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ONKOLOGIE/1671: Forschung - Die Achilles-Ferse des Tumors (ATTEMPTO! - Uni Tübingen)


ATTEMPTO! 38 | 2015 - Forum der Universität Tübingen

Die Achilles-Ferse des Tumors

von Judith Rauch


Im Kampf gegen den Krebs haben Mediziner viele Niederlagen erlitten. Der Tübinger Leibniz-Preisträger Lars Zender steht für neue Wege in der Tumorforschung, die wichtige Beiträge zur Entwicklung neuer Krebstherapeutika liefern könnten.

Mit innovativen Methoden gegen den Krebs

Mit 40 Jahren hat Lars Zender viel erreicht: Publikationen in renommierten Journalen, wertvolle Auszeichnungen - darunter im Jahr 2014 der mit 2,5 Millionen Euro dotierte Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis. Und das auf einem Gebiet, in dem in den letzten Jahrzehnten mehr Fehlschläge als Fortschritte zu verzeichnen waren: der Krebsforschung.

Als Professor für Onkologie an der Universität Tübingen verdeutlicht Zender seinen Studierenden die Stagnation gern selbst mit Zahlen und Grafiken: Seit 1971, als Richard Nixon mit dem National Cancer Act zum "Krieg gegen den Krebs" aufrief, sind allein in den USA 150 Milliarden Dollar in die Krebsforschung geflossen, weltweit mehr als eine Billion. Dennoch hat sich bei den allermeisten Tumoren nichts an der daraus resultierenden Sterblichkeitsrate geändert. Wer 1965 eine Chemotherapie gegen fortgeschrittenen metastasierten Dickdarmkrebs erhielt, überlebte bis zu 14 Monate. Heute hat sich diese Zeit bei Anwendung aller zur Verfügung stehenden Therapien auf gerade einmal 2,5 Jahre erhöht.

So kompliziert wie die U-Bahn von Tokio

Freilich gibt es Ausnahmen, Therapieerfolge wie das Medikament "Gleevec". Bei einer bestimmten Leukämie-Form (CML) hemmt es gezielt die Vermehrung der Tumorzellen. Als "Wunderwaffe" gegen den Krebs wurde es 2001 vom TIME Magazine gefeiert. "Warum gibt es solche Wunderwaffen nicht gegen häufig vorkommende Tumore wie z.B. Dickdarm-, Lungen-, Brust-, Leber- oder Bauchspeicheldrüsenkrebs?", fragen die angehenden Mediziner ihren Professor. Lars Zender, der Spezialist für Leberkrebs und andere Tumore des Magen-Darm-Trakts, greift dann zu einer Folie, die im Vergleich die Straßenbahn von Würzburg und die U-Bahn von Tokio zeigt. "Bei der CML entsteht der Krebs durch eine einzige Gen-Veränderung, die gut bekannt ist", erläutert er. "Der Arzt muss nur einen Signalweg unterbrechen." Das wäre so, als wenn man in Würzburg die Stammstrecke der Straßenbahn lahmlegt. Für tödliche Krebserkrankungen wie Brustkrebs, Darmkrebs oder Lungenkrebs sind aber mehr als 100 Mutationen pro Tumor typisch. Einzelne medikamentöse Blockaden von Signalwegen können solche Tumore schnell umgehen - genauso wie ein Passagier im U-Bahn-System von Tokio, im Gewirr der vielen Linien, immer einen Umweg findet.

Sollte man den Krieg gegen den Krebs also verloren geben? Was verleiht einem Krebsmediziner der jüngeren Generation Hoffnung? "Wir haben jetzt neue Technologien zur Verfügung", sagt Zender. "Diese ermöglichen uns, gezielt nach solchen Verwundbarkeiten in Krebszellen zu suchen, die nicht durch eine schnelle Anpassung also das Umsteigen in eine andere U-Bahn Linie umgangen werden können."

Eine davon heißt RNA-Interferenz. Im Jahr 2006, nur zehn Jahre nach ihrer Entdeckung, wurde sie mit dem Nobelpreis belohnt. Sie beruht darauf, dass man mit kleinen, maßgeschneiderten Stückchen der Ribonukleinsäure (RNA) Gene "zum Schweigen bringen" kann: Sie werden nicht mehr abgelesen, kommen also nicht zur Wirkung. Krebsforscher Zender benutzte sie als Suchinstrument. Er spritzte eine ganze Bibliothek von RNS-Schnipseln in Tumorzellen einer Zellkultur sowie in Versuchsmäuse mit Leberkrebs, um Gene zu finden, deren Deaktivierung die Tumorzellen verkümmern lässt. "Wir suchen nach der Achillesferse des Tumors", formuliert es Zender.

Krebs-Gene zum schweigen bringen

Einer der Treffer, die die Forscher dabei erzielten, war 2014 ein Gen mit dem Namen Mapk14. Man kann es nicht nur mit RNA abschalten, sondern auch mit einem bereits für Entzündungen erprobten Medikament namens Skepinone-L. Kombiniert man dieses mit dem Krebsmedikament Sorafenib, lässt sich der Leberkrebs in Schach halten - zumindest bei Mäusen gelang dies Zenders Team. Nun ist eine klinische Studie an 20 menschlichen Patienten geplant; sie soll nach einigen Voruntersuchungen spätestens 2016 in Tübingen beginnen.

Doch nicht nur das In-vivo-Screening mit RNA-Sonden ist neu und innovativ. Auch die Versuchsmäuse selbst, die das Team von Zender einsetzt, sind es. Zu lange hätten Krebsforscher auf genetisch veränderte Tiere, so genannte Knock-Out-Mäuse, gesetzt. Doch sie heranzuzüchten, dauere zwei bis drei Jahre, viel zu lange für die Arbeit eines Doktoranden oder Postdoktoranden. Auch sogenannte Xenograft-Modelle - Mäuse mit implantierten menschlichen Tumorzellen - erwiesen sich nicht als ideal. Allzu oft wirkten neue Medikamente an diesen Tieren fabelhaft, an Menschen jedoch gar nicht oder deutlich schlechter. Deswegen hat sich Zender für eine Methode entschieden, bei der "realistische Tumore" in der Leber oder der Bauchspeicheldrüse der Versuchsmäuse erzeugt werden. Zu diesem Zweck werden den Tieren krebserzeugende Gene, die auf geeigneten "Gen-Taxis" sitzen, direkt ins Gewebe gespritzt. Zender lernte das Prinzip als Postdoktorand am Gold Spring Harbor Laboratory in New York kennen und entwickelte darauf basierend eine neue Generation von Mausmodellen des Leberzellkarzinoms und des Bauchspeicheldrüsenkarzinoms, aber auch weiterer Tumore des Bauchraums. Zuvor gab es solche Modelle nur für die Erforschung von Leukämien und Lymphdrüsenkrebs.

In New York beschäftigte sich der Wissenschaftler darüber hinaus mit der "Seneszenz" - einer Art Schlafzustand, in den Zellen eintreten, die gefährdet sind, zu Krebszellen zu entarten. Er entdeckte, dass Vorstufen des Leberkarzinoms in diesem Zustand Botenstoffe abgeben, die wiederum Immunzellen auf den Plan rufen. "Der entdeckte Mechanismus der Immunüberwachung hat großes Potenzial für die Entwicklung neuer Methoden zur Krebsprävention und Behandlung", heißt es in der Begründung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für den Leibniz-Preis.

Die Regeneration der Leber unterstützen

Und auch die Frage, wie man die bereits den alten Griechen bekannte Regenerationsfähigkeit der Leber noch steigern und diesen Effekt in der Medizin nutzen kann, beschäftigt den Wissenschaftler. Er hat dazu in Kooperation mit Kollegen aus Hannover, Braunschweig und Tübingen 2013 eine Arbeit in der Zeitschrift Gell veröffentlicht. Nun soll ein maßgeschneidertes Medikament entwickelt werden, das kranken Lebern wieder auf die Sprünge hilft. Zielmolekül ist dabei ein Protein namens MKK4, eine sogenannte Kinase. Zenders Team hat sie mithilfe des RNA-Screening-Verfahrens identifiziert. Wird MKK4 gehemmt, so haben seine Versuche gezeigt, regeneriert sich eine geschädigte Leber, und Tiere mit akutem oder chronischem Leberversagen überleben länger.

Was noch zu klären wäre: Warum hat sich der Spitzenforscher für Tübingen entschieden? Eine Stadt, die bisher weder eine U-Bahn noch eine Straßenbahn hat? Der fränkischen Universitätsklinik hatte Zender 2012 schon so gut wie zugesagt, als ihn ein Anruf des ärztlichen Direktors der Uniklinik Tübingen erreichte, der alles umstieß. "Tübingen hatte das beste Angebot", sagt Zender. Vor allem habe er dort die besten Chancen gesehen, Translation wirklich zu realisieren und Forschungsergebnisse direkt zu den Patienten zu bringen. "Die Kommunikationswege sind kurz und der Austausch zwischen Wissenschaftlern verschiedener Fachgebiete ist hervorragend."

Täglich hat er Kontakt zu Kranken. Als Oberarzt der Medizinischen Klinik 1 leitet Lars Zender den Bereich Gastrointestinale Onkologie, der eine Tagesklinik sowie eine Ambulanz des Südwestdeutschen Tumorzentrums umfasst. "Nicht zu vergessen: die Möglichkeit zu klinischen Studien", sagt er. Und dass es ihm hier garantiert nicht so schnell langweilig werde.

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Quelle:
ATTEMPTO! 38 | 2015, Seite 14-17
ATTEMPTO! ist das Magazin der Eberhard Karls Universität Tübingen
Herausgeber: Professor Dr. Bernd Engler
Redaktion: Antje Karbe, Dr. Karl Guido Rijkhoek (verantwortlich)
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attempto! erscheint zweimal jährlich zu Semesterbeginn


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juli 2015

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