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FRAGEN/006: Wissenschaft und Gesellschaft - Im Umbruch (research*eu)


research*eu Nr. 56 - Juni 2008
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Wissenschaft und Gesellschaft - Im Umbruch

Interview mit Bernard Schiele von Delphine d'Hoop


In seiner Eigenschaft als Professor an der Universität Quebec in Montreal (UQAM) und Forscher am Interuniversitären Forschungszentrum für Wissenschaft und Technologie (Centre interuniversitaire sur la science et la technologie, CIRST) hat Bernard Schiele zahlreiche Arbeiten über die Rolle und die Wirkung der Museen und Medien bei der Verbreitung von Informationen und Wissenschaftskultur veröffentlicht (1). Anlässlich seines Aufenthalts in Barcelona bringt er für uns die Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft noch einmal auf den Punkt.


Der Begriff "Wissensgesellschaft" ist mittlerweile allgegenwärtig in den Reden und Zielsetzungen der Politiker. Hat sich der den Wissenschaften in der sozialen Organisation eingeräumte Platz verändert? Wie stehen die Bürger dieser Entwicklung gegenüber?

Im Laufe der letzten Jahrzehnte sind die Wissenschaften immer komplexer geworden, und zwar auf zweierlei Weise. Erstens haben sie sich formalisiert, was ihrer natürlichen Entwicklung entspricht. Dies setzt nicht nur eine Sprache voraus, sondern auch eine Gemeinschaft, die diese teilt, sowie eine Denkweise in und durch diese Sprache. Selbstverständlich erfordert deren Beherrschung eine lange Lehrzeit. Anders gesagt, die Wissenschaften werden abstrakter, präziser und technischer, und es wird schwieriger, sie sich anzueignen, und zwar in allen Bereichen.

Zweitens kann man eine konstante Diversifizierung beobachten. In seinem Bestreben, diese unzähligen, nebeneinander koexistierenden Disziplinen möglichst treffend zu beschreiben, bedient sich der französische Physiker und Essayist Jean-Marc Lévy-Leblond des Begriffs "Archipel der Wissenschaften". Aufgrund dieser Doppelentwicklung kann die Formulierung der Fragen zwischen der wissenschaftlichen und der journalistischen Gemeinschaft natürlich keine einfache Angelegenheit sein.

Ein weiteres grundlegendes Problem besteht in der Tatsache, dass die Wissenschaften immer stärker in unseren Alltag eindringen, wobei sie unseren Bezug zur Wirklichkeit kontinuierlich verändern. Einerseits, indem sie unsere Umwelt verändern - namentlich durch neue Technologien -, und andererseits, indem sie uns dazu zwingen, die Ideen, auf die wir uns stützen, um unsere Wirklichkeit zu verstehen, systematisch zu revidieren. Eine der größten Schwierigkeiten in unserem Verhältnis zur Wissenschaft ist darauf zurückzuführen, dass sie die im Laufe unserer Kindheit und unserer Erziehung erarbeiteten Konzepte, mit denen wir die Realität verstehen, umstoßen. Wir bewegen uns also ständig zwischen zwei extrem komplexen Spielräumen.

Wie wirken sich diese Schwierigkeiten auf den Kommunikationsprozess der Wissenschaften mit einem breiten Publikum aus?

Die genannten Entwicklungen erleichtern natürlich keineswegs die Kommunikation zwischen einem Publikum und den Wissenschaftlern. Meines Erachtens wird es immer Spannungen, namentlich zwei wirtschaftliche Zwänge, gehen. Der erste betrifft die Rolle, die die Wissenschaften als Unterstützung, wirtschaftlicher Motor oder systematisches Wiederbelebungselement der Innovation spielen. Die Wissenschaften stehen immer mehr unter dem Druck, innovative Entwicklungen vorlegen zu müssen, da auf Letztere für die Erhaltung der Rentabilität oder Handelsproduktion und Ähnlichem nicht verzichtet werden kann.

Die zweite Problematik betrifft die Entwicklung und den Wandel des Journalistenberufs, der angehalten ist, sich in einer globalisierenden wirtschaftlichen Struktur zurechtzufinden, die so integriert ist wie nie zuvor. Die Medien selbst werden von einer Welle erfasst, in der sie miteinander verschmelzen und in der Imperien errichtet werden, die eine wachsende Anzahl von Medien kontrollieren, deren Funktionen diversifizieren und andere Märkte anpeilen. Das impliziert, dass eine bestimmte Art von Informationen für ein bestimmtes Publikum produziert werden muss, das es zu befriedigen gilt.

Fügt man diesen wirtschaftlichen Zwängen hinzu, dass auch die Wissenschaften immer komplexer werden, erleichtert das die Sache keineswegs. Daher denke ich, dass es keine einfache Antwort gibt, aber das ist unsere Realität.

Befindet sich der Beruf des Forschers im Umbruch?

Zunächst einmal stimmt es, dass die Wissenschaftler nicht mehr machen können, was sie wollen. Da sich die Frage der Legitimität der Rolle der Wissenschaften immer häufiger stellt, verspürt die Wissenschaftsgemeinschaft selbst das Bedürfnis, Mechanismen für die Kommunikation mit der Gesellschaft zu entwickeln. Das ist noch dringlicher für die jungen Wissenschaftler, die mit den neuen Medien aufgewachsen sind, diese gehören für sie zum normalen Alltag. Sie bilden noch dazu ein Umfeld, in dem sie sich pudelwohl fühlen. Eine Wissenschaft erfährt einen regelrechten Auftrieb, wenn sie denn in der Lage ist, sich besser auszutauschen und besser zuzuhören, vor allem weil die Gesellschaft das - berechtigterweise - verlangt. Sie beobachtet dies auch, um die Auswirkungen der wissenschaftlichen Entwicklung zu ermessen, und zwar im wirtschaftlichen Sinne. Natürlich drohen die Debatten schwieriger zu werden, aber auf lange Sicht werden sie auch beständiger, positiver für viele Menschen sein.

Wie sehen Sie die Debatten über die jüngsten Arbeiten des IPCC? Manche gehen davon aus, dass sie politische statt wissenschaftliche Ziele verfolgen...

Die Frage des Klimawandels ist auf jeden Fall das beste Beispiel für die neue Diskussion zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, denn trotz aller wirtschaftlichen Herausforderungen ist die Umweltfrage mittlerweile ein universelles Thema. Natürlich gibt es immer noch reaktionäre Regierungen, die sich aus verschiedenen Gründen weigern, diese Tatsache hinzunehmen. Trotzdem ist die Debatte jetzt da, was äußerst konstruktiv ist.

Im Hinblick auf einen möglichen Komplott, der dazu dienen soll, politische Entscheidungen wissenschaftlich zu untermauern, bleibe ich eher gelassen: Die Gesellschaft ist mittlerweile viel zu komplex geworden, als dass selbst die einflussreichsten Gruppen sie ständig lenken, manipulieren und den Diskurs organisieren könnten. In Wirklichkeit intervenieren die Akteure immer mehr und interagieren untereinander. Und der soziale Dialog findet statt. Kollektive Fragen tauchen auf. Es gibt Herausforderungen und die Akteure versuchen, deren Argumente unter Kontrolle zu bringen, so viel steht fest. Interessen werden verteidigt. Aber das Spiel der Interessen ändert letztendlich die Dynamik der Debatte. Das sehe ich eher positiv.


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Eine Kommunikationsangelegenheit

Seitdem sich die wissenschaftlichen und metaphysischen Denkweisen im 18. Jahrhundert voneinander getrennt haben, entwickeln sich Vulgarisierung und Wissenschaft Seite an Seite, um die Wissensverbreitung zu fördern, aber freilich nicht, ohne Diskussionen auszulösen. Die Enzyklopädie der Aufklärung zeigt diesen Willen zur Verdrängung des Obskurantismus auf. Im 20. Jahrhundert durchläuft die Gesellschaft einen tief greifenden Wandel, der vor allem durch die industrielle Entwicklung ausgelöst wird. Es ist die Zeit der Weltausstellungen, die den Medien in ihrer Rolle als wichtigste Träger der Mediatisierung der Wissenschaft vorauseilen.

Im Laufe der letzten 30 Jahre führten die wissenschaftlichen und technischen Entdeckungen zu dem Begriff "Wissenschaftskultur". Diese bereitet die Gemüter eher auf die verschiedenen Formen der Industrialisierung vor, als dass sie die Entwicklung einer reflexiven und kritischen Haltung fördert, obwohl in dieser Hinsicht eine hohe Erwartungshaltung herrscht. Denn die Wissenschaft entwickelt sich weiter, sie nähert sich der Gesellschaft an, während das lineare wissenschaftlich-technisch-industrielle Modell in Frage gestellt wird. Auch ihre Publizität ist vom Wandel betroffen, insbesondere durch die Kultur, die Mediatisierung und die Kontroversen.

Anmerkung
(1) Sieht dazu auch das Interview von Bernard Schiele in FTE Info Nr. 51.


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Quelle:
research*eu Nr. 56 - Juni 2008, Seite 8-9
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Oktober 2008