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FRAGEN/033: Interview mit der kurdischen Filmemacherin Nezahat Gündoğan (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 123, 1/13

Geschichtsaufarbeitung durch Kulturschaffen
Interview mit der kurdischen Filmemacherin Nezahat Gündoğan

Von Helga Neumayer



In den Jahren 1937 und 1938 kam es in Dersim (Tunceli) zu einem Massaker an der Bevölkerung durch die türkische Armee. Die multinational geprägte Region war mehrheitlich kurdisch-alevitisch und deshalb besonders von der Politik der nationalen und religiösen Homogenisierung der Türkischen Republik betroffen. Gewaltsam sollte eine völkisch und religiös einheitliche Identität geschaffen werden.


In der Folge kam es zur Vernichtung von Zehntausenden Menschen und zu Massenvertreibungen in mehrheitlich türkisch und sunnitisch besiedelte Gebiete. Ein speziell grausamer Aspekt war die Verschleppung von Mädchen, die zur türkisch-sunnitischen Assimilierung an Internatsschulen oder Offiziersfamilien aufgeteilt wurden und Zwangsarbeit leisten mussten.

Die Regisseurin Nezahat Gündoğan ging diesem - in der Türkei als Tabu behandelten - Thema auf den Grund und begab sich auf eine dreijährige Recherchetour, um Überlebende von damals zu befragen. Der 2010 daraus entstandene Dokumentarfilm "Die verschollenen Töchter Dersims" wurde bei Filmfestivals in der Türkei und in Europa gezeigt. 2012 veröffentlichte das Ehepaar Gündoğan zu diesem Thema das Buch "Massaker an Mädchen". Helga Neumayer führte dazu ein Interview mit Nezahat Gündoğan.


Helga Neumayer: Vor zwei Jahren haben Sie einer türkischen und europäischen Öffentlichkeit Ihren Dokumentarfilm "Die verschollenen Töchter Dersims" präsentiert, was hat sich seither getan?

Nezahat Gündoğan: Seit 2004 beschäftige ich mich mit verschiedenen aktuellen und historischen Themen zur Region Dersim und ihrer Aufarbeitung. Seit 2005 recherchiere ich gemeinsam mit meinem Mann zum Dersim-Massaker von 1937/38 und produzierte den Film "Die verschollenen Töchter Dersims". Wir begannen unsere Arbeit mit der Suche nach betroffenen ZeitzeugInnen, das war eine stille Arbeitsphase, denn wir wollten behutsam die Angst vor Staat und Regierung verhindern.

Die Geschichte von Dersim ist - wie auch in vielen anderen Fällen - eine verbotene Geschichte. Diese Unterdrückung hat sich auf die Betroffenen ziemlich massiv ausgewirkt. Deshalb wollten viele Betroffene in der ersten Recherchephase mit den ZeitzeugInnen und Töchtern Dersims, die vormals von ihren Wurzeln getrennt wurden, nicht wirklich darüber reden. Wir waren der Meinung, dass wir mit den Untersuchungen zu den Erlebnissen der Frauen und Kinder von damals feststellen könnten, welches Ausmaß diese Massaker hatten.

Die damals jungen Mädchen sind jetzt ältere Frauen, sie zu finden war nicht einfach, denn sie leben alle irgendwo weit zerstreut, sie sind zum größten Teil türkisiert und im sunnitischen Sinn islamisiert, und sie wollten nicht besonders gerne darüber sprechen. Es war eine abgeschlossene Seite ihres Lebens. Ihre Kinder und ihre soziale Umgebung kannten sie mit einer anderen Identität, und sie wollten die Realität nicht wahrhaben. Wir aber blieben hartnäckig und machten mit unseren einfachen Mitteln weiter mit dem Ziel, die Geschichte dieser Leute einem breiten Publikum zu erzählen, das Interesse der Medien zu erreichen und so die Tabuisierung des Themas zu überwinden.

In diesem Sinn haben die Recherchen Früchte getragen, und in der Phase der Filmproduktion hat das Thema in den Medien Platz gefunden. Zum ersten Mal kam es über diesen historischen Abschnitt von Dersim zu Diskussionen in der Öffentlichkeit, in den Medien, in akademischen Kreisen, in der Kulturwelt und im politischen Raum.

In der Regierungspartei und in den Oppositionsparteien wurde das Massaker von Dersim auf einem höheren Niveau diskutiert, obwohl die Regierungspartei wie auch die Hauptoppositionspartei dies für politisches Kleingeld nützen wollten. Aber immerhin, Ministerpräsident Erdoğan hat erstmals die Massaker zugegeben, und die Auseinandersetzung mit dem Thema, die mit der Recherchephase begonnen hat, erreichte nun eine neue Ebene.

Ein wichtiges Ergebnis dieser Zeit war, dass sich die Betroffenen nun von selbst an uns wandten. Und so konnten wir viele von den so genannten "verschollenen Töchtern Dersims" finden: Für den Film haben wir 70 Fälle dokumentiert. Später hat sich die Zahl auf 150 dokumentierte "verschollene Töchter Dersims" erhöht. Sie alle haben wir 2012 in einem Buch mit dem Titel "Tertele çeneku" (Massaker an Mädchen)(1) dokumentiert.

Wichtig dabei war, nicht nur mit den betroffenen Opfern, sondern auch mit jenen Personen aus Militär und Bürokratie, die die Mädchen mitgenommen und aufgezogen oder gerettet hatten, zu reden. Manche Familienmitglieder entschuldigten sich jetzt im Namen der Familien bei den Betroffenen. Darüber haben wir auch im Buch geschrieben. Es war ein wichtiger Arbeitsprozess, die Beteiligung der verschiedensten Gruppen der Gesellschaft zu einer Diskussion und Auseinandersetzung zu gewinnen.

Mit einer Gruppe von "verschollenen Angehörigen" und mit einer Gruppe von "verschollenen Töchtern" haben wir im türkischen Parlament eine Dersim-Kommission initiiert, und dort haben sich in der Folge mehr als 5000 Betroffene gemeldet. Die Recherchen gehen also weiter.


Helga Neumayer: Sie sprachen im Zusammenhang mit der Präsentation des Films 2010 von einer großen Solidarität zwischen armenischen und kurdischen Kulturschaffenden in der Türkei. Hat sich diese Solidarität ausgeweitet?

Nezahat Gündoğan: Beim ersten Interview mit Ihnen habe ich bereits erwähnt, dass es eine gute Zusammenarbeit zwischen kurdischen und armenischen FilmemacherInnen gibt, und diese gute Zusammenarbeit ist mittlerweile gewachsen. Nachdem die Kurdinnen und Armenierinnen historisch und auch aktuell ähnliche Schmerzen erlebt haben, stehen sie einander sehr nahe, und das gilt auch im Bereich Kultur und Kunst. In den türkischen Medien gibt es einige Personen mit kurdischem oder armenischem Hintergrund, und auch solche ohne ethnische Abgrenzung, die für das Thema sensibilisiert sind und Interesse zeigen. Aber es ist eben wichtig, offizielles Interesse von Institutionen zu bekommen, um die Sensibilisierung der gesamten Gesellschaft für das Thema zu entwickeln. Erdoğans Anerkennung des Massakers von Dersim hatte große Auswirkungen auf den Kultur- und Medienbereich.


Helga Neumayer:

Sie hatten vor, für einen Dokumentarfilm über die Täterinnen-Seite zu recherchieren. Kamen Sie mit Ihrem Pojekt voran?

Nezahat Gündoğan:

Ja, das ist eine große Aufgabe, und sie geht noch weiter. Der eigentliche Täter ist ja der Staat, und die Entscheidungen lagen beim damaligen Staatspräsidenten Mustafa Kemal Atatürk, dem Regierungschef Ismet Inönü und bei Celal Bayar und anderen Ministern sowie den Oberbefehlshabern des Militärs, Genelkurmay Fevzi Cakmak und den untergeordneten Verantwortlichen der Gendarmerie.


Helga Neumayer:

Sie sind selbst aus Dersim und leben in Istanbul. Fühlen Sie sich als Migrantin?

Nezahat Gündoğan:

Ich sehe Ostanatolien als Gesamtheit. In der Geschichte haben die verschiedenen Volksgruppen überall in Anatolien in Harmonie miteinander gelebt. Würde ich in Dersim leben, so würde ich mich dennoch durch die Assimilations- und Unterdrückungspolitik des Nationalstaates fremd fühlen. Wichtiger als der Ort ist die Politik, unter der die Menschen leben. Und wir leiden überall unter der Assimilationsideologie. Für mich und meine türkischen, kurdischen und armenischen Kolleginnen ist es wichtig, gegen diese Unterdrückung aufzustehen und nicht aufzugeben.

Uns geht es darum, die historische Realität für die Gesellschaft sichtbar zu machen und dass die Regierung diese anerkennt. Aber es ist natürlich auch wichtig, dass einzelne Personen sich zu diesem Thema öffentlich äußern.


Helga Neumayer:

Vielen Dank für das Gespräch!


ANMERKUNG:

(1) Das Buch "Tertele çeneku" erschien 2012 im Istanbuler Verlag Iletişim Yayınları.

ÜBERSETZUNG AUS DEM TÜRKISCHEN: Kiymet Ceviz

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 123, 1/2013, S. 18-19
Medieninhaberin und Herausgeberin:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2013