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FRAGEN/045: Volker Lilienthal - Der Geist ist aus der Flasche (M - ver.di)


M - Menschen Machen Medien Nr. 8/2014
Medienpolitische ver.di-Zeitschrift

Der Geist ist aus der Flasche

Gespräch mit dem Kommunikationswissenschaftler Volker Lilienthal von Günter Herkel


Anlässlich der Vorstellung seiner Forschungsergebnisse sprach M mit dem Kommunikationswissenschaftler Volker Lilienthal über die neuen journalistischen Bedingungen in einem digitalen Medienumfeld


Was ist digitaler Journalismus?

Volker Lilienthal: Digitaler Journalismus ist mehr als die Verbreitung journalistischer Inhalte über einen Online-Kanal. Es verändert sich alles am Journalismus: die Recherche, bei der unheimlich viele Quellen unter Einschluss von Social Media zu verarbeiten sind, und die Informationsverarbeitungsprozesse in Redaktionen. Vor allem aber ändern sich die Beziehungen zwischen Medien und Publikum.


Wie sieht diese neue Beziehung der Medien zum Publikum konkret aus?

1969 erschien das berühmte Buch "Der missachtete Leser" von Peter Glotz und Wolfgang Langenbucher. Diese Missachtung haben sich die Medien in den vergangenen Jahrzehnten nicht mehr leisten können. Erst recht gilt das unter den Bedingungen einer digitalen Medienumwelt. Es gehört heute zum guten Ton in digitalen Medienprodukten, dass man Foren eröffnet, Diskussionsthemen ausruft und das Publikum direkt zu einer aktiven Rolle animiert. Diese aktive Rolle wird zwar nach empirischen Studien bislang nur von einer Minderheit der User angenommen. Aber der Geist ist aus der Flasche, der Dialog mit dem Publikum ist normal geworden. Das Publikum meldet sich mit Kritik in den Foren, mittels schnellgeschickter E-Mail oder per Twitter. Dieser Kritik haben sich die Journalisten zu stellen. Das Publikum weiß potenziell mehr als die Journalisten. Von der einfachen Fehlerkorrektur angefangen bis hin zu Recherchevorschlägen, Themenhinweisen, politischen Argumenten, auf die der Journalist noch nicht gekommen ist. Diese radikalisierte Kommunikation mit dem Publikum schafft neue Möglichkeiten, um Journalismus potenziell besser zu machen. Das Publikum übernimmt sozusagen eine Mitautorenschaft für Journalismus.


Einige Redaktionen erwecken den Eindruck, als seien sie noch etwas verstört von der neuen Entwicklung, oder?

Das ist richtig. Das haben wir auch in unseren Experteninterviews herausgehört. Es gibt ein paar enttäuschende Erfahrungen. Ambitionierte Regionalzeitungen haben sich vielleicht noch vor fünf Jahren bemüht, eigene Foren, eigene soziale Netzwerke über ihre Seiten zu organisieren und wurden dann von Facebook überholt. Sie merkten, das lohnt sich überhaupt nicht. Wenn, dann gründen wir eine Kolonie unserer Marke auf Facebook. Einige Redaktionsverantwortliche berichten auch, dass noch nicht alle traditionell sozialisierten Kollegen in den Redaktionen verstanden haben, was es bedeutet, sich auf diesen nicht mehr rückholbaren Dialog mit dem Publikum einzulassen. Eine Online-Diskussion anstoßen, sich dann aber als Autor zurückzuziehen, das geht unter den heutigen Bedingungen nicht mehr. Wenn ein Artikel beim Publikum auf Widerspruch trifft, dann muss der Autor weiter präsent sein. Er muss sich in diesen Meinungsstrom, der sich auf den Webseiten entfaltet, einmischen, seinen Artikel verteidigen, neue Argumente bringen. Hier ist natürlich vom Journalist eine aktive Rolle verlangt.


Bei einigen Medien haben Forumsmoderatoren angesichts der Erfahrungen mit "Shitstorms" schon Konsequenzen gezogen ...

Unsere Inhaltsanalyse zeigt, dass es verschiedene - auch niederschwellige - Formen der Publikumspartizipation gibt. Eine Zeitung macht auf ihrer Website ein Forum für freie oder organisierte Debatten auf. Insgesamt ist dafür der Rahmen immer noch sehr eng gesteckt. Redaktionen wollen selbst die Kontrolle behalten. Hintergrund könnte sein, dass man dem Publikum offenbar nicht allzu viel zutraut. Kommunikationswissenschaftler - etwa vom Hans-Bredow-Institut - deuteten die Praxis der Partizipation bislang vor allem positiv als "Inklusion". Angesichts gehäufter Probleme mit Störern und Trollen haben sich einige Medien inzwischen aber wieder für eine gewisse Exklusion entschieden. Ein Beispiel ist sueddeutsche.de: Da darf man nicht mehr unter einem Artikel direkt kommentieren, sondern nur noch ausgelagert in einem sozialen Netzwerk. Direkt kommentieren darf man nur noch zu inhaltlichen Tagesfragen, die die Redaktion selbst ausruft. Aber auch da behält sich die Redaktion legitimerweise vor, nur die Aussagen auszuwählen, die sie für gut befindet. Redundanz ist nicht erwünscht und Rechtsverstöße erst recht nicht.


Welche Rolle spielen generell die sozialen Netzwerke in diesem Prozess - im Guten wie im Schlechten?

Im Guten sind sie für manche Lokalredaktion, die auf sich hält, mittlerweile so eine Art lokale Nachrichtenagentur. Es gibt Leser, die sind mit ihrem Smartphone im Stadtbild unterwegs, die beobachten irgendetwas, was passiert ist, sei es ein Unfall oder eine Demonstration, identifizieren sich mit ihrer Zeitung und schicken sofort einen Tweet in die Redaktion. Das ist dann die Initialinformation über etwas, was möglicherweise berichtenswert ist. Dann ist es immer noch Aufgabe des Journalisten, das nachzurecherchieren. Das ist die positive Seite: ein Informationsnetzwerk, aus dem man soziale Trends ablesen kann.


Und die andere Seite?

Social Media stellen eine solche Stimmenvielfalt dar, manchmal eine Kakophonie, so dass es für Journalisten eine zusätzliche Herausforderung ist, den Überblick zu behalten, das Wichtige vom Unwichtigen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Das ist nicht so einfach. Man muss ein Instrumentarium entwickeln: Welcher Twitter-Account, von dem ich vielleicht einen Tweet mit einer Ereignismeldung bekomme, ist denn überhaupt glaubwürdig, wonach entscheide ich das? Da stehen die Journalisten noch am Anfang. Bei unserer Studie fanden wir heraus: Ob jemand, der als Laie etwas in eine Redaktion twittert, sich orthografisch korrekt ausdrückt, ist für die Journalisten gar nicht so wichtig. Aus dem Tweet muss aber eine nachvollziehbare Ortskenntnis hervorgehen. Dann weiß der Journalist, da könnte was dran sein, also gehe ich der Sache mal nach. Natürlich ist es auch schick, wenn Journalisten sich auf Twitter und Facebook zeigen. Aber sie dürfen nicht dem Trugschluss aufsitzen, es würde ausreichen, einen Tweet aufzuschnappen, einzubauen und vielleicht noch mit einem Rahmentext zu versehen. Er muss nachrecherchiert werden, dann erst wird's Journalismus.


Sorgen die Informationsprozesse im Zeichen der Digitalisierung eher für mehr Transparenz oder wird es eher verwirrender?

Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Transparenz gehört zwingend zur Definition von Digitalem Journalismus. Transparenz bedeutet hier, dass ein Journalist hinter dem Hauptartikel wenn möglich ein kleines Dossier für den tiefer interessierten Leser aufmachen kann. Etwa um anhand von Originaldokumenten nachzuweisen, wie er zu seinen Schlüssen gekommen ist. Quellentransparenz kann dafür sorgen, dass das von Erosion bedrohte höchste Gut des Journalismus, nämlich Glaubwürdigkeit, wieder hergestellt wird. Das sehe ich unbedingt als Pluspunkt an.


Verbessert die Digitalisierung die Qualität journalistischer Produkte?

Wenn Journalisten die Beiträge des Publikums bewusster wahrnehmen, wenn sie sie ernster nehmen und sie als Initiale für die eigene Recherche betrachten, dann kann diese Erfahrungsvielfalt des Publikums wirklich zu einem besseren Journalismus beitragen. Zum Beispiel durch Themenhinweise jenseits der Betriebsblindheit von Journalisten. Diese Prozesse konnten wir bei unserer Studie nicht ausgeprägt beobachten. Aber der digitale Journalismus hat diese Potenziale, wenn der Journalist zu einer klugen Rollenwahrnehmung kommt und das alles nutzt. Natürlich ist das auch eine Frage von Zeit und Personal.


Die fortschreitende Technikdominanz, so eine andere These Ihrer Studie, ist im Begriff, den Journalismusberuf ein Stück weit zu überformen. Inwiefern?

In den Redaktionen wird eine Fülle von Tools eingesetzt, etwa um Social Media auszuwerten. Damit kann man das halb automatisieren. Wenn man Arbeitsplätze digitaler Journalisten beobachtet, sieht man, dass sie ganz viele Tools und Programme gleichzeitig bedienen, gleichzeitig den Kopf oben behalten und eine Geschichte konzeptionieren müssen. Im Lokaljournalismus etwa ist es heute üblich, dass ein Reporter in einer Ratssitzung nicht nur sitzt und zuhört. Es wird von ihm erwartet, dass er von seinem mobilen Device eine Kurzmeldung absetzt oder einen Tweet für die Twitter-Präsenz der Zeitung. Das Publikum erwartet Aktualität, sobald etwas beschlossen wurde.


Geht das nicht auf Kosten der Gründlichkeit und Präzision?

Genau. In dem Moment, in dem der Reporter seinen Tweet verfasst, ist seine Aufmerksamkeit abgelenkt von dem, was vielleicht zu einer umstrittenen Entscheidung des Stadtrats gesagt wird. Wenn durch neue technische Möglichkeiten der Kommunikation in Echtzeit Aufmerksamkeitsanteile abgezogen werden, können daraus Qualitätsnachteile entstehen. Das wird in den Redaktionen auch so gesehen. Dann wird aber oft argumentiert, ein Live-Reporter bei Radio und Fernsehen müsse ja auch alles Mögliche bewerkstelligen. Aber die Echtzeit-Anforderungen im digitalen Journalismus sind noch ein Stück radikaler. Das Problem wäre natürlich keines, wenn ich zwei Reporter in die Ratssitzung schicken könnte, einen nur für den Hintergrundbericht in der Printausgabe, den anderen für die schnelle Nachricht auf dem Online-Kanal. Das geben die Redaktionsausstattungen aber nicht her.


Welche Anforderungen stellt die Digitalisierung an die künftige journalistische Ausbildung?

Immense. Der Journalist von heute muss noch viel mehr wissen als ehedem, und es wird immer mehr. Er braucht nicht nur das gute alte Handwerk - Schreiben, Recherche. Unerlässlich ist auch die technische Multimediakompetenz, sowohl bei der Recherche als auch in der Darstellung. Denken Sie an das Storytelling in multimedialer Form - ein noch unerforschtes Reich voller Möglichkeiten. Das alles in ein Volontariat zu quetschen oder in einen universitären Studiengang, ist sehr anspruchsvoll und geht wahrscheinlich nicht ohne gewisse Abstriche an anderer Stelle. Das Handwerk ist die Basis, aber schon bei der Vermittlung des Handwerks müssen Fenster geöffnet werden: Was heißt Schreiben für Storytelling? Das sollte in Nachbarschaft unterrichtet werden, nicht nacheinander. Die Technik des Storytelling lässt sich nicht an einer Uni oder im Volontariat allenfalls in Projektform entwickeln, die Perfektion muss als "training on the job" kommen. Aber Ausbildung muss natürlich einen Sinn dafür schaffen, muss auch für eine Haltung plädieren, diesen neuen technischen Entwicklungen gegenüber offen zu sein. Wie häufig sollte der ambitionierte Journalist hier auch ein Stück weit Autodidakt sein.


Bekanntlich gibt es noch kein Geschäftsmodell für digitalen Journalismus. Die Verlage investieren nicht in entsprechende Ressourcen. Wie sieht seine Perspektive aus?

Die Geschäftsmodelle funktionieren nicht. Ich verstehe zwar das Dilemma der Medienhäuser, die auf digitalen Märkten noch zu wenig verdienen und deshalb nicht investieren wollen. Aber wenn man sich beispielsweise ein Produkt wie die Süddeutsche Zeitung als App anschaut, dann ist das ja nicht nur der Zeitungsinhalt, sondern da sind immer auch multimediale Beiträge drin: Aufsager von den Journalisten, Dokumente, interaktive Grafiken und vieles mehr. Alles Dinge, die man im Printprodukt technisch nicht realisieren kann und mit denen man ein Surplus des digitalen Produkts erzeugen kann. So sehr ich also verstehe, dass die Märkte es im Moment nicht hergeben, ist doch auch klar: Den digitalen Wettbewerb besteht ein Medienhaus nur, wenn es dort exzellente Qualität anbietet, denn der Kampf um Aufmerksamkeit ist enorm. Sonst kann ich es gleich aufgeben. Ein Unternehmen müsste eigentlich unternehmerische Risikobereitschaft zeigen, also in Redaktionen investieren, in Spezialtalente für Data Journalism und Storytelling, um das Publikum mit erstklassiger Qualität zu überzeugen. Der Leser muss begeistert sein: Wow, das ist neuer Journalismus mit echt digitalem Esprit!

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Quelle:
M - Menschen Machen Medien Nr. 8/2014, S. 14-15
Medienpolitische ver.di-Zeitschrift, 63. Jahrgang
Herausgeber:
ver.di - Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft
Fachbereich 8 (Medien, Kunst, Industrie)
Bundesvorstand: Frank Bsirske/Frank Werneke
Redaktion: Karin Wenk
Anschrift: verdi.Bundesverwaltung, Redaktion M
Paula-Thiede-Ufer 10, 10179 Berlin
Telefon: 030 / 69 56 23 26, Fax: 030 / 69 56 36 76
E-Mail: karin.wenk@verdi.de
Internet: http://mmm.verdi.de
 
"M - Menschen Machen Medien" erscheint neun Mal im Jahr.
Jahresabonnement: 36,- Euro einschließlich Versandkosten


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juni 2015

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