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GERIATRIE/316: Dysphagie und Malnutrition - verbreitet und unterschätzt (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 4, April 2022

Verbreitet und unterschätzt: Dysphagie und Malnutrition

von Dr. Jens Dowideit,
Ameos Klinikum Middelburg


DYSPHAGIE. Dysphagie und die mit ihr assoziierte Mangelernährung in der Klinik sind in der ambulanten Medizin unterdiagnostiziert. Aspirationen und in der Folge Aspirationspneumonien treten im Alter und bei Schlaganfällen, Morbus Parkinson oder Demenz bei bis zu 50 % der Betroffenen auf. Die durch Entzündung und Mangelernährung begünstigte "Frailty" ist mit verschlechterter Lebensqualität und verkürzter Lebensdauer verbunden. Erfahrungen mit einer zielgerichteten Diagnostik sammelt die spezialisierte Geriatrische Institutsambulanz (GIA) im Ameos Klinikum Middelburg.


Die Diagnostik und Behandlung in einer geriatrischen Klinik auf Zuweisung von niedergelassenen Ärzten steht für sektorenübergreifende Medizin, mit der Schluckstörungen und deren Schweregrad und damit klinische Bedeutung nachgewiesen und ebenso wichtig eine Dysphagie auch ausgeschlossen werden kann. Mithilfe der hier ausgesprochenen Therapieempfehlungen vermögen niedergelassene Ärzte Patienten zielgerichtet zu behandeln. Die ersten Patienten sind in der GIA des Klinikums Middelburg mit interessanten Resultaten untersucht worden.

Schluckstörungen sind im Alter weit verbreitet und doch wenig bekannt. So schätzen wir die Häufigkeit bei über 65-Jährigen auf über 10 %, bei Patienten nach Hirninfarkten oder mit Morbus Parkinson beträgt die Prävalenz bis zu 50 %. Die sich ableitende verminderte Aufnahme von Flüssigkeit und Nährstoffen prädisponiert den älteren Menschen für eine Exsikkose und/oder Malnutrition. Beides sind Komplikationen, die ihrerseits wiederum Konsequenzen wie Frailty mit Sturzgefahr und Verlust der Selbstständigkeit bedingen. Während sie in spezialisierten stationären Einrichtungen der Neurologie und Geriatrie aktuell zum Standard gehört, ist die zielgerichtete klinische und apparative Diagnostik einschließlich fiberendoskopischer Schluckuntersuchung (FEES) in der ambulanten Medizin nur punktuell und nicht flächendeckend möglich.

Aus diesem Grund hat unsere Klinik eine Zulassung zur ambulanten Diagnostik von Patienten mit geriatrischen Syndromen wie Schluckstörung und Malnutrition erhalten. Im multiprofessionellen Setting kümmern sich Ärzte, Physiotherapeuten und Logopäden um ambulant zugewiesene Patienten. Zuweisen können Hausärzte und Fachärzte für Neurologie Patienten, die sie durch ein kurzes Screening als geriatrisch identifiziert haben und bei denen aufgrund der Anamnese, des klinischen Befundes oder der bisherigen Untersuchungen eine Schluckstörung vermutet wird. Die ersten Erfahrungen zeigen, dass die ambulante multiprofessionelle Untersuchung der Patienten in der Institutsambulanz auch in Corona-Zeiten mit Hygienekonzept durchaus möglich und erfolgreich durchführbar ist.

Nach ärztlichem Aufnahmegespräch erstellen Physiotherapeuten ein geriatrisches Assessment, das die Mobilität und kognitive Funktionen erfasst, woraufhin ein geriatrisch spezialisierter Logopäde den Schluckakt klinisch untersucht. Ergänzend führen dann Arzt und Logopäde nach umfangreicher Anamnese zum Schluckverhalten und zur Gewichtsentwicklung eine FEES durch, die aufgrund ihrer hohen klinischen Aussagekraft den internationalen Goldstandard darstellt. In dieser werden Pharynx/Larynx und der Schluckakt endoskopisch im Hinblick auf Morphologie und Funktionalität beurteilt und mittels Applikation von mit Speisefarbe angefärbten Kostformen verschiedener Konsistenz die Qualität des Schluckens beurteilt. Dabei unterscheidet man als Pathologien die Penetration, bei der Speichel bzw. Flüssigkeit oder Nahrung den Kehlkopfeingang benetzt, und die Aspiration mit dem Durchtritt von Speichel bzw. Flüssigkeit/Nahrung durch die Stimmritze in die Trachea.

Die Befunde ermöglichen es uns, Behandlungsempfehlungen auszusprechen, wie beispielsweise Andicken von Flüssigkeiten, Einüben einer optimierten Körperhaltung oder Kompensationsmanöver beim Schlucken. In dem mit Patient und ggf. Angehörigen kommunizierten Untersuchungsbefund werden diese Therapieempfehlungen dem zuweisenden Hausarzt oder Facharzt für Neurologie an die Hand gegeben, sodass diese sie gemeinsam mit dem Patienten ausführlich besprechen und umsetzen können. GIA bedeutet also moderne sektorenübergreifende Medizin mit enger Vernetzung von geriatrischer Klinik und Haus- und Fachärzten.

Die ersten Erfahrungen der Geriatrischen Institutsambulanz zeigen, wie vielfältig die Ursachen sind, die zu einer Schluckstörung führen können. Bei den ambulanten Patienten erfolgten mehrere Zuweisungen aufgrund einer Dysphagie durch degenerative HWS-Erkrankung mit Spondylophyten oder Verdickungen und Verkalkungen des vorderen Längsbandes der Halswirbelsäule als Morbus Forestier. Daraus resultierte eine Einengung des Hypopharynx und die Beeinträchtigung des Schluckens. Auch Morbus Parkinson oder zerebrovaskuläre Erkrankungen liegen einer Vorstellung in der GIA zugrunde. Nicht in allen Fällen lässt sich der Verdacht auf eine klinisch relevante Schluckstörung erhärten. Diese Gewissheit kann unnötige Ängste ersparen und nicht-indizierte Kosteinschränkungen überflüssig machen und daher segensreich sein. Interessanterweise waren die Auswirkungen auf den Ernährungszustand bei den untersuchten Patienten noch gering. Dies mag daran liegen, dass die überwiesenen Patienten möglicherweise eine "Positivauslese" darstellen, da sich besonders "fitte" geriatrische Patienten von der ambulanten Untersuchungsmöglichkeit angesprochen fühlen. Wahrscheinlich aus diesem Grund decken sich die in der GIA festgestellten Diagnosen in ihrer Häufigkeitsverteilung bisher nicht mit denen der stationären Patienten, bei denen Folgezustände nach Hirninfarkt zahlenmäßig klar im Vordergrund stehen. Dabei richtet sich das Angebot der GIA auch und besonders an schwerbetroffene Patienten zu Hause und auch in Pflegeinrichtungen mit erheblichen Alltagseinschränkungen, da diese besonders fragil sind und von adäquater Ernährung vorrangig profitieren. Es ist interessant, abzuwarten, wie sich das Diagnosespektrum in Post-Corona-Zeiten entwickelt.


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Kasuistik

von Dr. Jens Dowideit


Ein 81-jähriger Patient kommt wegen länger bestehender und zunehmender Dysphagie von der Hausärztin überwiesen in die Geriatrische Institutsambulanz. Auf Nachfrage berichtet er über Schluckbeschwerden, die vor ca. 2 Jahren begonnen und seitdem zugenommen hätten. Jetzt habe er das Gefühl, dass ihm sowohl feste als auch flüssige Kost im Hals steckenbleibe. Er berichtet, dass er häufig schmerzhaft nachschlucken und sich räuspern müsse. Vor 2 Jahren habe er eine Pneumonie durchgemacht, über deren Ätiologie nichts Näheres bekannt ist.

Der Patient zeigt sich bewusstseinsklar, zu allen Qualitäten orientiert, der Body-Mass-Index liegt mit 27 kg/m² im altersbezogenen Normbereich und im Ernährungsassessment ergibt sich ein Risiko zur Mangelernährung. Eine signifikante Gewichtsabnahme wird verneint.

Das geriatrische Assessment zeigt einen normalen Aufsteh- und Gehtest an Unterarmgehstützen und einen leichten Hilfebedarf in Alltagsverrichtungen an. Der Mobilitätstest nach Tinetti zeigt leichte alltagsrelevante Beweglichkeitsstörungen.

In der klinisch-logopädischen Untersuchung findet sich eine etwas zeitverzögerte Schluckreflextriggerung bei auffälliger nasaler Sprache. Der Wasserschlucktest weist als Auffälligkeit mehrfaches Nachschlucken ohne Husten oder Räuspern nach.

Fiberschluckendoskopisch (FEES) lässt sich eine hochgradige Einengung des Hypopharynx von dorsal nachweisen, durch die der Hypopharynx wie ein Briefschlitz komprimiert wird. Daraus resultiert ein stark eingeschränkter Epiglottisverschluss beim Schluckakt. Bei sämtlichen Konsistenzen findet sich eine stark vermehrte Schluckarbeit mit mehrfachem, angestrengtem Schlucken und Räuspern. Kein Nachweis einer Penetration oder Aspiration.

Korrespondierend zum endoskopischen Befund finden sich in einer mitgebrachten CT-Untersuchung der HWS ausgeprägte ventrale Osteophyten und Syndesmophyten der mittleren HWS mit hochgradiger Kompression des Hypopharynx p. m. auf Höhe der Epiglottis.

Zusammenfassend besteht bei dem Patienten eine schwere alltagsrelevante Odyno- und Dysphagie bei hochgradiger Hypopharynxeinengung durch große komprimierende ventrale Osteophyten und Syndesmophyten der HWK 3 - 5.

Daraus leitet sich die Empfehlung zum Schlucken möglichst passierter Kost in optimierter Körperhaltung mit häufigem Nachschlucken und Nachspülen mit Flüssigkeit ab. Ferner ergibt sich aus symptomatischen und vor allen Dingen prognostischen Gründen die Indikation zur Vorstellung in der Wirbelsäulenchirurgie zur operativen Abtragung der stenosierenden Osteo- bzw. Syndesmophyten und der Wiederherstellung der Nahrungspassage und Normalisierung des Schluckaktes und zur Vorbeugung von Aspirationspneumonien.
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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 4, April 2022
75. Jahrgang, Seite 36-37
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 21. Mai 2022

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