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UMWELT/239: "Verlorene Mädchen"... Genetische Effekte um Nuklearanlagen (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 656-657 / 2013 / 28. Jahrgang, 1. Mai 2014

Strahlenfolgen

Genetische Effekte um Nuklearanlagen

"Verlorene Mädchen" durch Radioaktivität - Fachgespräch am 7. April 2014 im Deutschen Bundestag in Berlin

von Thomas Dersee



Das Geschlechtsverhältnis bei der Geburt des Menschen (Lebendgeburten männlich/weiblich oder sex odds bzw. sex ratio) ist innerhalb eines Gesellschaftssystems auf Populationsebene relativ konstant. Es herrscht Konsens, dass Veränderungen des Geschlechtsverhältnisses ein empfindlicher Indikator für physikalische oder chemische Expositionen sein können; vorausgesetzt es sind vergleichbare und genügend große exponierte und nicht exponierte Populationen beobachtbar. Für die offiziellen Geburtenzahlen nach Geschlecht auf Gemeindeebene in Europa ist diese Voraussetzung erfüllt. Bereits vor etwa 100 Jahren wurde eine strahleninduzierbare Veränderung der Erbanlagen (Mutagenität) im Tierversuch von HJ Muller festgestellt und für den Menschen postuliert. Mullers Versuche zeigten hohe Raten dominanter genetischer Veränderungen im Tierversuch, die sich unter anderem in einer Veränderung des Geschlechtsverhältnisses manifestierten. Muller erhielt für seine Entdeckungen den Nobelpreis.

Darauf wies Dr. Hagen Scherb, Biomathematiker am Helmholtz-Zentrum München einleitend in einem Fachgespräch über "Die verlorenen Mädchen - Auswirkungen ionisierender Strahlung auf das Geschlechterverhältnis" hin, das auf Einladung der Bundestagsabgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, atompolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, am 7. April 2014 im Deutschen Bundestag in Berlin stattfand.

Nach den Atombombenabwürfen über Japan beobachtete man auch beim Menschen ein verändertes Geschlechtsverhältnis (Schull und Neel 1958), erklärte Scherb weiter. Neel führte 1966 aus: "Ionisierende Strahlung kann tödliche Mutationen bewirken, die mit dem X-Chromosomen assoziiert sind, und tut das zweifellos auch. Diese Mutationen können unter Umständen zu einer veränderten sex ratio bei den Nachkommen führen, die nach einer Exposition geboren werden.". Heute geht man davon aus, dass auch biologisch-genetische Vorgänge vor (Spermatogenese), während und nach der Befruchtung (epigenetische Abläufe) durch ionisierende Strahlung gestört werden.

Nach Injektion radioaktiven Materials in die Biosphäre, so Scherb, lassen sich Veränderungen des Geschlechtsverhältnisses auf Länder- und Kontinentebene, aber auch um Nuklearanlagen nach deren Inbetriebnahme einfach und konsistent nachweisen. Scherb und KollegInnen konnten insbesondere zeigen, dass um Nuklearanlagen in Deutschland, in der Schweiz und in Frankreich das Geschlechtsverhältnis erhöht ist: Es kommen mehr Jungen oder weniger Mädchen als erwartet zur Welt.

Während die globalen Veränderungen des Geschlechtsverhältnisses nach den Atomtests und nach Tschernobyl im allgemeinen im Bereich von bis zu 1 Prozent liegen, bewegen sich die zeitlich mit der Einlagerung von HAW (Highly Active Waste) zusammenhängenden Veränderungen im 40-km-Radius um Gorleben und um Philippsburg in der Größenordnung von 3 bis 8 Prozent. Andere Ursachen als die HAW-Einlagerungen seien nicht ersichtlich. Aufgrund dieser Befunde sei auch ohne genaue Kenntnis der dort wirksamen physikalischen und biologisch/genetischen Mechanismen von einem Ursache-Wirkungszusammenhang auszugehen: Der Effekt sei stark und spezifisch und die Beobachtungen konsistent mit vielen analogen Beobachtungen in Deutschland, in der Schweiz und in Frankreich. Es bestünden signifikante zeitliche und räumliche Zusammenhänge.

Im 25-km Umkreis der Atommülldeponie in Ellweiler/Rheinland-Pfalz ist das Geschlechtsverhältnis nach mutmaßlichen Freisetzungen im Januar 1995 in den folgenden Jahren langfristig um circa 6 Prozent erhöht. Ähnliche Effekte zeichnen sich in den Uranabaugebieten der WISMUT in Sachsen und Thüringen ab.

Im 80-km Umkreis um das Institut Laue-Langevin (ILL) in Grenoble/Frankreich ist das Geschlechtsverhältnis von 1971 bis 2011 laut Scherb signifikant um circa 1 Prozent erhöht. Um den Forschungsreaktor München II (FRM II) ist ab der routinemäßigen Inbetriebnahme im April 1995 das Geschlechtsverhältnis ebenfalls um circa 1 Prozent erhöht. Vor 2005 ist mit der Untersuchungsmethode von Scherb und KollegInnen um den FRM I kein entsprechender Effekt nachweisbar, was allerdings einen möglicherweise unter der Nachweisgrenze des Verfahrens liegenden Effekt, naturgemäß nicht ausschließt.

In der Nähe von Nuklearanlagen sind die Krebshäufigkeit bei Kindern (KiKK-Studie) und das Geschlechtsverhältnis der Neugeborenen erhöht. Nach einem von UNSCEAR/ICRP/WHO/IAEA aufrechterhaltenen Dogma, sind solche Effekte auszuschließen, weil die Strahlendosen dafür angeblich zu gering seien. Allerdings wird von atomfreundlichen Wissenschaftlern und Institutionen sozusagen nach dem Motto geforscht: "It's easy to find nothing". Die verlorenen Mädchen sind ein Indikator unter vielen anderen für falsche Strahlengrenzwerte bei der Konstruktion und Genehmigung von Nuklearanlagen, ist das Fazit von Scherb. Der Betrieb von Nuklearanlagen, ihr Rückbau, die Zwischen- und "Endlagerung" sind aus seiner Sicht und der seiner KollegInnen unverantwortlich und führen zu beträchtlichen Umwelt- und Gesundheitsschäden. Die Intensivierung der Erforschung der von ihnen aufgezeigten Effekte sei dringend geboten. Zum Schutz der Bevölkerung und zum Schutz der natürlichen Genpools seien sofortige Maßnahmen erforderlich.

Das epigenetische Konzept

Genetische Effekte nach Tschernobyl (Chromosomenschäden - Down-Syndrom (Trisomie 21)) hatte frühzeitig bereits auch der Berliner Genetiker Professor Dr. Karl Sperling, ehemals Direktor des Instituts für Humangenetik und der Genetischen Beratungsstelle der Charité Berlin, nachgewiesen. Er erklärt die Auffälligkeiten auch in der Veränderung des Geschlechterverhältnisses mit dem in den letzten Jahren entwickelten epigenetischen Konzept. Meinte man früher, mit dem genetischen Code der DNA sei im wesentlichen alles geregelt und alle Entwicklungsschritte seien damit festgeschrieben, so muß man nun erkennen, daß die Gene noch einer übergeordneten Regulierung unterliegen. Epigenetische Effekte spielen bei niedrigen Strahlendosen eine wesentliche Rolle und führen dazu, die Annahme eines linearen Dosis-Effekt-Bezugs der Strahlenwirkung infrage zu stellen, erklärt Sperling. Epigenetische Prozesse seien entscheidend für das normale Entwicklungsgeschehen. Zu verstehen sind darunter Vorgänge, "die zur stabilen Modifikation der DNA führen, ohne allerdings deren Sequenz zu verändern".

Die Wirkung besteht in einer Änderung der Biosynthese spezifischer Genprodukte (Genexpression), so Sperling, die an Tochterzellen weitergegeben wird. Die wichtigsten Prozesse hierbei, erklärt Sperling, sind die DNA-Methylierung und die Modifikation DNA-bindender Proteine (Histone), die sich auf die Konformation des Chromatins und damit die Transkription der Gene sowie auf die vielen regulatorisch wirkenden mikro-RNA-Gene auswirken. Die Methylierungsmuster und Histonmodifikationen können durch vielfältige Umweltfaktoren - ionisierende Strahlung eingeschlossen - beeinflußt werden.

So werden normalerweise in der Frühphase der Embryonalentwicklung bestimmte Gene durch Methylierung abgeschaltet. Es kommt auch zu einer unterschiedlichen Prägung (Imprinting) des mütterlichen und des väterlichen Genoms in der befruchteten Eizelle, wobei die betreffenden väterlichen Gene bevorzugt die Entwicklung des extraembryonalen Gewebes steuern und die mütterlichen die des eigentlichen Embryos. Insbesondere auch die Gene des X-Chromosoms unterliegen epigenetischen Vorgängen, die bereits von Natur aus sehr empfindlich sind und deshalb für Störungen besonders anfällig.

Inzwischen, so Sperling, ist gut belegt, daß niedrige Dosen ionisierender Strahlung in vitro und in vivo derartige Prozesse beeinflussen. Sie können die Physiologie und den Stoffwechsel der betroffenen Menschen verändern und das Risiko für Alterskrankheiten erhöhen. Sie können auch zu "genomischer Instabilität" führen und sich so auf das Krebsrisiko auch der Nachkommen auswirken. Im Vergleich zu Mutationen werden epigenetische Veränderungen bereits durch wesentlich geringere Strahlendosen ausgelöst.

Im Zeitraum um die Zeugung herum besteht nicht nur eine besondere Anfälligkeit für die Erzeugung von Chromosomenanomalien, sondern auch für die Verschiebung des Geschlechtsverhältnisses. Beim Jungen stammt das X-Chromosom von der Mutter und nur Mädchen haben auch ein X-Chromosom vom Vater. Das väterliche X-Chromosom unterliegt bereits in der Spermiogenese einer Inaktivierung (Imprinting), erklärt Sperling. Es bleibt im frühen Entwicklungsstadium im extraembryonalen Gewebe zunächst inaktiviert, was in der inneren Zellmasse des späteren Embryos aber wieder rückgängig gemacht wird, wobei es anschließend zu einer zufälligen Inaktivierung des väterlichen oder mütterlichen X-Chromosoms kommt. Wird dieser Vorgang der Inaktivierung des väterlichen X-Chromosoms gestört oder geht es sogar völlig verloren, so wirkt sich dies deshalb nur auf weibliche Embryonen nachteilig aus und entsprechend verschiebt sich das Geschlechterverhältnis zu Lasten der Mädchen.

Kommentar

Dr. Thomas Jung, Leiter des Fachbereichs Strahlenschutz und Gesundheit im Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), meinte demgegenüber, als Behördenvertreter auf Zurückhaltung bei derartigen Hypothesenbildungen dringen zu müssen: Weil man "sonst die wahren Ursachen übersehen" könne. Ihm seien die Hinweise auch noch "nicht stark genug", um dafür Forschungsgelder zu aktivieren. Da stellt sich die Frage, wie man sich in seiner Behörde Wissenschaft ohne Hypothesenbildung vorstellt.

Frau Kotting-Uhl wiederum fände es nicht gut, wenn die Parlamentarier sich mit Grenzwertfragen befassen würden, mit denen bisher in Verordnungen anstatt in Gesetzen festgelegt wird, wieviele Menschenopfer für eine Technik akzeptiert werden sollen. Dafür, meinte die Bundestagsabgeordnete, bräuchte es "die Wissenschaft". Zur Erinnerung: Verordnungen werden lediglich von den Regierungen beschlossen, Gesetze dagegen vom Parlament.


http://www.esp.org/foundations/genetics/classical/holdings/m/hjm-1927a.pdf
(HJ Muller, Science 1927)

http://push-zb.helmholtz-muenchen.de/frontdoor.php?source_opus=5922&la=en
http://www.naturwissenschaftliche-rundschau.de/navigation/dokumente/NR_5_2011_HB_Scherb.pdf
http://www.helmholtz-muenchen.de/fileadmin/ICB/biostatistics_pdfs/scherb/ScherbVoigtMolWSWittmann2013.pdf

http://www.strahlentelex.de/Stx_10_558_S01-04.pdf
http://www.strahlentelex.de/Stx_10_574_S02-05.pdf
http://www.strahlentelex.de/Stx_11_586_S01-03.pdf
http://www.strahlentelex.de/Stx_12_616_S01-04.pdf
http://www.strahlentelex.de/Stx_14_650-651_S03-06.pdf
http://www.strahlentelex.de/Stx_14_652-653_S01-05.pdf

http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/17482426
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/21336635
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22076251
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22327606
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22421798
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22798146
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/23947741

Niedersächsisches Landesgesundheitsamt (NLGA) und Fachgespräch zum Thema "Gorleben":
http://www.nlga.niedersachsen.de/download/60794/Veraenderungen_beim_sekundaeren_Geschlechterverhaeltnis_in_der_Umgebung_des_Transportbehaelterlagers_Gorleben_ab_1995.pdf
http://www.nlga.niedersachsen.de/download/65642/Sekundaeres_Geschlechterverhaeltnis_in_der_Umgebung_des_Transportbehaelterlagers_TBL_Gorleben_-_Fachgespraech_am_12_Maerz_2012.pdf

vergl. auch: Kinderkrebs um Atomkraftwerke. Strahlenrisiken sind wissenschaftlich nachweisbar, von denen sich behördliche Kalkulationen nichts träumen lassen. Evidenz - Kontroverse - Konsequenz: Umweltmedizin-Symposion der Gesellschaft für Strahlenschutz vom 28. September 2008 in Berlin
www.strahlentelex.de/Stx_08_522_S01-07.pdf


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_14_656-657_S05-10.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Mai 2014, Seite 5-6
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Telefon: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juli 2014