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REZENSION/030: "In engen Grenzen, Leben mit CFS" - Dokumentarfilm (SB)


In engen Grenzen - Leben mit CFS



Dokumentarfilm über die Situation von Menschen, die an der Krankheit Myalgische Enzephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS) leiden

Unbestreitbar wurden aus wissenschaftlicher Sicht im Verlauf der Medizingeschichte zahlreiche Fortschritte erzielt, doch warum sich die Entwicklung diagnostischer und therapeutischer Methoden nur auf einige bestimmte Bereiche der Forschung konzentriert, während andere Erkrankungen marginalisiert werden, für die folglich wenig Aussicht auf Therapieangebote oder gar Heilung besteht, läßt sich nicht so einfach nachvollziehen.

Die Notwendigkeit einer Behandlung ergibt sich häufig überhaupt erst durch die krankmachenden Folgen der ungesunden Lebens- und Arbeitsumstände. Beispielhaft sind dafür die sogenannten Wirtschaftswunderjahre, in denen es wichtig schien, möglichst viele Menschen für die Produktion leistungsfähig und verfügbar zu erhalten. Das Augenmerk lag hier bei den häufig auftretenden Erkrankungen (z.B. Infektionen und Herz-Kreislauferkrankungen), die erfolgreich zu therapieren einen Ausfall von Arbeitskräften entgegenwirken konnte.

Dagegen fallen andere Krankheiten vermeintlich dem nicht ausreichenden Budget zum Opfer, an deren Erforschung mit dem Ziel, den Betroffenen Heilung oder zumindest Erleichterung anbieten zu können, letztlich Vertreter der medizinisch-pharmazeutischen Industrie aus rein ökonomischen Gründen kein Interesse zeigen, weil die Gruppe des zukünftigen Klientels zu klein ist oder eine vollständige oder teilweise Regeneration durch denkbare Therapien und damit eine Rückführung der Patienten in den Arbeitsprozeß von vornherein ausgeschlossen werden kann. Zu der letzten Kategorie gehört CFS - das sogenannte Chronische Erschöpfungs-Syndrom (chronic Fatique Syndrome), über die der Film "In engen Grenzen - Leben mit CFS" von Gabriele und Werner Knauf informieren soll. Vielleicht nicht ganz unbeabsichtigt von den Filmemachern und der Patientenorganisation "Fatigatio e.V." [1] beschreibt der Film ein weiteres Beispiel für eine medizinische Forschung, die willkürlich darüber zu entscheiden scheint, welche Krankheit erforscht wird und welche keine wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhält. Der kranke und leidende Mensch kommt darin nicht vor.


Wie das so ist, mit CFS, wollen Sie wissen?

Stellen Sie sich vor, ihr Wecker klingelt, doch der Impuls, die Hand auszustrecken, um den lästigen Quälgeist zu stoppen, bleibt noch in dem zähen Honig Ihrer schmerzenden Gehirnwindungen stecken. Der Arm ist zu schwer und Sie fühlen sich zu schwach, auch nur diese kleine Bewegung auszuführen, die Sie früher im Halbschlaf beherrschten. Wie bei einer schweren Grippe scheint es auch unter Aufbietung aller Kraftreserven nicht zu gelingen, sich aufzurichten. Die Muskeln wollen dem Gedankenbefehl nicht Folge leisten. Aufzustehen kommt einem Die-tonnenschweren-Glieder-aus-dem-Bett-Rollen bzw. Herausfallen gleich, man schleppt sich mühsam ins Bad, hält sich am Waschbecken fest oder nutzt den Klodeckel oder den Badewannenrand, um sich im Sitzen Wasser über das Gesicht laufen zu lassen. Das feinmotorische Bürsten der Zähne, hier auf eine quälend verlangsamte Schrubbewegung reduziert, fordert die letzten Reserven. Es ist keine Kraft mehr zum Duschen übrig. Der Weg zurück ins Bett scheint eine endlose Überforderung zu sein, und nur mit dem Versprechen oder der Hoffnung verbunden, im abgedunkelten Raum die leeren, körpereigenen Akkus wieder aufzutanken, ist er noch zu schaffen. Der Tag ist gelaufen. Nichts geht mehr und das tagein, tagaus ...

Was sich wie die Begleiterscheinungen einer Infektionserkrankung liest oder eine in der Lebenssituation begründete, extreme Form von physischer Erschöpfung, die sich nicht mehr willentlich verdrängen läßt, wird bis heute nur von wenigen Spezialisten tatsächlich als eigene Krankheitsform verstanden und akzeptiert. Alle anderen erinnert vieles von diesem Zustand zu sehr an die normale Müdigkeit, Lustlosigkeit oder körperliche Alltagsabgeschlagenheit, mit der jeder Mensch mehr oder weniger zu kämpfen hat, der sich vorübergehend oder auch langfristig den Anforderungen unserer Leistungsgesellschaft nicht gewachsen sieht oder den Lebenssinn darin nicht mehr erkennt. Die Betroffenen werden in den psychosomatischen Symptomkomplex einsortiert und mit entsprechenden Therapieangeboten versorgt, um sie als vollwertiges oder vielleicht besser gesagt als verwertbares Mitglied der Gesellschaft wieder in den Arbeitsprozeß zu integrieren. Denn unausgesprochen und unabhängig jedweder anderslautenden, offiziellen Definition wird "gesund" hierzulande gemeinhin mit "arbeitsfähig" gleichgesetzt.

Angesichts der körperlichen Einschränkungen, die die Betroffenen verbinden und ähnliche Schwierigkeiten und Problemlagen generieren, haben wir es in dem Film "In engen Grenzen - Leben mit CFS", beabsichtigt oder unbeabsichtigt von den Filmemachern, Gabriele und Werner Knauf, beides Diplom-Psychologen und Psychologische Psychotherapeuten und somit selbst Vertreter des Gesundheitssystems, wie von der Patientenorganisation Fatigatio e.V., die diesen Film erst ermöglichte, mit einer filmisch verarbeiteten Diskussion zu tun, in der es vorwiegend darum geht, das sogenannte Chronische Erschöpfungssyndrom (CFS) als "echte" Krankheit von vielen anderen psychosomatisch bedingten Erscheinungsformen abzugrenzen, obwohl dafür - das wird hier deutlich - bereits die nötigen Grundlagen und Maßstäbe fehlen und von Seiten der Medizin offenbar wenig Interesse besteht, etwas daran zu ändern.

Während eine durch externe oder interne Auslöser hervorgerufene und durch eine Entstehungsgeschichte definierte Krankheit [2] einerseits gesellschaftlich akzeptiert würde und den Betroffenen Rechte verschafft, die wiederum Leistungsträger wie Krankenkassen, Rentenversicherungen und andere Institutionen des sozialen Gesundheitswesens zu Zahlungen und Unterstützung verpflichtet (wofür die von diesem Symptomkomplex Betroffenen kämpfen), wird bei der psychosomatischen Interpretation der körperliche Systemausfall unter dem Modebegriff "Burnout-Syndrom" oder als simple körperlich manifestierte Verweigerungsstrategie den Betroffenen als etwas Selbstverschuldetes zur Last gelegt, das sich durch entsprechend eigene Initiative auch wieder in "Funktionsfähigkeit" verkehren läßt. Das Interesse an dieser letzten Zuordnung und die gleichzeitige Bezichtigung des Betroffenen wird offenbar dem Fragen nach den eigentlichen Ursachen vorgezogen, um keine die eigene Verantwortung beim Namen nennenden Antworten zu erhalten.

Was aber hätte der chronisch und unheilbar Kranke von einer Anerkennung seiner Krankheit? Abgesehen von der zweifelhaften Ehre "nicht mehr als Drückeberger zu gelten" (womit er sich gleichzeitig an der Stigmatisierung der Gruppe nicht unheilbar kranker Menschen mit psychosomatischem Symptomkomplex, von denen er sich abgrenzt, beteiligt) und angesichts der Tatsache, daß nur wenig an Behandlungsmethoden geforscht wird, wäre von der offiziellen "Zuordnung" seiner Erkrankung bestenfalls so etwas wie eine unaufwendigere "Ver-" und "Entsorgung" zu erwarten.

Die Bereitschaft von Seiten der Medizin und Pharmaforschung ist selbst bei vielen, bereits anerkannten Erkrankungen gering, Mittel in einen Randbereich der Medizintherapie und Diagnostik zu investieren, die sich in Deutschland selbst für 300.000 Patienten wenig lohnen würde, wenn es sie denn gäbe.

Zumindest an dieser Situation versucht die Organisation Fatigatio, durch verstärkte Information und Aufklärungsarbeit, zu der auch der Film beitragen soll, etwas zu ändern.

Die Filmer lassen dazu Betroffene und Angehörige vor der Kamera zu Wort kommen. Offen und mutig schildern sie die Art und das Ausmaß ihrer Beschwerden, beschreiben die soziale Isolation, die Diskriminierungen und auch fehlgeschlagene Therapieversuche. Sie geben einen Einblick, wie problematisch es ist, mit dieser Einschränkung fertig zu werden und wie dies durch Unkenntnis und Mißtrauen von Ärzten und Mitmenschen zusätzlich erschwert wird.

Das Unverständnis von den meisten Medizinern sowie Vertretern des Gesundheitswesens zeigt sich bereits in der Wahl des Terminus "Chronisches Erschöpfungssyndrom" (CFS - Chronic fatigue syndrome) für diese Symptomatik, in dem bereits die Stigmatisierung festgeschrieben ist, da der Name "CFS" die Erkrankung nach Meinung vieler Betroffenen mit dem trivialen Alltagsphänomen in Beziehung setzt und damit von vorn herein als etwas bagatellisiert, das sich durch entsprechende Anpassung oder Korrektur der Lebensumstände regeln lassen müßte.

Der Unterschied zu dem unter Burnout [3] verallgemeinerten psychosomatischen Symptomen, von denen gleichfalls nützliche Mitglieder der Gesellschaft betroffen sind, die sich nach Lesart der gesellschaftlichen Leistungsträger quasi über Nacht in "unproduktive Kostenverursacher" verwandeln, besteht darin, daß hier durch unterschiedliche therapeutische Maßnahmen vom Patienten erwartet wird, daß er sich in neu justierter Form dem gesellschaftlichen Verwertungsprozeß wieder zur Verfügung stellt.

Was sich als chronische Krankheit definiert sehen will, schließt eine potentielle Regeneration der Körperkräfte und damit verbundene Rückeingliederung in die Gesellschaft nach dem derzeitigen medizinischen Kenntnisstand von vornherein aus. Auch das erklärt möglicherweise das ausgeprägt geringe Interesse von Seiten der Gesundheitsbehörden, der Krankenkassen und der Ärzteschaft, sich diesem Thema umfangreich zu widmen.

Außer an lähmender geistiger und körperlicher Erschöpfung, zusätzlich schnellere Erschöpfbarkeit, die das recht unspezifische Leitsymptom CFS, das häufig auch als Myalgische Enzephalomyelitis bezeichnet wird, charakterisieren und die Patienten häufig über Jahre und Jahrzehnte an Bett und Wohnung fesseln, leiden die Betroffenen laut Prof. Dr. Scheibenbogen, einer Spezialistin für CFS von der Charité Berlin, unter zahlreichen, spezifischen Kombinationen weiterer Symptome, die in vieler Hinsicht bekannten Infektionskrankheiten wie Grippe, Masern oder Mumps ähneln. Dazu gehören neben der chronischen Erschöpfung unter anderem Kopf- und Gelenkschmerzen, Halsschmerzen und Muskelschmerzen, sowie kognitive Einschränkungen wie Konzentrations -, Denk- und Gedächtnisstörungen, Wortfindungsschwierigkeiten, nicht erholsamer Schlaf, und Empfindlichkeiten der Lymphknoten. Der Zustand verschlimmert sich in der Regel im Verlauf der Krankheit bis zur Behinderung und soll in Einzelfällen sogar zum Tod geführt haben. [4]

Dieser Symptomkomplex trifft allerdings auf vieles zu und reicht nicht aus, CFS als Krankheit zu definieren. Auch Dr. Bieger aus München, ebenfalls ein Spezialist für CFS, kann letztlich nur zwei Charakteristika anführen, die aber für eine Definition und Herleitung der Krankheit unbrauchbar und letztlich nur Selektionskriterien sind, welche die Belastbarkeit einer Arbeitskraft ausdrücken: Zum einen müsse die Erschöpfung, Leistungsschwäche wie Leistungsabfall mehr als 50% betragen und dies mindestens seit einem halben Jahr, ehe die Krankheit als solche anerkannt wird.

An zweiter Stelle steht seit neuem als gleichwertige Eigenschaft, daß Belastung (wie bei psychosomatischen Erkrankungen als Motivationstherapie empfohlen) nicht etwa zu einer Verbesserung im Sinne von einem Trainingseffekt führt, sondern sogar zu einer Verschlechterung - zumindest vorübergehend, aber häufig anhaltend. Diese Terminierung zeigt überdeutlich, daß die Einordnung als Krankheit nicht gleichzeitig an eine therapeutische oder heilende Absicht gebunden ist.

Tatsächlich ist die genaue Ursache der Erkrankung, die das zentrale Nervensystem und das Immunsystem betrifft, nicht bekannt und die Krankheit kaum behandelbar. Über das für eine eindeutige Zuordnung als Krankheit fehlende Charakteristikum setzen sich die Experten hinweg, indem sie behaupten: "Auch wenn die Ursache von CFS noch nicht geklärt sind, heiße das nicht, daß es sich nicht dennoch um eine Krankheit handeln würde."

Mit dieser Äußerung wird auf eine zukünftige Forschung abgezielt, die jedoch nicht stattfindet und in der aktuellen Sparpolitik des deutschen Gesundheitssystems keinen Platz hat. Die wenigsten pharmazeutischen Präparate (zumeist hochdosierte Vitamine oder Präparate, die im Energiestoffwechsel des Organismus wesentliche Schlüsselpositionen einnehmen), von denen man sich eine Verbesserung des Zustands verspricht, werden von den Krankenkassen wegen ihres als gering eingeschätzten, wenig nachweisbaren Nutzens für den Patienten anerkannt und sind für viele Patienten auf Dauer unbezahlbar.

Der Dokumentarfilm von Gabriele und Werner Knauf setzt sich aber vor allem mit den sozialen Begleiterscheinungen auseinander:

"Das Schlimmste ist nicht, daß ich jeden Tag völlig erschöpft mit bleischweren Beinen aufwache oder daß mein Gedächtnis streikt und jeder Muskel in meinem Körper schmerzt. Das Schlimmste ist noch nicht einmal, daß jeder denkt, ich würde mir das alles nur einbilden. Das Schlimmste an CFS ist zusehen zu müssen, wie mein Leben an mir vorbeizieht." [5]

Mit diesen Worten einer CFS-Patientin aus einem Aufklärungsspot des US-amerikanischen Gesundheitsministeriums beschreibt der Dokumentarfilm in den ersten Szenen, wie Betroffene ihren Alltag mit CFS wahrnehmen. Zwei Jahre lang haben die Filmemacher im Auftrag der Patientenorganisation Fatigatio e.V. [1] und unter Schirmherrschaft der rheinland-pfälzischen Gesundheitsministerin Malu Dreyer recherchiert und mit Betroffenen, ihren Angehörigen und Experten gesprochen. Das ging nicht ohne größte Selbstdisziplin, aber auch entsprechende Vorbereitung von den einzelnen Protagonisten, die vor der Kamera Rede und Antwort stehen mußten, wie der Film kommentiert. Das Fazit der Produzenten laut einer Pressemitteilung von GESUNDHEIT ADHOC: "Bei unseren Recherchen zu ME/CFS sind wir auf ein Ausmaß an Leid und Unrecht gestoßen, das wir so vorher nicht für möglich gehalten hätten." [6,7]

Die bedrückende Wahrheit, mit der Hoffnungslosigkeit und Aussichtslosigkeit ihrer Wünsche und Bedürfnisse wie eine Erwachsene am Lebensende konfrontiert zu sein, wird bereits von den beiden jüngsten CFS-Erkrankten, Pauline (18 Jahre) und ihre Schwester Adele (11 Jahre), aus Bad Vilbel, Hessen, noch am Anfang ihres Lebens stehend, realisiert:

"Mich noch einmal mit meiner besten Freundin treffen zu können, das wäre schön." (Adele)

"ein ganz normales Leben führen" (Pauline)

Für den Großteil der Betroffenen, die meist in jungen Jahren zwischen 20 und 40 erkranken, bedeutet ME/CFS nicht nur das abrupte Ende ihres beruflichen und sozialen Lebens und ihrer Zukunftspläne. Gezeigt werden auch die zahllosen Diskriminierungen und gesellschaftlichen Bedrohungen, bis zu Strafandrohungen, die laut Filmmeinung durch das Informationsdefizit über diese Krankheit von den Betroffenen zusätzlich ertragen werden müssen:

Die beiden Mädchen sind seit vielen Monaten, die ältere schon seit zwei Jahren schwer erkrankt. Ihre Situation wird allerdings dadurch extrem verschärft, daß die Schulbehörden die Schwere der Krankheit bezweifeln und ihnen und ihren Eltern unterstellen, die Kinder - erfolgreiche und vielversprechende Schülerinnen vor ihrer Krankheit - wollten sich lediglich der Schulpflicht verweigern. Wenn allerdings Pauline ihre eigene Situation als "geistigen Arrest" bezeichnet, weil die beispiellose Kraftanstrengung, die jede kleinste Regung begleitet, den Erkrankten auf eine beständige Konfrontation mit sich selbst zurückwirft, so daß ein "Ausweichen in andere Welten durch Bücher oder Filme" nicht mehr möglich ist, zeigt doch, daß die Vertreter der Schulbehörden offenbar dem Menschen nicht zugehört haben können, den sie als "arbeitsfaul" stigmatisieren. Die Machtlosigkeit der Kinder gegenüber der Verfügungsgewalt der Staatsinstitutionen wird besonders bei der 11jährigen Adele deutlich. Seit Monaten lebt die Familie in Angst, daß den Eltern das Sorgerecht entzogen und das Mädchen zwangsweise in einer Pflegefamilie oder in einem Heim untergebracht wird. Die Amtsärztin hat dringend notwendige, jugendpsychiatrische und kindergynäkologische Untersuchungen angeordnet und den Verdacht auf sexuellen Mißbrauch ausgesprochen. Die Willkür der Behörden ist jedoch kein Einzelfall und kann auch auf andere Krankheiten übertragen werden. Nicht zur Sprache kommt hier, daß sie auch mit Anerkennung der Krankheit nicht enden wird.

Der Ärztemarathon, die ständige Auseinandersetzung mit den Behörden gehören zu der Art von bereits erwähnten Anstrengungen, die den Zustand der Patienten mit Chronischem Fatigue Syndrom langfristig sogar verschlechtern können. Dennoch ist es dieser ständige mindestens Zweifronten-Kampf, der die fünf Protagonisten des Films verbindet. Sie kämpfen auf der einen Seite gegen die Antriebslosigkeit, die eigene Schwäche und das Leid, um das eigene Überleben, auf der anderen Seite beziehen Krankenkassen, Behörden wie auch verständnislose Ärzte Stellung, die ihnen simpelste Vereinfachungen oder Erleichterungen auf eine Weise schwer machen und an Reglementierungen binden, die für jemanden mit dieser Symptomatik schlicht nicht zu "stemmen" sind. Dies zeigt sich in der gerichtlichen Auseinandersetzung der seit 38 Jahren an CFS leidenden Theresia, um ihre Fahrkosten zum Arzt ihres Vertrauens erstattet zu bekommen und in gutachterlichen Schuldzuweisungen der anderen Protagonistinnen Katharina und Andrea, deren Schicksale der Dokumentarfilm beleuchtet:

"... Aufgrund der andauernden Überforderungssituation zeigten sich erste Symptome wie Erschöpfung und Antriebslosigkeit. Im Verlauf erhielt die Patientin immer mehr Unterstützung aus der Familie, was die Somatisierungsstörung aufrechterhielt und chronifizierte."

Die auf diese Weise "verurteilte" Andrea, die nur im zähen Ringen mit den Behörden einen zeitweiligen Rentenbescheid erwirken konnte, sagt am Ende des Films deutlich, sie wünsche sich, die wenige verbleibende Kraft einmal auch noch dafür nutzen zu dürfen, etwas "Schönes zu erleben". Allein die falsch verstandene REHA-Therapie, in der sie in Bezug auf das obige Gutachten praktisch zwangsweise "mobilisiert" bzw. zur Bewegung zwangsweise "motiviert" werden sollte, indem sie keine Unterstützung erhielt, hatte ihre Krankheit um ein wesentliches verschlimmert. Das ist kein Einzelfall, wie ADHOC beschreibt:

Während in anderen Ländern wie z.B. den USA oder Skandinavien das Wissen um ME/CFS immer weiter zunimmt, ist die Krankheit in der deutschen Öffentlichkeit und der deutschen medizinischen Fachwelt nach wie vor kaum bekannt oder wird falsch eingeschätzt. Patienten werden daher trotz der Schwere der Symptome häufig als psychisch krank diagnostiziert. Mit verheerenden Folgen: Betroffene werden oft in psychiatrische oder psychosomatische Kliniken eingewiesen, derweil mögliche, z.B. immunologische, Therapieansätze, verhindert. Häufig verschlechtert sich der Gesundheitszustand durch falsche Therapien. Nur eine Handvoll Ärzte in Deutschland verfügen über das Wissen, um ME/CFS gemäß der Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation als neuro-immunologische Erkrankung zu diagnostizieren und angemessen zu behandeln. [6]

Wobei anzumerken ist, daß auch die hier erwähnten Therapieansätze nicht immer wirksam und durchaus umstritten sind.

Nicht nur die krankheitsbedingte Schwäche läßt den täglichen Kampf ums Überleben immer härter werden. Die Protagonistinnen werden zusätzlich dadurch geschwächt, daß sie selbst an der gesellschaftlich aufoktroyierten Schuldzuweisung, "eine Belastung für andere zu sein", schwer vorbeikommen und keine an diesen Werten orientierte Definition für sich selbst finden können. "Sie betet für andere", meint der vertraute Seelsorger der katholisch gläubigen Theresia, der mit ihr das Abendmahl am Bett vollzieht, "das ist doch auch etwas", und macht damit den immanenten Widerspruch deutlich.

Manchmal, sagt Theresia, stehe sie an der Brüstung ihres Balkons und denkt, sie müsse jetzt nur springen, denn wozu wäre sie noch da. Besser wäre es doch, wenn sie nicht mehr da wäre...

Durch die Fallbeispiele in verschiedenen Entwicklungsstufen der Krankheit und ihre Ähnlichkeit, was das Empfinden der Protagonisten betrifft, wird deutlich, daß die Kritik an der Medizin, die hier als zuständige Instanz adressiert wird, Abhilfe zu schaffen, viel zu kurz greift und das Nachdenken grundsätzlich an einer anderen Stelle, nämlich den gesellschaftlichen Wertvorstellungen, ansetzen sollte. Am Ende bleibt eine Frage im Raum, ob es nicht ohnehin ein Grundirrtum ist, davon auszugehen, der Pharma- und Medizinkomplex könne dazu da sein, etwas anderes als ökonomische Exekutive durchzuführen, die auf die gesellschaftlichen Verwertungskategorien von "nützlich und unnütz", wert und unwert", "gut und schlecht" Bezug nimmt, die jeder einzelne verkörpert.

Es bleibt daher kritisch zu hinterfragen, ob mit einem solchen Film, der, mit welch gutgemeinten Absichten auch immer, darum bemüht ist, einen bei vielen Betroffenen sehr unterschiedlich ausgeprägten Symptomkomplex darzustellen, um CFS als Krankheit gewissermaßen gesellschaftsfähig zu machen, den Betroffenen wirklich gedient ist. Seine ursprünglichen Absicht, ein Informationsdefizit zu CFS zu korrigieren und gleichzeitig unbeabsichtigt auch die Gesamtproblematik im Vergleich zu anderen Krankheiten aufzuzeigen, könnte in diesem Sinne aber als Möglichkeit genutzt werden, die Diskussion über eine Medizin, die ihre Aufgabenbereiche nach ökonomischen Gesichtspunkten selektiert, an diesem Beispiel erneut aufzugreifen.

Filmpremiere "In engen Grenzen - Leben mit CFS" [8]
Live Diskussion zum Film: Selbsthilfe-Treff ME/CFS am 18.8.2012 [9]

Anmerkungen:

[1] Patientenorganisation Fatigatio e.V.

http://www.fatigatio.de/index.php?id=10

[2] Krankheit wird im klinischen Wörterbuch von Pschyrembel folgendermaßen definiert:

"Krankheit: (engl. disease, illness); Erkrankung, Nosos, Pathos, Morbus; 1. Störungen der Lebensvorgänge in Organen oder im gesamten Organismus mit der Folge von subjektiv empfundenen bzw. objektiv feststellbaren körperlichen, geistigen bzw. seelischen Veränderungen; 2. im Sinne der sozialversicherungs- und arbeitsrechtlichen Gesetze der regelwidrige Körper- oder Geisteszustand, der in der Notwendigkeit einer Heilbehandlung [...] oder der Arbeitsunfähigkeit wahrnehmbar zutage tritt; 3. begriffliche Bezeichnung für eine definierbare Einheit typischer ätiologischer, morphologischer, symptomatischer, nosologisch beschreibbarer Erscheinungen, die als eine bestimmte Krankheit verstanden wird."
(Klinisches Wörterbuch von Pschyrembel, 2002)

[3] mehr zum Thema Burnout findet man auch in der neuen Schattenblick-Serie "Burnout - neue Regeln der Erträglichkeit (SB):
http://www.schattenblick.de/infopool/pannwitz/ip_pannwitz_redakt_sortiert.shtml

[4] siehe nichtkommerzielle Webseite des Arbeitskreises CFS Aktuell
http://www.cfs-aktuell.de/
und hier speziell zu dem Thema Tod durch CFS:
http://www.cfs-aktuell.de/august12_2.htm

[5] http://www.cfs-portal.de/

[6] www.gesundheit-adhoc.de

[7] mehr zur Krankheit: www.lost-voices-stiftung.org

[8] nach der Premiere ist der Film im Internet auf der Webseite von "Das Bürgerfernsehen, der Offenen Kanal (OK) Neustadt" bzw. "OK Weinstraße" abzurufen, siehe URL:
www.in-engen-grenzen.de/film/film-im-internet/ oder:
http://cfs.grundgesund.de/

[9] Am Samstag den 18. August 2012 um 16.00 Uhr können Betroffene, Angehörige und Freunde ME/CFS - Kranker zu Hause an einer Live-Diskussion teilnehmen. Das Bürgerfernsehen, der Offene Kanal (OK) Weinstraße sendet an diesem Tag zum ersten Mal live "Selbsthilfe-Treff-ME / CFS". In der ersten Sendung wollen die Macher des Films mit Christine Morgenstern, Gesundheitsministerium Rheinland-Pfalz, Marlies Zurhorst, Fatigatio e.V., einem Vertreter der Ärzte und Gabriele Knauf, Psychotherapeutin und Filmemacherin, über den Film "In engen Grenzen - Leben mit CFS" diskutieren.
http://cfs.grundgesund.de/

13. August 2012