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REPRODUKTIONSMEDIZIN/161: Zur Notwendigkeit eines Fortpflanzungsmedizingesetzes (pro familia)


pro familia magazin 1/2022
pro familia Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung e.V.

Zur Notwendigkeit eines Fortpflanzungsmedizingesetzes

von Jochen Taupitz


Auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizin gibt es erhebliche Rechtsunsicherheiten. Der Autor zeigt auf, wo konkreter Regelungsbedarf besteht und welche Aspekte ein neues Fortpflanzungsmedizingesetzes enthalten sollte.


Die Fortpflanzungsmedizin ist in einer rasanten Entwicklung begriffen. Immer mehr Personen gründen mithilfe von Techniken der Fortpflanzungsmedizin eine Familie. Pro Jahr werden in Deutschland etwa 100.000 In-vitro-Fertilisationen (assistierte Befruchtungen) durchgeführt. Etwa drei Prozent aller in Deutschland geborenen Kinder kommen jährlich nach assistierter Fortpflanzung zur Welt - seit 1997 sind es insgesamt weit über 275.000 Menschen. Weltweit verbreiten sich Verfahren wie Eizellspende, Embryospende/Embryoadoption und Leihmutterschaft. Da diese Verfahren wie andere Möglichkeiten der modernen Fortpflanzungsmedizin gewichtige ethische Fragen aufwerfen und wesentliche individuelle Rechte betreffen, bedarf es einer angemessenen rechtlichen Gestaltung.


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"Die gesellschaftlichen Vorstellungen von Ehe und Familie haben sich erheblich gewandelt, die Rechte von Kindern werden stärker wahrgenommen."
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Das Embryonenschutzgesetz

Zentrale Regelungen der Fortpflanzungsmedizin, und zwar vor allem zahlreiche Verbote, enthält das Embryonenschutzgesetz (ESchG) von 1990, das damit bereits über 30 Jahre alt ist. Die Notwendigkeit einer Überarbeitung des Gesetzes wurde auf politischer Ebene insbesondere nach der Erzeugung des Klonschafes Dolly gesehen. Nachdem der Bundestag im März 1997 die Bundesregierung um Unterrichtung über den gesetzgeberischen Handlungsbedarf beim ESchG aufgrund der beim Klonen von Tieren angewandten Techniken gebeten hatte, stellte die Bundesregierung im Juni 1998 den entsprechenden Bericht einer interministeriellen Arbeitsgruppe vor. Darin legte sie in 12 Punkten eine Reihe von Änderungen nahe, um das ESchG dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt anzupassen. Zu einer entsprechenden (Teil-)Änderung des EschG ist es jedoch bis heute nicht gekommen. Auch zahlreichen weiteren Aufforderungen, die Fortpflanzungsmedizin neu zu regeln, ist der Gesetzgeber bisher nicht gefolgt. Vielmehr wurde durch Gesetz vom 21. November 2011 lediglich §3a eingefügt, um die nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 6. Juli 2010 (vermeintlich) entstandene Lücke hinsichtlich der Präimplantationsdiagnostik zu schließen.

Seit der Verabschiedung des Embryonenschutzgesetzes 1990 hat sich nicht nur die Reproduktionsmedizin rasant weiterentwickelt und neue diagnostische und therapeutische Maßnahmen für die Kinderwunschbehandlung zur Verfügung gestellt. Vielmehr wandelten sich auch die gesellschaftlichen Vorstellungen von Ehe und Familie ganz erheblich. Der gesellschaftliche und rechtliche Familienbegriff umfasst heute sowohl verheiratete als auch unverheiratete, verschieden geschlechtliche und gleichgeschlechtliche Paare mit gemeinsamen oder nicht gemeinsamen Kindern. Überdies werden heute die Rechte und das Wohl von Kindern stärker wahrgenommen. All dies hat dazu geführt, dass die rechtliche Regelung der Fortpflanzungsmedizin lückenhaft ist, Rechtsunsicherheit erzeugt, Wertungswidersprüche enthält sowie teils als ungerecht oder gar dem Kindeswohl abträglich angesehen wird.


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"Die Verfahren der modernen Fortpflanzungsmedizin betreffen wesentliche individuelle Rechte. Es gibt dringenden gesetzgeberischen Handlungsbedarf."
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Konkreter Regelungsbedarf

Als besonders regelungsbedürftig erweisen sich folgende Punkte:

• Die medizinische Praxis der In-vitro-Fertilisation (IVF) in zahlreichen europäischen Staaten folgt dem allgemein anerkannten internationalen Stand des Wissens, wonach von mehreren Embryonen geplantermaßen nur derjenige mit der größten Entwicklungsfähigkeit übertragen wird. Dieser elektive Single-Embryo-Transfer (eSET) vermeidet risikobehaftete und gesundheitsgefährdende Mehrlingsschwangerschaften, ohne dabei die individuelle Chance auf eine Schwangerschaft nennenswert zu verringern. Dieses Vorgehen ist in Deutschland jedoch bei Strafe untersagt. Im Gegensatz zu anderen Ländern werden deswegen in Deutschland Mehrlingsschwangerschaften mit Frühgeburten in Kauf genommen, die erhebliche Gesundheitsrisiken für die Kinder und die Mutter mit sich bringen.


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"Der Single-Embryo-Transfer vermeidet gesundheitsgefährdende Mehrlingsschwangerschaften."
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• Die Spende von Samenzellen ist in Deutschland erlaubt, die Eizellspende dagegen verboten. Während also infertile Männer mithilfe einer Keimzellspende eine Familie gründen können, ist diese Option Frauen, die etwa infolge einer Krebserkrankung keine eigenen Eizellen mehr bilden können, verwehrt. Diese Ungleichbehandlung der Geschlechter lässt sich schwerlich rechtfertigen. Beim Verbot der Eizellspende im Embryonenschutzgesetz hat man sich auf die vermeintlich schädlichen Auswirkungen einer sogenannten gespaltenen Mutterschaft berufen. Man befürchtete seelische Konflikte und Identitätsfindungsprobleme der Kinder, wenn sie erfahren, dass zwei Mütter (die Eizellspenderin und die austragende Mutter) ihre Existenz mitbedingt haben. Mittlerweile ist jedoch durch Forschungen im Ausland belegt, dass keine bedeutsamen Nachteile für die Entwicklung und das Wohlbefinden der Kinder und die Eltern-Kind-Beziehung entstehen. Auch die Risiken für die Eizellspenderin konnten durch verbesserte Stimulationstechniken reduziert werden. Eine unangemessene Kommerzialisierung wäre durch stringente Vorgaben zu unterbinden, wie sie aus der Transplantationsmedizin bekannt sind.

• Aufgrund der restriktiven deutschen Gesetzeslage sehen sich viele Paare veranlasst, eine Eizellspende im Ausland in Anspruch zu nehmen. Dort wird oft die anonyme Eizellspende praktiziert, wodurch dem Kind das verfassungsrechtlich verbriefte Recht auf Kenntnis seiner Abstammung versagt bleibt. Insofern beeinträchtigt das Verbot der Eizellspende im Embryonenschutzgesetz indirekt das Kindeswohl.

• Die Embryospende/Embryoadoption wird in Deutschland mehr und mehr praktiziert, ist im Embryonenschutzgesetz aber nicht normiert. Hier hat schon der Deutsche Ethikrat 2016 eine umfassende gesetzliche Regelung angemahnt.

• Bei der Zeugung eines Kindes unter Verwendung einer Samenspende sind die familienrechtlichen Folgefragen bislang nur für Kinder, die in eine Ehe von Mann und Frau hineingeboren werden, angemessen geregelt. Hingegen ist die rechtliche Zuordnung eines Kindes zum nicht ehelichen Lebensgefährten der Mutter keineswegs gesichert und zur Partnerin beziehungsweise Ehefrau der Mutter nur über den Umweg der Stiefkindadoption möglich. Aus Gründen der Rechtssicherheit und vor allem zum Wohl des Kindes sollte der Gesetzgeber daher in allen Fällen sogenannter gespaltener Elternschaft durch eine Reform des Abstammungsrechts dafür Sorge tragen, dass die rechtliche Zuordnung des Kindes zum Wunschelternteil verbindlich mit der Geburt beziehungsweise zeitnah nach der Geburt erfolgt. Der vom damaligen Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) eingesetzte Arbeitskreis Abstammungsrecht hat schon 2017 Thesen vorgelegt, die als Grundlage für eine Reform herangezogen werden könnten.

• Besonders schwierige ethische und rechtliche Fragen wirft die in Deutschland verbotene Leihmutterschaft auf. In jedem Fall besteht Regelungsbedarf für die im Ausland von einer Leihmutter geborenen, jedoch in Deutschland aufwachsenden Kinder. Die rechtliche Eltern-Kind-Zuordnung ist von elementarer Bedeutung für das Wohl dieser Kinder. Von ihr hängen zahlreiche Rechtsfolgen wie die elterliche Sorge, Unterhaltsansprüche und die Staatsangehörigkeit ab.

• Auch in Deutschland werden an vielen fortpflanzungsmedizinischen Zentren Eizellen eingefroren (kryokonserviert). Zum Teil geschieht dies aus medizinischen Gründen (zum Beispiel vor einer chemotherapeutischen Behandlung), zum Teil aus sozialen Gründen (Social Freezing). Im Interesse der Frau, des Paares und des zukünftigen Kindes sollten die Rahmenbedingungen für die Aufbewahrung, Befruchtung und Übertragung von Eizellen geregelt werden.

• Das Embryonenschutzgesetz verbietet zwar die Befruchtung einer Eizelle mit der Samenzelle eines Mannes nach dessen Tod. Die Reichweite dieses Verbots ist jedoch umstritten. Höchstgrenzen für die Dauer der Aufbewahrung von Samenzellen, Eizellen beziehungsweise Embryonen enthält das Embryonenschutzgesetz nicht. Auch hier besteht gesetzlicher Klärungsbedarf.


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"Empfehlungen verschiedener Kommissionen seit 2002 haben nicht zu Aktivitäten auf Bundesebene geführt."
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Ein Fortpflanzungsmedizingesetz statt des Embryonenschutzgesetzes notwendig

Seitdem der Bund durch Einfügung des Art. 74 Nr. 26 GG im Jahre 1994 die entsprechende Gesetzgebungskompetenz erhalten hat, konzentriert sich die Diskussion um eine weiter gespannte Revision des ESchG auf die - immer wieder geforderte - Schaffung eines umfassenderen Fortpflanzungsmedizingesetzes, in dem das ESchG aufgehen sollte. In einem internen Eckpunktepapier des Bundesgesundheitsministeriums vom November 2000, dem im Mai 2000 ein viel beachtetes wissenschaftliches Symposion vorangegangen war, wurden diese Überlegungen näher ausgeführt. Das Eckpunktepapier wurde später jedoch nicht weiter verfolgt. Auch die Empfehlungen der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 2002, des Nationalen Ethikrates aus dem Jahr 2003 und der Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz aus dem Jahr 2005, in einem umfassenden Fortpflanzungsmedizingesetz die betroffenen Grundrechtspositionen in einen angemessenen (und gegenüber dem ESchG in vielen Punkten als angemessener angesehenen) Ausgleich zu bringen, hat bisher zu keinen weiteren Aktivitäten auf Bundesebene geführt. Stattdessen sind Wissenschaftler*innen aus Augsburg und München aktiv geworden und haben den "Augsburg-Münchner-Entwurf" eines Fortpflanzungsmedizingesetzes vorgelegt. Auch seitens der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina wurden Diskussionspapiere mit Darlegung des Reformbedarfs vorgelegt und ist gemeinsam mit der Union der wissenschaftlichen Akademien eine umfangreiche Stellungnahme veröffentlicht worden. Nicht zuletzt wird immer drängender gefordert, Forschung an frühen Embryonen in vitro, also außerhalb des menschlichen Körpers, die für Fortpflanzungszwecke erzeugt wurden, aber dafür keine Verwendung mehr finden, im Einklang mit internationalen Standards auch in Deutschland zu erlauben.


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Stellungnahme

Fortpflanzungsmedizin in Deutschland für eine zeitgemäße Gesetzgebung

Die von der Leopoldina und der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften vorgelegte Stellungnahme liefert eine umfassende Bestandsaufnahme der fortpflanzungsmedizinischen Praxis und ihrer medizinischen, ethischen und rechtlichen Herausforderungen. Darauf aufbauend formuliert die Stellungnahme die Grundgedanken und zentralen Aspekte einer zukünftigen gesetzlichen Regelung. Sie nennt konkrete Regelungsvorschläge für gängige fortpflanzungsmedizinische Verfahren einschließlich der Eizellspende, der Samenspende, der Embryospende und der Präimplantationsdiagnostik. Für die Leihmutterschaft zeigt sie den akuten Regelungsbedarf und langfristige Handlungsoptionen auf.

Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (2019): Fortpflanzungsmedizin in Deutschland - für eine zeitgemäße Gesetzgebung. Gemeinsame Stellungnahme.
https://www.leopoldina.org/publikationen/detailansicht/publication/fortpflanzungsmedizin-in-deutschland-fuer-eine-zeitgemaesse-gesetgebung-2019/
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Schlussbemerkung

Einleitend wurde darauf hingewiesen, dass auf dem Gebiet der Fortpflanzungsmedizin erhebliche Rechtsunsicherheit besteht; diese wird insbesondere auf dem Rücken von Patient*innen und Fortpflanzungsmediziner*innen ausgetragen. Die zahlreichen Gerichtsurteile, in denen Fortpflanzungsmediziner*innen (zum Teil erst in letzter Instanz) von einem strafrechtlichen Vorwurf freigesprochen wurden, belegen dies nachdrücklich. Hinzu kommen die zahlreichen und vor allem heterogenen Gerichtsurteile zu den Folgen des Reproduktionstourismus, der durch die äußerst restriktive Rechtslage in Deutschland angestoßen wird, die ganz offenkundig den Bedürfnissen vieler Fortpflanzungswilliger nicht mehr Rechnung trägt. Mittlerweile sehen sich sogar Gerichte veranlasst, offen Rechtspolitik zu betreiben - ein Armutszeugnis für den untätig bleibenden Gesetzgeber.

Über den Autor

Prof. Dr. Jochen Taupitz ist Seniorprofessor für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Mannheim sowie Geschäftsführender Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Medizinrecht und Medizinethik. Er war Sprecher der Arbeitsgruppe, die die Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina zur Reproduktionsmedizin erarbeitet hat.


Literatur

Deutscher Ethikrat (2016). Embryospende, Embryoadoption und elterliche Verantwortung.
https://www.ethikrat.org/publikationen/publikationsdetail/?tx_wwt3shop_detail%5Bproduct%5D=7&tx_wwt3shop_detail%5Baction%5D=index&tx_wwt3shop_detail%5Bcontroller%5D=Products&cHash=530ad747084765df6c9bb4d47f009289

Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina und Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hrsg.) (2021): Neubewertung des Schutzes von In-vitro-Embryonen in Deutschland.
https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2021_Stellungnahme_Embryonenschutz_web.pdf

Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina (Hrsg.) (2017): Ethische und rechtliche Beurteilung des genome editing in der Forschung an humanen Zellen.
https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2017_Diskussionspapier_GenomeEditing.pdf


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REPRODUKTIONSMEDIZIN/165: Debatte - Legalisierung der Leihmutterschaft in Deutschland als Chance (pro familia)
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/ip_medizin_fachmed_reproduktionsmedizin.shtml

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Quelle:
pro familia magazin Nr. 1|2022, S. 6-9
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 9. April 2022

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