Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → FACHMEDIZIN

RECHTSMEDIZIN/073: "Identifizierung von Leichen ist mitunter echte Detektivarbeit" (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 1/2010

100 Forensiker trafen sich in Lübeck zum Informationsaustausch
"Identifizierung von Leichen ist mitunter echte Detektivarbeit"

Von Uwe Groenewold


Forensische Anthropologen sind oft die letzte Hoffnung für die Ermittlungsarbeit bei Polizei und Staatsanwaltschaft.


"Ein menschlicher Körper beginnt fünf Minuten nach dem Tod zu verwesen. Der Körper, einst die Hülle des Lebens, macht nun die letzte Metamorphose durch. Er beginnt sich selbst zu verdauen. Die Zellen lösen sich von innen nach außen auf. Das Gewebe wird erst flüssig, dann gasförmig." Wohl nie zuvor in der belletristischen Literatur wurden die letzten Stoffwechselvorgänge des menschlichen Organismus ähnlich detailliert beschrieben wie in Simon Becketts 2006 erschienenem Thriller "Die Chemie des Todes"(*). Im Zentrum des überaus spannenden Romans steht David Hunter, der beste forensische Anthropologe Englands. Ob die rund 100 Gerichtsmediziner, die Anfang Dezember im Lübecker Institut für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte zu den "IX. Forensischen Gesprächen Kiel-Lübeck" zusammengekommen sind, das Buch gelesen haben, sei dahingestellt. Zweifelsohne ist ihr Job jedoch ähnlich spannend wie der der Romanfigur. "Die Identifizierung von Leichen", sagte jedenfalls Prof. Hans-Jürgen Kaatsch, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, "ist mitunter echte Detektivarbeit."

Die forensische Anthropologie ist eine der drei gerichtlichen Wissenschaften vom Menschen, neben der Rechtsmedizin und der forensischen Odontologie. Bei der Anthropologie geht es um die vergleichende Biologie des Menschen; unter dem Begriff Forensik werden Arbeitsbereiche zusammengefasst, in denen kriminelle Handlungen identifiziert, analysiert oder rekonstruiert werden. Der Begriff stammt vom lateinischen forum ("Marktplatz") ab, da Gerichtsverfahren und Urteilsverkündungen im antiken Rom öffentlich - auf dem Marktplatz - durchgeführt dungen im antiken Rom öffentlich - auf dem Marktplatz - durchgeführt wurden; forensisch ist also gleichzusetzen mit gerichtlich.

"Wir handeln in einem Spannungsbogen, in dem der Ausgangspunkt das Unbekannte ist", erläuterte Prof. Matthias Graw, Rechtsmediziner aus München. Forensische Anthropologen haben vor allem mit der Identifizierung von Bankräubern, Tempo- oder Rotlichtsündern zu tun; aber auch mit der Altersdiagnose bei jungen Straftätern sowie mit Abstammungsgutachten und Zwillingsdiagnosen. Häufig gilt es, stark verweste oder skelettierte Leichen zu identifizieren; nicht selten sind forensische Anthropologen die letzte Hoffnung von Polizei und Staatsanwaltschaft zur Aufklärung eines Verbrechens. In Schleswig-Holstein, so Rechtsmediziner Kaatsch, gibt es etwa 50 solcher Fälle pro Jahr; dabei handelt es sich - wenig überraschend im Land zwischen den Meeren - vor allem um die Identifikation von Wasserleichen.

Die grundsätzliche Vorgehensweise der Anthropologen bei der Identifizierung eines unbekannten Toten ist in jedem Fall identisch: Anhand von Kennzeichen und Merkmalen an der Leiche, die mit denen vermisster Menschen abgeglichen werden, grenzt sich der Personenkreis der möglichen Opfer stufenweise ein. Bei der Klassifizierung geht es zunächst darum, um welche Spezies es sich handelt. "Häufig kommt die Polizei mit einer Tüte voller Knochen ins Labor, die aus dem Wald stammen und bei denen unklar ist, ob es sich um Mensch oder Tier handelt", schilderte Prof. Graw seine Erfahrungen. Ist es ein menschliches Wesen, versuchen die Experten, Geschlecht (zwei Drittel der zu identifizierenden Leichen sind männlich), Größe, Alter und Populationszugehörigkeit zu bestimmen. Die wahrscheinliche Körpergröße zum Beispiel lässt sich anhand von Länge und Umfang einzelner Knochen ermitteln. Schwieriger ist die Altersfeststellung, da biologisches und chronologisches Alter stark voneinander abweichen können. Graw zeigte Röntgenaufnahmen von fünf Oberarmknochen, die unterschiedlich stark degeneriert waren, aber alle von 28 bzw. 29 Jahre jungen Männern stammten. In solchen Fällen müssen dann weitergehende, oft molekularbiologische Untersuchungsmethoden angewandt werden.

Erschwert wird die Identifikation häufig durch die Zeit, die zwischen Tod und Auffinden der Leiche verstrichen ist. "Wie lange liegt die Leiche hier schon?" lautet nicht nur im Krimi, sondern auch in der rechtsmedizinischen Realität eine der häufigsten Fragen der Polizei. Bei Simon Beckett heißt es dazu: "Kaum ist das Leben aus dem Körper gewichen, wird er zu einem gigantischen Festschmaus für andere Organismen. Zuerst für Bakterien, dann für Insekten. Fliegen. Aus den gelegten Eiern schlüpfen Larven, die sich an der nahrhaften Substanz laben und dann abwandern. Sie verlassen die Leiche in Reih und Glied und folgen einander in einer ordentlichen Linie, die sich immer nach Süden bewegt." Schmeißfliegen, erläuterte Dr. Jens Amendt aus Frankfurt hierzu, seien die ersten, die eine Leiche schon nach wenigen Minuten besiedeln und als Nahrungsquelle und Brutstätte benutzen. "Je höher die Umgebungstemperatur, desto schneller sind sie da." Auch wenn man etwas anderes vermuten würde: 80 Prozent der mit Fliegen und Maden befallenen Leichen findet die Polizei in geschlossenen Wohnungen, nicht im Freien.

Der Zustand (verpuppt oder nicht) beziehungsweise die Entwicklungsstadien (Eier, Larven) der auf und bei der Leiche gefundenen Tiere geben den Rechtsmedizinern wichtige Hinweise über die so genannte Leichenliegezeit. "In den ersten zwei bis vier Wochen ist eine Eingrenzung der Liegezeit auf den Tag genau möglich", so Amendt. Je mehr der Körper zerfällt, desto schwerer wird jedoch die exakte Bestimmung des Zeitpunktes.

Forensische Entomologie wird dieser Zweig der Forensik genannt. Die Entomologie ist die Insektenkunde (griech. éntomos = eingeschnitten, gekerbt, logos = Kunde, Lehre), die forensischen Entomologen bestimmen anhand der Leichenbesiedelung mit Insekten nicht nur die Liegezeit, sondern können mitunter auch Rückschlüsse auf Todesursache und -umstände ziehen. Für die genaue Bestimmung der Todeszeit müssen die individuellen Umstände berücksichtigt werden. Insbesondere die Entwicklung der Maden hängt stark von Temperatur und Feuchtigkeit ab. Bei zu hohen oder zu niedrigen Temperaturen, großer Helligkeit, starkem Wind oder zu großer Trockenheit siedeln sich nur wenige oder auch gar keine Insekten auf einem Leichnam an. Welche Auswirkungen die äußeren Umstände auf den Zustand einer Leiche haben können, schilderte Prof. Marcel Verhoff aus Gießen anhand von zwei Beispielen: Ende August 2003 wurde eine stark mumifizierte, strangulierte Leiche im Wald gefunden. Da es in dem "Jahrhundertsommer" ab April kaum geregnet und praktisch kein Madenfraß stattgefunden hatte, konnte das Opfer schnell als ein bereits seit Mai vermisster Mann identifiziert werden. Im Sommer darauf wurde eine vollständig skelettierte Leiche in der Nähe eines Bahndammes entdeckt; der Torso lag augenscheinlich seit Jahren hier und war von streunenden Tieren vollständig abgenagt worden. Ein auf dem Röntgenbild entdeckter Nagel im Schienbeinkopf brachte jedoch die überraschende Gewissheit, dass es sich bei der Leiche um eine erst seit sechs Wochen vermisste Person handelte. Prof. Verhoff: "Die Witterung und weitere äußere Umstände spielen bei Liege- und Todeszeitbestimmung eine entscheidende Rolle." Bodenkundliche Untersuchungen, etwa die Ermittlung des ph-Wertes der Erde, seien mitunter hilfreich; hierfür müssten auch Geologen hinzugezogen werden, so Verhoff.

Hilfreich sind meist auch Radiologen und Zahnärzte, denn anhand von Röntgenaufnahmen sowie Abbildungen des Zahnschemas lassen sich viele unbekannte Leichen identifizieren. "In Deutschland wurden allein 2005 insgesamt 132 Millionen Röntgenaufnahmen inklusive CT und MRT erstellt, davon 40 bis 50 Millionen Aufnahmen des Kiefers. Im Schnitt sind 1,6 Bilder pro Einwohner und Jahr gemacht worden. Irgendwann wird jeder geröntgt, wenn er über einen längeren Zeitraum hier lebt", sagte Prof. Thomas Riepert aus Mainz. Hat er eine unbekannte Leiche, röntgt er nicht nur Thorax und Schädel, sondern schaut sich auch die Körperoberfläche intensiv an, um anhand von Narben auf zurückliegende Knochenbrüche zu stoßen. Ein Vergleich alter und neuer Bilder könne dann häufig schnellen Aufschluss geben.

Insgesamt kann von den meisten zunächst unbekannten Toten zweifelsfrei die Identität festgestellt werden, bilanzierte Tagungsleiter Prof. Hans-Jürgen Kaatsch im Gespräch mit dem Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatt. Neben den genannten Verfahren stünden immer mehr genetische und biochemische Untersuchungsmethoden zur Verfügung; auch sei eine Identifikation anhand von Gesichtsmodellierungen oder Fotos möglich. Prof. Kaatsch: "Unsere Expertise ist nicht nur bei Kriminalfällen, sondern auch bei Katastrophen wie einem Flugzeugabsturz oder dem Tsunami in Südostasien gefragt. In solchen Fällen benötigen die Angehörigen unbedingt Gewissheit."

(*) Die Chemie des Todes, Simon Beckett, rororo, ISBN 978-3-499-24197-0, 9,90 Euro


*


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 1/2010 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2010/201001/h100104a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten
Abbildung der Originalpublikation:

Prof. Hans-Jürgen Kaatsch


*


Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Januar 2010
63. Jahrgang, Seite 58 - 59
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-119, -127, Fax: -188
E-Mail: aerzteblatt@aeksh.org
www.aeksh.de
www.arztfindex.de
www.aerzteblatt-sh.de

Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. März 2010