespeist wurde. Der zweiten Version zufolge wurde ein aus Sidi Bouzid stammender Al Jezeera-Journalist informiert und suchte dann Leute, die Auskünfte geben können. Demnach hätte das alte Medium eine größere und aktivere Rolle gespielt. Ungeachtet dieser unterschiedlichen Darstellungen stimmen beide Informanten überein, dass Facebook eine tragende Rolle dabei spielte, Al Jazeera Material zukommen zu lassen. Die Demonstranten fuhren fort, Fotos und Videos über Facebook und weiter über Satellitenfernsehen zu verbreiten. Viele Aktivisten nutzten ihr Facebook-Netzwerk, um Leute außerhalb Sidi Bouzids über die Vorgänge in der Stadt aufmerksam zu machen, zumal viele junge Leute in anderen Städten studierten. Diese landesweiten sozialen Netzwerke scheinen eine Grundlage dafür zu sein, warum das politische Geschehen in Sidi Bouzid schnell in ganz Tunesien und darüber hinaus bekannt wurde.

Facebook spielte ebenfalls beim Organisieren der Unruhen eine große Rolle. Die Demonstranten nutzten dieses Medium, um sich abzusprechen. Obwohl das herrschende Regime technisch nicht in der Lage war, diese Kommunikation gänzlich zu unterbinden, gingen Ordnungshüter doch gegen Nutzer vor. Das zwang die User dazu, Decknamen zu nutzen, um sich vor Verfolgung zu schützen. Gewieftere Nutzer versuchten, ihre Identität über Proxy Server, Hotspots oder über andere Wege zu schützen. Sobald ein Facebook-Account von den Autoritäten geschlossen wurde, wurde ein anderer unter neuem Namen eröffnet. Die wirkungsvollste Maßnahme des Regimes gegen die Social-Media-Kommunikation war, die Geschwindigkeit der Übertragung durch Manipulation lokaler Versorger zu reduzieren. Es dauerte dann lange, Videos über Facebook hochzuladen. Die Demonstranten schickten im Gegenzug Material in geringer Auflösung über E-Mail ins Ausland und baten Freunde, dieses über Facebook öffentlich zu machen. Am 14. Januar 2011 schließlich dankte das Ben Ali-Regime ab.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution198

*

Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Siegen, Katja Knoche, 29.01.2013
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Januar 2013