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FRAGEN/014: Dokumentarfilmerin Nezahat Gündogan - Die verschollenen Töchter Dersims (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 114, 4/10

Die verschollenen Töchter Dersims
Interview mit der Dokumentarfilmerin Nezahat Gündogan

Von Helga Neumayer


1937-38 kam es in Dersim (Tunceli) zu einem Massaker an der Bevölkerung durch die türkische Armee. Die multinational geprägte Region war mehrheitlich kurdisch-alevitisch und deshalb besonders von der Politik der nationalen und religiösen Homogenisierung der Türkischen Republik betroffen. Gewaltsam sollte eine völkisch und religiös einheitliche Identität geschaffen werden. In der Folge kam es zur systematischen Vernichtung von zehntausenden Menschen und zu Massenvertreibungen in mehrheitlich türkisch und sunnitisch besiedelte Gebiete. Ein speziell grausamer Aspekt dieser Politik war die Verschleppung von Mädchen, die zur türkisch-sunnitischen Assimilierung an Internatsschulen oder Offiziersfamilien aufgeteilt wurden und Zwangsarbeit leisten mussten. Die Regisseurin Nezahat Gündogan(1) ging diesem - in der Türkei als Tabu behandelten - Thema auf den Grund und begab sich auf eine dreijährige Recherchetour, um Überlebende von damals zu befragen. Der vorliegende Dokumentarfilm "Die verschollenen Töchter Dersims" (Iki Tutam Saç - Dersimin Kayip Kizlari), der bei den VI. Kurdischen Filmtagen Anfang November in Wien mit großem Erfolg aufgenommen wurde, ist nur ein Teil der berührenden Geschichten von Familien, die die seit damals Vermissten bis heute beweinen, und von Kusinen, die als Greisinnen nach mehr als 70 Jahren erstmals wieder zusammenfinden.


FRAUENSOLIDARITÄT: Wie sind Sie zum Thema Ihres Dokumentarfilmes gekommen?

NEZAHAT GÜNDOGAN: Ich bin selbst aus der Region Dersim. Die Kultur und Geschichte ist mir nicht fremd, aber ich wollte mich dem Massaker von 1938 als Dokumentarregisseurin nähern. Es gab sehr wenig Material. Der Staat hält die Dokumente geheim und öffnet die Archive nicht. So habe ich selbst Kontakt mit den Personen aufgenommen. Dersim ist eine Region, wo in jeder Familie so ein Schicksal zu finden ist, wenn man nachfragt. Das habe ich gemacht. Ich habe Menschen, die das Massaker überlebt haben, gefunden. Die Informationen stammen hauptsächlich von diesen Menschen.

Bei meiner Nachforschung habe ich entdeckt, dass das Schicksal der Frauen und der Kinder das Schrecklichste war, deswegen das Thema des Films. Ich habe von diesen Menschen, die das Massaker überlebt haben, oft gehört, dass sehr viele Frauen vergewaltigt wurden, dass sie ihre Kinder zurücklassen mussten und dass sie Selbstmord begangen haben, um den Vergewaltigungen, die an der Tagesordnung waren, zu entgehen. Diese Menschen haben sehr großes Leid erfahren. Ich glaube, dass ich mit diesem Projekt zu den dunklen Flecken der Geschichte Dersims vorgedrungen bin.

FRAUENSOLIDARITÄT: Wo ist der Film in und außerhalb der Türkei gezeigt worden, und wie wurde er aufgenommen?

NEZAHAT GÜNDOGAN: Außerhalb der Türkei wurde der Film in Armenien, in Deutschland und jetzt in Österreich gezeigt. In der Türkei ist er bei vielen wichtigen Filmfestivals gelaufen, z. B. in Istanbul beim türkischen Dokumentarfilmfestival und in Antalya beim Filmfestival "Goldene Orange". Aber es gab auch viele private Vorstellungen, die von Universitäten oder Vereinigungen veranstaltet wurden, z. B. in Diyarbakir und in Adana. Der Film hat schon in seiner Entwicklungsphase großes Interesse in der Türkei geweckt. Da sich aber viele Intellektuelle in der Türkei dieses Themas angenommen haben, konnte der Staat nicht dagegen vorgehen, obwohl ihm der Film gegen den Strich geht. Der Film berührt so viele Menschen, weil er nur Menschliches zeigt, es ist keine Propaganda. Die Menschen schildern einfach ihr Schicksal. Und so kann der verbissenste Nationalist in der Türkei bei diesen Bildern nicht sagen, dass das in Ordnung war, was damals passiert ist.

FRAUENSOLIDARITÄT: Wurde der Film auch in Dersim selbst gezeigt?

NEZAHAT GÜNDOGAN: Ja, für mich war das natürlich ein ganz spezieller Moment, wie dieser Film in Dersim gezeigt wurde, denn der Film behandelt die Region, wo die Menschen betroffen waren. Ich habe auch in den nächsten 15 bis 20 Monaten vor, dass der Film in kurdischen Städten in alternativen Kinos anläuft.

Aber Dersim war ganz speziell, weil jeder Mensch dort in seiner Familie über ein ähnliches Schicksal erzählen kann. Die Menschen haben sich im Film selbst erkannt. An anderen Orten habe ich mir leichter getan, den Film zu besprechen, aber in Dersim war alles sehr emotional.

Es gab dort ein Programm, das hieß "Dersim trifft sich mit seinen verschollenen Töchtern". Und in diesem Rahmen wurde der Film gezeigt. Es wurden dazu Persönlichkeiten und Intellektuelle aus der ganzen Türkei eingeladen. Da war z. B. die Frau von Hrant Dink(2), Rakel Dink, und Fahriye Cetin, die Anwältin der Familie Dink, die auch armenische Wurzeln hat. Auch Yavus Semerci, ein Schriftsteller, der für eine türkische Zeitung schreibt, war eingeladen. Er hat erst unlängst erfahren, dass auch er Sohn eines verschleppten Dersim-Kindes ist. Sein Vater wurde damals von einer türkischen Familie adoptiert und er wuchs als Türke und Sunnite auf.

FRAUENSOLIDARITÄT: Sehen Sie sich mehr als Filmemacherin, als Aktivistin oder als Geschichtsforscherin?

NEZAHAT GÜNDOGAN: Es freut mich, dass Sie mich als all das wahrnehmen. In der Türkei ist es leider so, dass man vieles auf einmal sein muss. Wenn es eine demokratische Gesellschaft in der Türkei gäbe, wären solche Projekte nicht meine Arbeit, sondern die Arbeit von Universitäten und AkademikerInnen. Jedoch ist es leider so, dass in der Türkei die meisten AkademikerInnen nicht an der Geschichtsdarstellung des Staates rütteln. Dies ist dann die Aufgabe von Menschen wie mir, die zu einem unterdrückten Teil dieser Gesellschaft gehören. Deshalb habe ich mit diesem Projekt begonnen. Ich bin normalerweise eine Filmemacherin, muss aber auch eine Aktivistin sein. Das ist das Spezielle an der Türkei, dass man leider alles selber machen muss.

FRAUENSOLIDARITÄT: Wie wichtig ist für kurdische Kulturschaffende in der Türkei die Diaspora in der EU?

NEZAHAT GÜNDOGAN: Die Arbeit in der Diaspora sehe ich ergänzend. Es gibt sehr viele Menschen aus Dersim, die wegen ihrer politischen Einstellung in die Diaspora gehen mussten. Viele sind sehr politisiert und unterstützen von Europa aus meine Arbeit in der Türkei. Es gehört alles zusammen. Die Kurdischen Filmtage in Wien sind ein Teil davon, Sie und Ihre LeserInnen z. B. können von dem Problemkomplex erfahren und Sie informieren Menschen, die ich alle gar nicht treffen könnte. Was an Unterdrückung auf der Welt passiert, geht jeden Menschen an.

FRAUENSOLIDARITÄT: Gibt es Vereinigungen kulturschaffender Frauen in der Türkei?

NEZAHAT GÜNDOGAN: Es gibt gemeinsame Plattformen oder Veranstaltungen, wo man sich trifft und Solidarität zeigt bei verschiedenen Themen, die Frauen betreffen, z. B. das Schicksal von Sakineh im Iran, die zum Tode verurteilt ist, da haben sich die Frauen sehr solidarisch gezeigt mit Protesten und Unterstützungskampagnen.

FRAUENSOLIDARITÄT: Gibt es Vereinigungen kulturschaffender Frauen in der Türkei?

NEZAHAT GÜNDOGAN: Es gibt gemeinsame Plattformen oder Veranstaltungen, wo man sich trifft und Solidarität zeigt bei verschiedenen Themen, die Frauen betreffen, z. B. das Schicksal von Sakineh im Iran, die zum Tode verurteilt ist, da haben sich die Frauen sehr solidarisch gezeigt mit Protesten und Unterstützungskampagnen.

FRAUENSOLIDARITÄT: Was ist ihr nächstes Projekt?

NEZAHAT GÜNDOGAN: Ich arbeite momentan an einem Buch über das Massaker in Dersim und über jene Schicksale, die im Film nicht gezeigt wurden. Verlage haben auch schon wegen der Übersetzung angefragt, und ich hoffe, dass es ins Deutsche übersetzt werden wird. Ich plane noch ein weiteres Projekt, nämlich den Kontakt mit den Familien der Soldaten, die am Massaker beteiligt waren, aufzunehmen, um die Geschehnisse aus einer anderen Sicht zu sehen. Es ist viel schwieriger, die Verwandten der Täter zum Reden zu bringen, über ihre Gefühle und Wahrnehmungen zu sprechen. Es ist zwar eine schwierige, aber auch interessante Aufgabe, aus TäterInnensicht an die Geschehnisse heranzugehen. Ich hoffe, an diese Informationen heranzukommen.

FRAUENSOLIDARITÄT: Alles Gute für Ihre Vorhaben!



Anmerkungen:

(1) Nezahat Gündogan wurde 1968 im ostanatolischen Erzincan geboren und siedelte im Kindesalter mit ihrer Familie nach Istanbul um. 1987 begann sie ein Architekturstudium, das sie wegen einer sechsjährigen Gefängnisstrafe als politische Gefangene unterbrechen musste. Danach entwickelte sie sich zur Dokumentarfilmerin und drehte 2004 "Wenn der Munzur nicht fließen kann", worin sie Umwelt und Staudämme thematisiert. Sie lebt in Istanbul.

(2) Hrant Dink war Armenier, türkischer Staatsbürger, Journalist und einer der Herausgeber der in Istanbul erscheinenden zweisprachigen Wochenzeitung Agos. Der von nationalistischen Kräften in Gesellschaft und Justiz seit Jahren verfolgte Redakteur wurde am 19. Januar 2007 auf offener Straße in Istanbul erschossen.


Übersetzung aus dem Türkischen: Jean Kepez


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 114, 4/2010, S. 20-21
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Sensengasse 3, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org

Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro;
Jahresabo: Österreich und Deutschland 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. März 2011