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REZENSION/039: "Äquator - Die Linie des Lebens" - TV-Dokumentationsreihe (SB)




Je bedrohter die natürliche Lebenswelt, desto zahlreicher und bemühter die Versuche, sie zumindest in Bild und Ton vor ihrem Niedergang zu bewahren. Die Zahl der insbesondere im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ausgestrahlten Dokumentationen über Naturmonumente und -landschaften hat in den letzten Jahren stark zugenommen, und kein Aspekt wie regionale Ernährungsweisen, exotische Tiere, lebensgeschichtliche Erkenntnisse, besonders alte Bäume oder die menschliche Kultivierung der Natur in Form von Gärten und Parks erscheint zu unbedeutend, als daß ihm nicht meist mehrere Folgen umfassende Filmprojekte gewidmet werden. Mit dem Wissen um die Vergänglichkeit der natürlichen Lebenssysteme greift fast so etwas wie eine Last-Minute-Hektik um sich, die im besten Fall das Bewußtsein der Notwendigkeit steigert, entschiedene Maßnahmen zum Erhalt bedrohten Lebens treffen zu müssen.

Der Kultursender Arte leistet auch auf diesem Gebiet Herausragendes, wie die zahlreichen geographischen und lebensweltlichen Formate belegen, an deren Produktion der deutsch-französische Kanal beteiligt war. Mit der für den 22. September 2018 vorgesehenen Ausstrahlung der zwölfteiligen TV-Dokumentation "Äquator - Die Linie des Lebens" wird ein von der inhaltlichen Konzeption wie filmischen Ausführung besonders ambitioniertes Projekt vorgestellt. Das Datum ist nicht zufällig gewählt, sondern geht konform mit dem inhaltlichen Anspruch, eine Bestandsaufnahme der Welt am Äquator zu liefern, die zum Zeitpunkt der Tagundnachtgleiche einen Moment des Innehaltens evoziert, als könne man die Welt einmal kurz anhalten, um ihren Status quo Revue passieren zu lassen.

An diesen astronomischen Schnittpunkten, an denen die Sonne zweimal im Jahr direkt über der geographischen Breite Null Grad steht und mit dieser auch Äquinoktium genannten Position jeweils Frühling- und Herbstbeginn auf der Nord- und Südhalbkugel markiert, werfen ihre Strahlen bei senkrecht nach oben stehenden Gegenständen und Lebewesen praktisch keinen Schatten. Es ist eine Konstellation im Getriebe der Planetenlaufbahnen und Sonnenstellung, die den Menschen seit jeher ihre Einbettung in kosmische Zusammenhänge bewußt gemacht und neben den traditionellen Feiern zur Sommer- und Wintersonnenwende eigene Formen rituellen Brauchtums hervorgebracht hat.

Die vom Arte-Koordinator im ZDF, Wolfgang Bergmann, erdachte Konzeption wurde 2017 zwischen der Tagundnachtgleiche im Frühjahr und im Herbst von mehreren Filmteams realisiert. Sie reisten überall auf der Welt in die Äquatorialregionen, nicht nur, um den Stand der ökologischen und sozialen Entwicklung zu dokumentieren, sondern auch um die Frage zu beantworten, ob es sich beim Äquator nur um ein Konstrukt der Kartographen und Navigatoren handelt, oder ob diesem geometrischen Kondensat der Vermessung der Welt darüber hinaus Bedeutung zukommt. "Aber die vielleicht überraschendste Erkenntnis für uns alle", so Bergmann, "war, dass es den Äquator wirklich gibt - im Bewusstsein seiner Bewohnerinnen und Bewohner und als Leitlinie des Lebens, das auch in seiner Bedrohtheit die paradiesische Herkunft nicht verleugnet".

Es liegt nahe, daß eine so aufwendige und ehrgeizige TV-Produktion vielen ZuschauerInnen gerecht werden will und ihrem ideellen Gehalt daher viel Raum zugestanden wird. Zugleich kann keine seriöse Fernsehdokumentation, die sich einer bestimmten Region der Erde widmet, in Zeiten des Klimawandels und der Biodiversitätskrise davon unbeeinträchtigt an Bilder von Naturparadiesen anknüpfen, die die Schönheit ihres Lebens in organischer Perfektion inszenierten. Zweifellos kommt es auf die Mischung an, und man darf gespannt sein, inwiefern diese Koproduktion verschiedener TV-Akteure etwa bei Berichten über aussterbende Tiere oder die Bedrohung von Inselstaaten durch den ansteigenden Meereswasserspiegel der Notwendigkeit Rechnung trägt, das Ergreifen entschiedener Maßnahmen gegen die weitere Emission von Treibhausgasen und Vorkehrungen zum Schutz bedrohter Arten mit gebotener Dringlichkeit zu vermitteln. In Ländern wie Deutschland, die weit weniger vom Klimawandel betroffen sind als die 14 Äquatorialstaaten, die die Filmteams bei den Aufnahmen zu dieser Dokumentation bereist haben, dafür jedoch durch ihren industriellen Entwicklungsstand und die vorherrschenden Konsumgewohnheiten weit mehr Verantwortung für die weltweite Krise des Lebens tragen, sollte dies für ein so privilegiertes Medium wie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk selbstverständlich sein.

Was die im Zenit des Himmels stehende Sonne auch nicht dem Schatten entreißt, sind die entwicklungs- und machtpolitischen Zusammenhänge, die bis zum heutigen Tag ein steiles Nord-Süd-Gefälle hervorbringen. Die Unterschiede in den Produktivitätsniveaus wie den dadurch bedingten sozialen und ökonomischen Parametern sind so groß, daß jeder, der diesen Abhang außerhalb touristischer Passagen, handelspolitischer Transferrouten und diplomatischer Kanäle zu überwinden versucht, Gefahr läuft, schon bei kleinen Fehltritten abzustürzen. So ist die Bedeutung des Äquators als Trennscheide zwischen den nach europäischen Staats- und Rechtsformen geordneten Verhältnissen auf der Nordhalbkugel und dem, in großer Übereinstimmung unter ansonsten verfeindeten Kolonialmächten, zur freizügigen Ausbeutung deklarierten "Niemandsland" der südlichen Hemisphäre für seine Kulturgeschichte bis heute zentral.

Nach wie vor prägen Ordnungsvorstellungen von einer formellen Gleichheit der Staaten, deren reale Ungleichheit kaum größer sein könnte, das Weltbild vieler Menschen. Wurde in früheren Jahrhunderten, als insbesondere die europäischen Seemächte den Äquator praktisch mit der Grenze der Zivilisation gleichsetzten, jenseits derer Terra nullius zu vielversprechenden Beutezügen einlud, als der sprichwörtliche Dispens, daß es südlich vom Äquator keine Sünde gebe, auch von den in christlicher Mission in die Welt der "Wilden" eindringenden Klerikern abgesegnet wurde, der Eurozentrismus mit Strömen indigenen Blutes geheiligt, so unterscheiden sich die Überlebenschancen zwischen westeuropäischen Metropolengesellschaften und dem Globalen Süden bis heute erheblich.

Zweifellos ließen sich Geschichte und Gegenwart der Äquatorialregionen in mehrerlei Hinsicht in ein weit düstereres Licht tauchen, als es bei dieser dem Sujet gemäß lichtdurchstrahlten TV-Dokumentation voraussichtlich der Fall sein wird. So werden die desaströsen Folgen klimatischer Großereignisse wie der azyklischen Wetterveränderungen namens El Niño im äquatorialen Pazifik meist als Naturkatastrophen bezeichnet. Mike Davis hat in seinem Klassiker "Die Geburt der Dritten Welt" hingegen nachgewiesen, daß die in der Folge El Niños auftretenden Nahrungsmittelkrisen allemal menschengemacht sind, was ihn auch von einer "Politischen Ökologie des Hungers" sprechen läßt.

So könnte diese außergewöhnliche Dokumentationsreihe auch dazu anregen, den Dingen auf eine Weise auf den Grund zu gehen, die die programmatisch angelegten Gleichgewichtsvorstellungen und Symmetrieachsen mit den real existierenden Widersprüchen globalpolitischer Hemisphärenlogik konterkariert. In jedem Fall dürften die in hochauflösendem HD präsentierten Fernsehbilder das Ziel, Unterhaltung und Information in ästhetisch überzeugender Aufbereitung genießen zu können, erfüllen. Für die eigens dazu produzierte, vier Folgen von je 15 Minuten umfassende VR-Serie dürfte dies erst recht gelten, allerdings bedarf es zu diesem Erlebnis entsprechender Apps oder Headsets.

Äquator - Die Linie des Lebens

Dokumentationsreihe in 12 Folgen von jeweils ca. 52 Minuten Dauer
Deutschland/Kanada, 2018
Produziert von: ZDF/ARTE, ZDF Enterprises, NHK, Discovery Channel Canada, SPIEGEL TV, PRIMITIVE ENTERTAINMENT
Erstausstrahlung am Samstag, 22. September 2018, 8.35 Uhr bis 19.10 Uhr


9. September 2018


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