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NEUROLOGIE/634: Wachkoma - Messen statt diskutieren! (GEHIRN&GEIST)


GEHIRN&GEIST 7-8/2010
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Hirnforschung | Wachkoma
Messen statt diskutieren!

Von Christof Koch


Mit Hilfe von Hirnscans können Forscher feststellen, ob ein Patient im Wachkoma bei Bewusstsein ist oder nicht. Im zweiten Teil der neuen G&G-Rubrik schildert der Neurowissenschaftler Christof Koch, wie diese und andere Techniken eines Tages helfen können, subjektives Erleben objektiv zu bestimmen.


Die Grundlage aller Naturwissenschaft ist sorgfältiges Beobachten und Messen. Das setzt allerdings voraus, dass man das zu erforschende Phänomen überhaupt in Zahlen ausdrücken kann. Im Fall des Bewusstseins stellt dies eine echte Herausforderung dar: Nicht nur, dass es sich um einen zutiefst subjektiven Zustand handelt; bis heute lässt sich noch nicht einmal klar definieren, was Bewusstsein überhaupt ist. Wie sollte man es also messen können? Die Aufgabe erscheint vielen unlösbar. Doch in den letzten Jahren sind einige Forscher diesem Ziel mit kreativen Experimenten nähergerückt. Zwei dieser neuen Methoden möchte ich Ihnen heute vorstellen.

Der erste Ansatz geht auf ein Problem von großer klinischer, ethischer und rechtlicher Bedeutung zurück: Lässt sich mit Sicherheit sagen, ob Patienten im »Wachkoma« noch bewusste Empfindungen haben? Beim apallischen Syndrom - so der medizinische Name für diesen Zustand - haben die Patienten oft die Augen geöffnet und erscheinen wach, sie reagieren jedoch fast nie auf Stimmen oder andere Reize. Hin und wieder wenden sie den Kopf einem lauten Geräusch zu oder verfolgen mit den Augen kurz ein Objekt, aber immer nur sporadisch, nie für längere Zeit. Ursache des Syndroms ist ein schwerer Hirnschaden, der etwa durch einen Verkehrsunfall, einen Herzinfarkt oder eine Überdosis von Medikamenten entstehen kann.

In Deutschland gibt es tausende Wachkomapatienten, die oft schon seit Jahren in Hospizen und Pflegeheimen in einem solchen Zwischenzustand schweben. Da das Gehirn der Patienten meist enorm geschädigt ist und sie keinerlei absichtsvolles Handeln zeigen, gehen Ärzte normalerweise davon aus, dass auch das Bewusstsein erloschen ist. Doch besonders für die Familie ist der Gedanke quälend, dass ihr Angehöriger womöglich noch bewusste Empfindungen verspürt - dass in dem beschädigten Körper ein waches Bewusstsein eingesperrt ist, das Unwohlsein und Schmerzen nicht mitteilen kann.

Bis vor Kurzem gab es keine Möglichkeit, dies objektiv festzustellen. Doch der technische Fortschritt weist einen neuen Weg: 2006 gelang es dem Neurowissenschaftler Adrian Owen und seinem Forschungsteam an der University of Cambridge, mit Hilfe der Magnetresonanztomografie - einem Verfahren zur Darstellung der Hirnaktivität - nachzuweisen, dass eine Komapatientin über Bewusstsein verfügte (siehe G&G 10/2007, S. 64).

Die junge Frau hatte bei einem Autounfall massive Kopfverletzungen erlitten und zeigte alle Symptome eines Wachkomas. Vor allem reagierte sie nicht auf Fragen oder Anweisungen, weder durch Sprechen noch durch Augen- oder Handzeichen. Owen schob die vermeintlich bewusstlose Patientin in den Scanner und gab ihr über Kopfhörer Anweisungen. Diesmal sollte sie jedoch nicht ihre Hand heben oder blinzeln, sondern sich verschiedene Situationen vorstellen: Entweder sollte sie in Gedanken Tennis spielen oder durch die Räume ihres Hauses laufen.

Tatsächlich geschah das Unglaubliche: Als die Forscher die bewusstlose Frau aufforderten, sich ein Tennismatch vorzustellen, registrierten sie einen verstärkten Blutfluss im supplementären motorischen Kortex - der unter anderem für die Planung von Bewegungen zuständig ist. Sollte sie dagegen in Gedanken ihre Wohnung abschreiten, wurden nicht nur andere motorische Areale aktiv, sondern auch der parahippocampale Gyrus. Er ist für die räumliche Orientierung und das Wiedererkennen von Orten wichtig. Die beiden »Antworten« des Gehirns dauerten viel länger als ein bloßer Reflex auf gesprochene Sprache, und sie ähnelten stark der Hirnaktivität, die gesunde Kontrollprobanden bei diesen Aufgaben zeigten. War die junge Frau also bei Bewusstsein und verstand, was man ihr sagte?


Gespräche mit Bewusstlosen

In einer jüngst veröffentlichten Studie gingen Owen und seine Kollegen noch einen Schritt weiter. Mit Hilfe derselben Methode »interviewten« sie einen Wachkomapatienten, indem sie ihm sechs einfache Ja-Nein-Fragen stellten, etwa »Heißt Ihr Vater Thomas?« (falsch) und »Haben Sie Brüder?« (richtig). Um zu bejahen, sollte der 22-Jährige an ein Tennisspiel denken, für eine Verneinung dagegen an seine Wohnung.

Anhand der Hirnaktivität konnten die Forscher somit klare Antworten empfangen - von einem bewusstlos geglaubten Patienten! Auf fünf Fragen antwortete der junge Mann korrekt, auf die sechste hin wurde keine der interessierenden Hirnregionen aktiv. Warum, wissen die Forscher nicht. Vielleicht, mutmaßen sie, war ihr Proband in diesem Moment wieder in einen unbewussten Zustand zurückgefallen oder schlicht eingeschlafen.

»Anhand der Hirnaktivität empfingen die Forscher klare Antworten - von einem bewusstlos geglaubten Patienten! Aus dieser Technik könnte sich eine Art Zwei-Wege-Funk zwischen Komapatienten und dem Rest der Menschheit entwickeln«

Noch ist die Untersuchung in einem Hirnscanner viel zu aufwändig, als dass sie solchen Patienten dauerhaft eine Möglichkeit geben könnte, mit den Ärzten zu kommunizieren. Doch vielleicht wird es irgendwann möglich sein, diese Technik zu einer Art Zwei-Wege-Funk auszubauen, über den sich Komapatienten mit dem Rest der Menschheit verständigen können.

Allerdings geben Owen und seine Kollegen zu bedenken, dass längst nicht jeder Wachkomapatient auf die Ansprache im Scanner reagiert: Die Forscher hatten insgesamt 54 Patienten untersucht, doch nur bei fünf von ihnen empfingen sie klare Signale aus dem Tomografen. Ob auch die anderen noch ein Bewusstsein oder Reste davon verspüren, vermag Owens Team nicht zu sagen. Zumindest scheint es jedoch bei den vermeintlich bewusstlosen Komapatienten verschiedene Grade von geistiger Wachheit zu geben.

Hirnscans können also dabei helfen, auf Bewusstsein zu schließen, selbst wenn kein äußeres Verhalten zu beobachten ist. Aber letztlich können natürlich immer nur die Betroffenen selbst beurteilen, ob sie bewusste Empfindungen haben.


Ihr Einsatz, bitte!

Forscher setzen diese simple Strategie manchmal auch im Labor ein und fragen ihre Versuchspersonen einfach nach einem Experiment, ob sie etwas bewusst wahrgenommen haben oder nicht. Die Methode hat jedoch einen Haken: Der Proband selbst kann manchmal unsicher sein, ob und was er bewusst gesehen hat. Was etwa, wenn ein zorniges Gesicht nur für den Bruchteil einer Sekunde auf einem Computerbildschirm erscheint (siehe G&G 6/2010, S. 38)? Reicht es, nur eine Nase oder ein Auge erkannt zu haben - oder nur zu glauben, etwas wie ein menschliches Antlitz gesehen zu haben?

Um diese Unsicherheit in der Selbstauskunft zu umgehen, bedienten sich die Neuropsychologen Navindra Persaud, Peter McLeod und Alan Cowey von der University of Oxford 2007 eines Glücksspiels. Ihre Idee basiert auf der Erkenntnis, dass man mit größerer Sicherheit Urteile über etwas fällt, wenn man es bewusst wahrgenommen hat. Nehmen wir an, Sie kommen in mein Labor und ich zeige Ihnen eine Reihe von Kunstwörtern aus sechs Buchstaben wie etwa XTNVMT. Ich bitte Sie nun, sich diese genau an zusehen, und erkläre Ihnen anschließend, dass die »Wörter« festen Regeln gehorchen, denn auf einen Buchstaben folge immer ein bestimmter anderer - die genauen Regeln verrate ich Ihnen jedoch nicht.

Dann zeige ich Ihnen neue, ähnliche Buchstabenfolgen, und Sie müssen jeweils beurteilen, ob diese den Regeln folgen oder nicht. Sie werden nun deutlich besser abschneiden als bei bloßem Raten, da Sie die Trainingswörter gesehen haben. Wie sicher Sie sich Ihrer Entscheidungen sind, hängt jedoch davon ab, ob Sie die grammatischen Regeln nur »implizit«, also unbewusst registriert haben oder ob Sie bestimmte Buchstabenfolgen explizit wiedererkannt haben.

Um objektiv zu messen, wie bewusst ihre Probanden bei diesem Spiel die künstliche Grammatik lernten, machten sich Persaud und seine Kollegen den menschlichen Drang zu Nutze, Geld verdienen zu wollen. Ihre Probanden mussten auf jede ihrer Entscheidungen entweder ein oder zwei Pfund setzen. Lagen sie richtig, so durften sie einen Teil des Geldes behalten, wenn nicht, verloren sie es. Ergebnis: Wie erwartet war die Trefferquote der Probanden sehr hoch - sie lag bei 81 Prozent. Doch die Probanden setzten nur in 43 Prozent der Fälle den höheren Betrag!

Offenbar wusste etwas in ihrem Gehirn, ob die Wörter nach den richtigen Regeln gebildet waren, sie selbst waren sich dessen jedoch nicht bewusst; sonst hätten sie dieses Wissen sicher besser in bare Münze umgewandelt. Das Vorgehen der Forscher jedoch war elegant: Anstatt mit den Probanden darüber zu diskutieren, wie bewusst sie sich grammatischer Regeln oder eines Verstoßes dagegen waren, konnten sie das mit Hilfe der Wetteinsätze indirekt messen.

Natürlich sind Interviews im Hirnscanner und Geldwetten noch keine idealen Instrumente, um das subjektive Bewusstsein von Menschen zu quantifizieren. Doch solange die geeigneten Techniken fehlen, müssen sich Naturwissenschaftler eben mit den bestmöglichen Messungen behelfen. Auch Astronomen können die Position eines Schwarzen Lochs nur anhand seiner Gravitationseffekte auf benachbarte Sterne bestimmen - das eigentliche Objekt ihres Interesses bleibt den Sonden und Messfühlern verborgen. Ich bin davon überzeugt, dass wir in Zukunft noch bessere Werkzeuge entwickeln werden, um nicht nur Schwarze Löcher, sondern auch das Bewusstsein direkt messen und beobachten zu können. Und schließlich werden wir etwas, was sich in Zahlen ausdrücken lässt, viel besser verstehen als etwas, worüber wir nur diskutieren können.


Christof Koch ist Professor für kognitive Biologie und Verhaltensbiologie am California Institute of Technology in Pasadena (USA).


Quellen

Monti, M. et al.: Willful Modulation of Brain Activity in Disorders of Consciousness. In: New England Journal of Medicine 362, S. 579-589, 2010.

Owen, A.M. et al.: Detecting Awareness in the Vegetative State. In: Science 313, S. 1402, 2006.

Persaud, N. et al.: Post-Decision Wagering Objectively Measures Awareness. In: Nature Neuroscience 10(2), S. 257-261, 2007.


Weblink

www.schaedel-hirnpatienten.de
Der Bundesverband Schädel-Hirnpatienten in Not e.V. informiert unter anderem über Wachkoma.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

STUMME AUSKUNFT
Ein Wachkomapatient (rechte Spalte) beantwortete einfache Fragen von Forschern - per Gedankenkraft: Um ein »Ja« zu signalisieren, sollte der Mann an ein Tennisspiel denken (oben), für ein »Nein« einen imaginären Gang durch seine Wohnung unternehmen (unten). Ein gesunder Proband zeigte bei beiden Aufgaben ähnliche Hirnaktivität (linke Spalte).

GEISTESANWESEND?
Einer britisch-belgischen Studie zufolge könnten rund zehn Prozent der Wachkomapatienten bei Bewusstsein sein und verstehen, was man zu ihnen sagt.


© 2010 Christof Koch, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
GEHIRN&GEIST 7-8/2010, Seite 34 - 36
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
Redaktion und Verlag:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Dezember 2010