Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → FAKTEN

FRAGEN/042: Schräges Licht - Klaus Harpprecht über sein Erinnerungsbuch (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2014

Schräges Licht

Gespräch mit Klaus Harpprecht über sein Erinnerungsbuch von Hanjo Kesting



Ende November erschien im S. Fischer Verlag Klaus Harpprechts Buch "Schräges Licht. Erinnerungen ans Überleben und Leben". Der große Journalist und Autor, seit vielen Jahren Mitherausgeber dieser Zeitschrift, zwischen 1972 und 1974 Berater und Redenschreiber von Bundeskanzler Willy Brandt, blickt darin zurück auf sein Leben: auf seine Kindheit und Jugend im "Dritten Reich", seine Anfänge als Journalist, die Jahre als Korrespondent in Amerika und die Zeit im Kanzleramt. Und er berichtet über Freunde, Frauen und prägende Erfahrungen. Hanjo Kesting hat mit ihm über sein Buch gesprochen.


NG/FH: Klaus Harpprecht, wenn ich bei früheren Begegnungen das Thema "Lebenserinnerungen" oder "Memoiren" erwähnte, haben Sie immer abgewinkt: Damit sei nicht zu rechnen. Nun erscheint Schräges Licht. Erinnerungen ans Überleben und Leben. Was hat den Sinneswandel bewirkt?

Klaus Harpprecht: Eine gute Freundin, die große Schauspielerin Iris Berben, regte an, dass ich ihr Briefe schreibe, in denen ich aus meinem Leben erzähle: als der Überlebende ihrer Mutter-Generation. Außerdem wollte sie vermutlich erfahren, wie der Mann der von ihr verehrten Renate H., die Auschwitz und Bergen-Belsen durchlitten hat, beschaffen sein könnte. Nach 70 Briefen lag es nahe, daraus ein Buch zu machen.

NG/FH: "Erinnerungen ans Überleben und Leben": In diesem Untertitel lädt die Reihenfolge der Wörter zum Nachdenken ein: Das Überleben steht vor dem Leben, obwohl es eigentlich umgekehrt ist. Liegt das daran, dass Sie Jahrgang 1927 sind und somit einer Generation angehören, die zunächst überleben musste, um ihr Leben beginnen zu können?

Harpprecht: Genau dies will die Reihenfolge besagen. Es war mir niemals selbstverständlich, dass meine beiden Brüder im Krieg den Tod fanden, und ich davonkam.

NG/FH: Der erste Satz des Buches lautet: "Dies ist keine Autobiographie. Was ist es aber dann? Erinnerungen? Memoiren? Sie selber sprechen von einer "Lebenserzählung". Wo liegt der Unterschied?

Harpprecht: Eine Autobiografie verpflichtet zu einer Darstellung des Erlebten, das als eine Geschichtsquelle wissenschaftlich hieb- und stichfest sein muss. Memoiren geben (im Wortsinn) mehr Spielraum, lassen subjektivere Empfindungen zu, erlauben eine größere Freiheit der Erzählung.

NG/FH: Ihre Kindheit und Jugend werden verhältnismäßig knapp, auf nicht mehr als 30 Seiten, abgehandelt. Viele literarisch bedeutende Lebensbeschreibungen räumen der Kindheit und Jugend besonders viel Raum ein. Sie dagegen schreiben: "Man nimmt vermutlich seine Kindheit zu wichtig."

Harpprecht: Meine eigentlichen Kindheitserinnerungen sind nicht so viele und nicht sehr deutlich. Jene ersten Erfahrungen haben mich vermutlich nicht allzu tief geprägt. Ich neige nicht zu einer Überschätzung der Kindheit, wie sie heute üblich geworden ist. Wohl aber bestimmten die Jugenderlebnisse von 1936/37, die wesentlich vom Drama der Diktatur und des Krieges gezeichnet waren, meinen Weg durchs Jahrhundert.

NG/FH: Ihre Erinnerungen sind strikt aus der Sicht von heute geschrieben, ohne ältere Dokumente heranzuziehen. Warum sind Sie zuweilen - etwa beim Aufstand vom 17. Juni 1953 - von diesem Prinzip abgewichen?

Harpprecht: Der 17. Juni ist in der Tat eine Ausnahme: Ich war, als junger Reporter, unmittelbar Zeuge eines historischen Dramas, dem ich mit dem Versuch einer Rekonstruktion nicht gerecht geworden wäre. Ich fand das Stunden- und Tagebuch aus jenen beiden Tagen unvergilbt.

NG/FH: Als eine Art Bilanz Ihres Lebens schreiben Sie (und haben es scherzhaft sogar als Grabspruch erwogen): "... wenigstens war er fleißig". Wer Gelegenheit hatte, Ihre Arbeit zu verfolgen, wird das zweifellos bestätigen. Der Fleiß steht heute nicht in besonders hohem Ansehen; eine "Sekundärtugend", wie gesagt worden ist. Wollen Sie ein gutes Wort für ihn einlegen?

Harpprecht: Am Rande: Welche Tugend ist nicht "sekundär"? Im Ernst: Ich musste in den ersten Journalistenjahren pro Tag wenigstens einen Artikel schreiben (und womöglich einen zweiten dazu), um den Kopf über Wasser zu halten. So lernte ich schreiben. Schüttelte nur den Kopf über begabte junge Leute, die zwei oder drei kostbare Jahre dahingaben, um eine Doktorarbeit zu fertigen, die in 90 % der Fälle eher irrelevant war. Dazu fand ich das Leben zu kostbar. Von unserem Beruf sagt man: Learning by Doing. Mit Fleiß lernt man halt mehr (ohne ein Streber zu sein).

NG/FH: Über das Ende des Dritten Reiches heißt es in aller Kürze: "Keine Stunde Null. Das Leben ging weiter...". Haben Sie das damals schon so gesehen? Oder ist es eine Sicht, die sich erst später einstellte?

Harpprecht: Die "Stunde Null" war eine Formel, die später dem Kriegs- und Reichsende aufgesetzt wurde. Es ist banal, aber das Leben ging - für die Überlebenden - in der Tat einfach weiter: Man tat das Notwendige, um die eigene Existenz zu retten.

NG/FH: Die 50er Jahre, die in Ihrem Buch breiten Raum einnehmen, die Zeit der jungen (westdeutschen) Bundesrepublik, stehen in dem Ruf, eine Zeit der "Restauration" gewesen zu sein - eine These, die bei Ihnen auf entschiedenen Widerspruch stößt. Aber trifft es nicht zu, dass z.B. die breite Auseinandersetzung mit der Nazi-Diktatur erst in der zweiten Hälfte der 60er Jahre einsetzte, ausgelöst vom Frankfurter Auschwitz-Prozess?

Harpprecht: Von der Notwendigkeit, die neue Existenz zu erarbeiten, abgesehen (zwölf Millionen Heimatlose, zerbombte Städte, verwüstetes Land): Es ist schlicht nicht wahr, dass eine Auseinandersetzung mit der Nazidiktatur nicht stattfand: nächtelange Diskussionen, wenigstens unter uns Jungen, unter den Zeitzeugen, die Radiosendungen ganz von dem "Gestern" beherrscht (nicht die Schulen, leider, auch nicht viele Familiengespräche). Mit dem Auschwitz-Prozess begann eine zweite Welle der Debatte; radikaler, gründlicher. Aber die 68er haben den Antifaschismus nicht erfunden. Eine Rebellion ohne Risiko. Mich nervte die Hysterie, die zeternde Heuchelei, die politische Maulhurerei.

NG/FH: Das Wort "Lebensliebe" ist so etwas wie ein Leitmotiv Ihres Buches. Sie zitieren Clemenceau, den französischen Ministerpräsidenten aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, mit der Bemerkung, die Deutschen liebten das Leben nicht. Ist etwas daran?

Harpprecht: Das traf pauschal natürlich nicht zu. Aber erst in der Nachkriegsepoche haben wir gelernt, das Leben zu lieben, wie es den Franzosen oder Italienern oder Amerikanern selbstverständlich ist. Die Deutschen sind gewiss nicht länger bereit, sich in den Tod zu stürzen.

NG/FH: Lebensliebe - ist das etwas, was man lernen kann? Haben Ihnen Ihre langen Jahre in anderen Ländern, voran in Frankreich und den USA, dabei geholfen?

Harpprecht: Die Liebe lässt sich wohl nicht lernen, aber man lernt - ob in Frankreich oder Amerika - die Hindernisse beiseite zu räumen, die ihr den Weg verstellen.

NG/FH: Ein wichtiger Abschnitt des Buches heißt "Suche nach der Heimat". Wie sucht man die Heimat? Ist sie nicht etwas Gegebenes?

Harpprecht: Man hat, nach einem Leben unterwegs, mehr als eine Heimat. Kann man sie suchen? Vielleicht nicht. Aber man kann sich ihr öffnen, wenn wir ihre Präsenz spüren.

NG/FH: Ihre Herkunft liegt in Schwaben, wo Ihre Familie seit vielen Generationen beheimatet war und historisch tiefe Wurzeln hat. Ist Frankreich, wo Sie seit mehr als 40 Jahren leben, zu einer neuen, zweiten Heimat geworden?

Harpprecht: Die schwäbische Prägung blieb und bleibt, in Amerika, in Frankreich. Um es kritisch lieben zu können, das Schwabentum, braucht es vielleicht eine gewisse Distanz. Frankreich, unser Dorf, unser Tal, sollten vor allem Renate, der die Nazis die Heimat geraubt haben, das Gefühl der Geborgenheit geben. Hier fühlt sie sich endlich wieder zuhause, empfindet sich zugehörig - und sie wird von den Nachbarn als eine der ihren respektiert, ja geliebt. Das überträgt sich - dafür bin ich dankbar - ein wenig auch auf mich.

NG/FH: Welche Rolle als mögliche Heimat spielt Amerika, wo Sie anderthalb Jahrzehnte gelebt und gearbeitet haben? Es wurde einmal die "Erfüllung eines Menschheitstraumes" genannt. Doch scheint hier inzwischen eine gewisse Ernüchterung oder Entzauberung eingetreten zu sein.

Harpprecht: Amerika erfüllte die Sehnsucht nach einem hohen Himmel, nach Weite, nach Raum. Und es bietet zugleich, damit man nicht verloren geht, kleine Inseln der Geborgenheit. Diese amerikanische Urerfahrung kann nicht entzaubert werden. Wohl aber das naive Vertrauen, dass im Weißen Haus immer ein guter Geist regiert. Der zweite Bush, ein Monument der Dummheit, hat Kennedy postum mehr als ein Jahrhundert lang verdrängt. Nicht für immer - ich hoffe und glaube es.

NG/FH: Ihre politische Heimat haben Sie in der SPD gefunden, aber die Entscheidung ist relativ spät gefallen. War Willy Brandt der starke Magnet?

Harpprecht: Der SPD war ich lange vor dem Eintritt nahe. Mit dem einen großen Vorbehalt: Ich habe mich von Beginn an ganz mit der Europa-, der Westpolitik Konrad Adenauers identifiziert. Was dies angeht, kam mir die Umorientierung der SPD unter dem Einfluss der Avantgarde um Willy Brandt, Fritz Erler, Helmut Schmidt, zu Zeiten auch Wehner, schließlich eher entgegen. Willy Brandt, längst ein Freund, war in der Tat der Magnet - stärker als der Vorbehalt, ein Journalist sollte sich einer Parteibindung fernhalten. Meine Unabhängigkeit habe ich trotz des Parteibuches nicht preisgegeben.

NG/FH: Sie sind länger als ein halbes Jahrhundert mit der Auschwitz-Überlebenden Renate Harpprecht, geborene Lasker verheiratet. Warf das nicht einen großen Schatten über jeden Tag?

Harpprecht: Ja, den Schatten gab es. Die Liebe war stärker. Sie überredete uns, ein Leben der Normalität, sagen wir besser: der Selbstverständlichkeit miteinander zu versuchen. Nach mehr als einem halben Jahrhundert darf man vielleicht sagen, dass uns dies geglückt ist. Dafür bin ich Renate und einem guten Geist irgendwo draußen von ganzem Herzen dankbar.

NG/FH: Noch einmal zum Titel des Buches: Schräges Licht. Sie schreiben: "Das schräge Licht des Abends verändert - im Rückblick - die Landschaft des eigenen Lebens."Kommt der späte Blick der "Wahrheit" eines Lebens am nächsten?

Harpprecht: Was ist die "Wahrheit" eines Lebens? Lieber rede ich von Wahrheiten, die im späten Licht des Alters anders sind als unter der Sonne des Mittags. Vielleicht nuancierter, vielleicht milder - und manchmal härter.

NG/FH: Klaus Harpprecht, Sie sind 87 Jahre alt, da blickt man wahrscheinlich mehr zurück als nach vorn. Nicht alles ist in Erfüllung gegangen, auf manchen Gebieten gibt es Rückschritte. Und Europa, für das Sie das ganze Leben eingetreten sind, befindet sich in einer schweren Krise. Erfüllt Sie das mit Bitterkeit? Wie ist, um Prousts Fragebogen zu zitieren, "Ihre gegenwärtige Geistesverfassung"?

Harpprecht: Nein, bitter bin ich gewiss nicht. Ich habe Grund, dem Leben dankbar zu sein. Bin in der Regel gelassen: 70 Jahre Frieden. 70 Jahre Freiheit. Und es gibt Europa. Es wird, ich hoffe es, an der Krise nicht zugrunde gehen. Manchmal freilich macht mich die geistige und moralische Indolenz der Generation Merkel/Hollande zornig. Warum bewegen sie ihre dicken Hintern nicht? Das Ziel, das Initiativen und Fortschritte verlangt, ist die europäische Föderation. Der Nationalstaat wurde von der Geschichte böse verworfen. Nationalismus ist eine infektiöse Geisteskrankheit. Sie muss gebannt werden. Ich sage es mit aller Energie, die mir bleibt.


Klaus Harpprecht: Schräges Licht. Erinnerungen ans Überleben und Leben, S. Fischer, Frankfurt am Main 2014, 560 S., 26,99 EUR.

*

Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2014, S. 59 - 62
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von
Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka,
Thomas Meyer und Bascha Mika
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 935-71 51, -52, -53, Telefax: 030/26 935-92 38
E-Mail: ng-fh@fes.de
Internet: www.ng-fh.de
 
Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft).
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Dezember 2014


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang