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ETHIK/926: Der steuerbare Mensch? (9) Der (gehirnlich) steuerbare Mensch - Ethische Aspekte (Dt. Ethikrat)


Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2009
Der steuerbare Mensch? - Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

Der (gehirnlich) steuerbare Mensch - Ethische Aspekte

Von Dietmar Mieth


Vorüberlegungen

Im Hinblick auf die Möglichkeiten der Steuerung des Menschen lassen sich verschiedene Unterscheidungen treffen, die für eine ethische Betrachtung relevant sind. Man muss zwischen Selbststeuerung und Fremdsteuerung sowie der technischen Ermöglichung jeweils von Selbststeuerung und/oder von Fremdsteuerung unterscheiden. Zur Begleitung solcher Techniken gehören Qualitätskontrolle, Folgenabschätzung und Sicherung durch Regeln. Steuerungsvorgänge können zum Beispiel auch durch verdeckte Werbung stattfinden. Die Frage der Zulässigkeit von Fremdsteuerung oder dem "Einstieg in fremdes Bewusstsein"[1] ist etwa in Bezug auf Freiwilligkeit, Intensität, Dauer und Umkehrbarkeit zu prüfen.

Hinsichtlich einer ethischen Einschätzung der Steuerung des menschlichen Gehirns geht es um Eingriffstiefen und Auswirkungen sowie um die Kriterien der freien Zustimmung bzw. der wissenschaftlich-technischen Ermöglichung von erkennbaren und erwartbaren Missbräuchen. Konkret im Blick sind dabei Steuerungsvorgänge durch Designer-Drogen, Psychodrogen, Gehirn-Doping, Gehirn-Scans, Gehirn-Implantate, Gehirn-Stimulation, Gehirn-Enhancement usw., wobei sich die Gebiete ebenso überschneiden können wie die Anwendungsbereiche: Medizin, Leistungsfähigkeit, Selbstmanipulation usw.

Der Theologe Karl Rahner hat vom "operablen Menschen"[2] gesprochen. Damit meinte er, dass der Mensch seine Natur als "zweite Natur" gestalten kann. Das heißt, er wird sein, was er durch sich selbst sein wird. Dann jedoch muss eine erste Natur eine zweite verantworten. Dabei nimmt sie die Kontingenz ihrer eigenen Möglichkeiten mit.[3]

Als Ethiker geht es mir nicht um die Aneinanderreihung oder den Abgleich individueller Wertfeststellungen, sondern um das allseits Verbindliche. Gewiss gibt es immer wieder partielle Unsicherheiten hinsichtlich dieser Verbindlichkeit, wobei es sich sowohl um sachliche Unsicherheiten als auch um normative Unsicherheiten handeln kann. Dennoch hat die Ethik ihren Halt in allgemein verbindlichen Überlegungen. Diese sind nicht durch Konsens ermittelt, sollten aber konsensfähig sein. Ethik arbeitet auf den Konsens zu; sie geht nicht von ihm als Begründung aus. Manche ethischen Einsichten sind durch einen overlapping consensus befestigt. Wenn sie aber strittig sind, stellt sich die Frage, wie Ethik über Ratschläge zu individuellem Verhalten hinaus in die rechtliche Verbindlichkeit gelangt.

Die drei Grundfragen einer Ethik in Wissenschaft und Technik lauten: Was wollen wir können? Dürfen wir alles, was wir können? Was lässt sich unter gegebenen Umständen erreichen?

Damit verbunden sind weitere Fragen: Sind die angestrebten Ziele vertretbar? Sind sie mit moralisch verträglichen Folgen erreichbar? Sind sie mit moralisch verträglichen Mitteln erreichbar? Werden die Mittel den gleichen Kriterien wie die Ziele unterworfen? Dabei gilt die ethische Forderung: Der Zweck heiligt nicht die Mittel, sondern die Mittel sind den gleichen Kriterien zu unterwerfen wie die Ziele.

Schließlich stellt sich die Frage: Wie wirken tiefe Eingriffshandlungen bei den Menschen, die sie durchführen, erforschen und weiter verfolgen? Ändern sich diese Menschen und wirkt sich diese Änderung missionarisch auf die Gesellschaft aus? Ist der "soziale Charakter"[4] auch auf dem Rücken der Gewöhnung an Techniken formbar?


Erste wissenschafts- und technikethische Einschätzung im Blick auf die Gehirn-Steuerung

Zunächst ist zu fragen, ob die technische Beeinflussung des Gehirns eines einzelnen Menschen als ethisches Problem zu betrachten ist. Welche Ziele verfolgen technische Eingriffe ins menschliche Gehirn? Im Vordergrund steht die Kompensation von Mängeln, etwa die Symptombeeinflussung bei Krankheiten wie Morbus Parkinson oder die Behandlung von Traumata durch Steuerung des Vergessens. In einem anderen Anwendungsbereich zeigt sich, dass überall dort, wo Leistungen erbracht werden, die sich entweder unter starken Konkurrenzbedingungen, unter etablierter Leistungskontrolle für den erfolgreichen Lebensweg oder in großem Abstand zur "Normalität" bewegen, Verbesserungen der Leistungsvoraussetzungen durch Abbau oder Kompensation von Leistungsbelastungen ein Bedürfnis sind, das eine steigende Nachfrage erzeugt.

Wie aber ist die Mängel-Kompensation, die Rehabilitationsbeschleunigung nach seelischen Verletzungen und die Verhinderung des Leistungsabbaus bzw. degenerativer Erscheinungen von dem, was ein "Missbrauch" ist, zu unterscheiden? Je indirekter die Beeinflussung ist, je mehr Selbstbewertung und Selbststeuerung sie erlaubt, umso schwieriger ist der Nachweis eines "Missbrauches" und umso fließender sind die Grenzen zu Mitteln, die nicht nur erlaubt, sondern unter Umständen auch wünschenswert sind.

Thorsten Galerts Einschätzungen[5] scheinen mir nachvollziehbar:

Es ist "nicht möglich", Folgen für die Persönlichkeitsstruktur oder Identität der betroffenen Person abzuschätzen und Bewertungskriterien für eine "normale" Identität zu entwickeln.
Es steht fest, dass die Interventionsmöglichkeiten Einfluss auf die Persönlichkeit nehmen können. Darf eine Persönlichkeit verändert werden, wenn mit der Änderung der Persönlichkeit zum Beispiel bei schwerer Zwangsneurose Heilung oder Besserung erzielt wird?
Diagnose und Bewertung eines Identitätsbruchs "können unterschiedlich ausfallen, je nachdem, ob sie aus der Perspektive des Betroffenen oder aus der Beobachterperspektive vorgenommen werden."

Ethisch gewiss ist, dass man erstens für eine Einschätzung Transparenz braucht. Ziele und Mittel müssen gesellschaftlich transparent sein, das heißt, die Forschung auf dem Gebiet der Beeinflussung des menschlichen Gehirns muss öffentlich und transparent gemacht werden. Dazu dienen Fragen wie: Werden auch Misserfolge dargestellt und veröffentlicht? Diese Transparenz ist auch als wissenschaftlich geboten zu betrachten.

Darüber hinaus ist zweitens zu fragen, ob eine Begleitforschung etabliert ist, wenn eine besonders moralisch exponierte, folgenreiche und missbrauchgefährdete Forschung durchgeführt wird.

Ferner sehe ich drittens das ethische Gebot der Kontingenz-Beachtung. Unter "Kontingenz" - im Sinne eines philosophischen Begriffes - verstehe ich die Einsicht einerseits in die Verwundbarkeit und Verletzlichkeit des Menschen, also das Gefährdungspotenzial, andererseits die Einsicht in die Fehlerfähigkeit des Menschen und in seine begrenzte Fähigkeit, Folgen seines Handelns zurückzuholen bzw. gar ungeschehen zu machen. Die Menschen, die leistungssteigernde Mittel wünschen und dabei ihre individuellen Wertoptionen verfolgen, sind ja ihrerseits verwundbar und fehlerfähig. Sie sind in ihren Entscheidungen und Bewertungen abhängig von Umfeld-Konstellationen.

Schließlich stellt sich - damit verbunden - auch die wissenschaftlich zu erörternde Frage der Nachweisbarkeit der verursachten Wirkungen.


Deontologische Argumente

Die vorbenannten Gesichtspunkte sind im Blick zu behalten, wenn man die einschlägigen ethischen Argumente analysiert. Zunächst blicken wir auf die deontologischen Argumente.

Erstens das Naturwidrigkeitsargument, das häufig vorgebracht wird und das man auch positiv als Naturbelassungsargument bezeichnen kann. Dieses Argument kann meines Erachtens nicht für sich stehen, da es immer voraussetzt, wann wir uns mit guten oder schlechten Gründen entscheiden, Natur zu belassen oder zu verändern. Im Ausbildungsbereich hat dieses Argument seine besondere Stärke darin, dass es Begabung plus Leistung verlangt. Für die Leistungssteigerung sind bestimmte Methoden möglich, aber nicht alle werden akzeptiert. Der Unterschied in der Akzeptanz liegt im bleibenden Überhang von Begabung und eigener Leistung sowie nicht eigenleistungsbezogener Mittel der Leistungssteigerung, die allen zur Verfügung stehen. Was das in der Praxis bedeutet, lässt sich jeweils nur vor dem Hintergrund sagen, welche Mittel im Einzelnen nicht unter diese Beschreibung fallen. Daher benötigt die Ethik für eine konkrete Einschätzung eine fachwissenschaftliche Expertise.

Zweitens das alleinige Selbstbestimmungskriterium. In der weltweiten ethischen Debatte zu diesem Thema finden sich Philosophen, die der Meinung sind, Gehirn-Steuerung sei bei der üblichen Einhaltung der Norm des informed consent und des Vorranges der Notlage erlaubt bzw. es sei ein allgemeines Verbot dieser (und anderer) Methoden individueller Leistungssteigerung nicht zu begründen, sondern in die individuelle Selbstverantwortung zu verweisen. Mancher sieht, wie Gilbert Hottois[6], zwar Grenzen, setzt aber die Beweislast sehr hoch an: Bestehen tatsächlich Risiken für andere? Als "autonome" Selbstmanipulation sei Gehirn-Steuerung kein Problem.

Gewiss ist das Selbstbestimmungskriterium sehr stark, zumal wenn es die Bewältigung von Notlagen und Einschränkungen unterstützt. Es wird jedoch schwächer, wenn es um weniger hohe Ziele geht, etwa um Konkurrenzvorteile in der Leistung oder um Design. Ferner wird es schwächer, wenn es darum geht, was wir können wollen. Diese Frage setzt voraus, dass uns unser Können nicht wie ein Naturereignis oder eine geschichtlich-gesellschaftliche Determination überfällt. "Der Zug des Fortschritts ist ohne moralischen Rückwärtsgang."[7] Aber: Die Ermöglichung von nicht notwendigen Nutzungen ambivalenter Forschungen und Anwendungen fällt unter die ethische Verantwortung. Alan Gewirth unterscheidet zwischen notwenigen Gütern, Leistungsgütern und Luxusgütern.[8] Mit einer solchen Güterlehre kann man Prioritäten setzen, mit denen man - als Alternative zum Rückwärtsgang - Weichen für den Fortschritt stellen kann. Sie gehen in Argumente des Maßes und der Abwägung über.

Dazu gehört das Argument von der Aufhebung der eigenen Steuerungsfähigkeit bzw. der Fremdsteuerung und Abhängigkeit. Dieses Argument wird auch von denen geteilt, die auf der Grundlage ihres Menschenbildes nicht das Kriterium der individuellen Selbstbestimmung gegenüber allem als vorrangig ansehen.

Drittens die Wahrung der Identität. Wenn es um elektrische, magnetische, chirurgische oder andere Eingriffe ins Gehirn geht, wird oft die Frage nach der Wahrung der persönlichen Identität gestellt. Identität ist jedoch keine in jeder Hinsicht kompakte und feststehende Angelegenheit. Der Philosoph Heinrich Rombach hat in seiner Strukturanthropologie[9] zwischen Identität und Idemität unterschieden. Bei Identität wollen wir dasselbe wiederfinden, wir wollen identifizieren. Bei Idemität geht es hingegen um einen Prozess, der Kontinuität, Veränderung und Konsistenz enthält. Vielleicht kann diese Unterscheidung helfen, auch Veränderungspotenzial in das Kriterium der Persönlichkeitswahrung aufzunehmen.


Argumente des Maßes und der Abwägung

Neben den eben genannten deontologischen Prinzipien und Argumenten sind Überlegungen anzusprechen, die die Abwägung der Folgen betreffen.

Erstens das Risikoargument. Das Risikoargument ist erweiterbar zum Ungewissheitsargument. Wir wissen nicht in jeder Hinsicht, auf was wir zusteuern könnten. Erforderlich ist also nicht nur Risikoforschung, sondern eine Erwartungshaltung, die das Unerwartete einbezieht: to expect the unexpected. Das, was wir nicht unmittelbar als Risiko erwarten, könnte doch als solches denkbar sein. Dieses Argument bezieht sich auf die Folgen für die Gesundheit. Bei der technischen Beeinflussung des Gehirns ist maßgeblich, ob sie sich auf Maßnahmen bezieht, die nur zeitlich begrenzt den Phänotyp betreffen, oder auch indirekt die ganze Biografie?

Zweitens ist zu fragen, ob es eine Erhöhung von Risiken auch für andere gibt. Dieses Risiko-für-andere-Argument ist auch ein Konkurrenz- und Verteilungsargument. Indirekt oder direkt auf das Gehirn wirkende leistungssteigernde Methoden sind nicht allen zugänglich, weil sie teuer sind. Damit wird die Konkurrenzverzerrung zugleich einer Machtasymmetrie ausgeliefert.

Drittens das Argument der Ethos-Widrigkeit im medizinischen Bereich. Medizin repräsentiert ein Ethos, das eigentlich Steuerung ausschließt, sofern sie nicht zur Selbststeuerung führt oder diese verstärkt. Dieses Ethos kann auch als deontologisches Ethos betrachtet werden (s.o.); häufig wird aber heute abwägend argumentiert, wie zum Beispiel in der Diskussion um fremdnützige Versuche an Nichtzustimmungsfähigen.

Das Risikoargument ist einschlägig, das Ungewissheitsargument wird verstärkt, weil wir nicht wissen, in welchem Umfang Wirkungen zu steuern sind. Damit werden die Argumente jedoch nicht zu klaren Grenzlinien. Sie können aber als eine Art Bündnis zusammenwirken und unter Umständen eine Konvergenzargumentation für eine allgemein verbindliche Norm ermöglichen.

Das Verhältnis von deontologischen Prinzipien und im Hinblick auf die Folgen abwägenden Argumenten ist meines Erachtens so zu sehen: Deontologische Argumente müssen Folgen dahingehend beachten, dass sie sich mit ihrer Durchsetzung nicht selbst aufheben; etwa in der Absicht, Normen aufrechtzuerhalten, die Menschen, die sie schützen wollen, in Gefahr bringen oder in Notlagen zurücklassen. (Fiat iustitia - pereat mundus[10]). Auf der anderen Seite kommen Folgenbewertungen nicht ohne Bewertungsmaßstäbe aus (siehe zum Beispiel die Bewertungsmaßstäbe des Utilitarismus).


Ethische Betrachtung im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen

Könnte sich die Gesellschaft aus der Entwicklung problematischer Techniken zur Beeinflussung des menschlichen Gehirns wirklich (mehr oder minder) heraushalten, wenn sie als modernes Phänomen mit der ganzen Wissenschaftlichkeit, auch im Bereich der allgemeinen Medikalisierung als zweite Natur des Menschen, verbunden ist? Damit stellt man sich eine allgemeine politisch-gesellschaftliche Frage: In welche Richtung wollen wir als Gesellschaft in der Anwendung neurowissenschaftlicher Kenntnisse gehen? (s.o.: Was wollen wir können?) In welche Richtung entwickeln sich die Erwartungen an die Neurowissenschaft? Eine Betrachtung der gesellschaftlichen Entwicklung ist notwendig, wenn man die Realisierungschancen eines Kampfes zum Beispiel gegen Gehirn-Doping ermitteln will. Das läuft auf die Frage hinaus, ob sowohl auf der aktiven Seite der Leistung als auch auf der passiven Seite der Leistungserwartung der Erfolg nicht doch wichtiger ist als das Einhalten von moralischen Bedingungen.

Betritt man schließlich mit Techniken zur Steuerung des Gehirns ein neues und anderes Feld, als es bereits durch die Medikalisierung beschrieben ist? Damit stellt man die Frage nach einem Exzeptionalismus bezüglich der auf das Gehirn bezogenen Techniken. Das ist ein Exzeptionalismus, der bestimmte Methoden der medizinischen Forschung von vornherein diskriminiert, indem man ihnen besondere Beachtung schenkt. Diese besondere Beachtung, so könnte man sagen, sei eigentlich weder begründet noch notwendig. Man könne im Grunde die Gehirn-Technik nicht von "konventionellen" Techniken in dem Sinne unterscheiden, als sei sie nicht im Rahmen der good clinical practice bereits integriert. Weil man allgemeine Grundsätze auf sie anwenden könne, dürfe man die Gehirn-Technik nicht exzeptionalistisch betrachten.

Auf der anderen Seite entstehen im Bereich der Gehirn-Technik doch besondere Designs und besondere Settings, die Wirkungen aufweisen, die im klassischen Verständnis von konventionellen Methoden nicht unbedingt auftreten müssen und die vor allem nicht in jeder Hinsicht auf bekannte Paradigmen zurückgreifen können. Auch die Rechnung mit der Ungewissheit ist hier exponierter, das heißt, Gehirn-Technik ist nicht nur eine Fortsetzung der unausweichlich medikalisierten "zweiten Natur" mit anderen Mitteln. Die Frage ist darüber hinaus, ob Gehirn-Technik, auch wenn sie auf überschaubare Gebiete eingegrenzt werden kann, nicht durch ihren neuartigen Erkenntnisgewinn als Türöffner für unvorhersehbare Manipulation und deren unvorhersehbare Folgen dient. Als Gegenargument kann angeführt werden, man könne mit diesem Argument jeden demotivieren, der sich in irgendeiner Weise mit Gehirn-Technik beschäftigt. So massiv ist das Argument freilich nicht gemeint. Aber es ist wichtig, im Auge zu behalten, was auf dem Weg von gesteuerten chinesischen Brieftauben zum Menschen auf anderen Gebieten Stück für Stück machbar wird. Wo werden Übergänge trainiert, wo entstehen indirekt neue Erwartungen, die durch die unterschiedlichen Nachfragen der Gesellschaft ihre Chancen haben?

Bei den Techniken, die ins menschliche Gehirn eingreifen, wird zwar eine begrenzbare Wirkung intendiert, aber unter Umständen eine multifaktorielle Wirkung erzielt, das heißt, dass dadurch sowohl auf medizinisch-individuellem als auch auf sozialem Gebiet viele Faktoren beeinflusst werden. Es geht auch darum, dass durch die Gewöhnung an sich bereits soziale Wirkungen entstehen, etwa bestimmte Formen von Images, die dabei prämiert werden. Die Frage ist, ob und inwieweit zureichende Kontrolle möglich ist und ein Design entsteht, das eine solche Kontrolle vollständig zu implizieren scheint. Aber es könnte durchaus sein, dass die Mehrfachwirkung als solche damit nur an einer voraussehbaren Stelle ausgeschaltet wird.

Neben direkten gibt es auch indirekte Wirkungen, wie sich im Verlauf der Tagung an einigen Stellen gezeigt hat. Eine indirekte Wirkung wäre eine Veränderung, die durch entsprechende, auf diese einwirkende Umweltfaktoren forciert wird. Die Beziehung zum Umfeld ist nicht unwandelbar festgeschrieben, so dass sie unabhängig von allen Veränderungen immer die gleiche bleiben kann.


Konditionierte Urteile - absolute Grenzen?

Viele meiner Überlegungen enthalten Wenn-dann-Urteile: Wenn das zu diesem Setting oder zu jenen Wirkungen führt, dann kann man dagegen ethische Argumente vorbringen oder auch dafür. Das heißt, dass es notwendig ist, die entsprechende Sachkompetenz einzubeziehen, um genauere Kenntnis darüber zu erhalten, was im Gebrauch und was in der Entwicklung ist. Auf dieser Grundlage lässt sich eine ethische Einschätzung formulieren.

Dennoch gibt es meines Erachtens auch eine absolute Grenze. Diese absolute Grenze bezeichne ich mit dem Begriff der Menschenwürde. Sie greift dann, wenn es um die totale Instrumentalisierung von Menschen geht, die gleichsam als solche nicht mehr um ihre Zustimmung befragt werden, und wenn es um die Minderung der Absolutheit ihres Wertes geht. Als Beispiel kann hier die Manipulation Nichtzustimmungsfähiger mithilfe von Psychopharmaka angeführt werden, um zu zeigen, dass auch das Argument der Menschenwürde als oberstes Prinzip direkt anwendbar ist. Aber es ist auch ein indirekter Träger von allen Argumenten, die ich unter "Deontologische Argumente" aufgezeigt habe. Die Menschenwürde führt aus sich heraus zu einem Setting von Rechten und Pflichten.

Eine Gesellschaft hat durch den Bezug auf das absolute Grundgebot der Menschenwürde ihre Aufgabe darin zu sehen, eine an Rechte und Pflichten gebundene Gemeinschaft zu bilden. So kann man es zwar nicht verbieten, dass sich Menschen selbst schädigen, aber man kann es verbieten oder zumindest einschränkend regeln, dass Produkte und Maßnahmen entwickelt werden, mit deren Hilfe sich Menschen zutiefst schädigen können. Oder man kann im Rahmen der good clinical practice bzw. auch im Rahmen eines "Forschungsgesetzes" festhalten, dass fremdnützige Versuche und Anwendungen nicht möglich sind. Forschung ist kein Naturereignis und unterliegt der gesellschaftlichen Verantwortung, weil sich in ihr gesellschaftliche Wünsche, Ziele und Bedürfnisse ausdrücken.


Dietmar Mieth, geb. 1940, Prof. (em.) Dr. theol., Theologe, ehemaliger Professor für Moraltheologie an der Universität Fribourg (Schweiz), bis 2008 Professor für Theologische Ethik unter besonderer Berücksichtigung der Gesellschaftswissenschaften an der Universität Tübingen (derzeit weiterhin Vertretung dieses Lehrstuhls in der Lehre), seit 2009 Fellow am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt; u.a. seit 2002 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW) in Berlin, seit 2004 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates des Berliner Institutes für Christliche Ethik und Politikberatung (ICEP), seit 2008 Präsident der Meister-Eckhart-Gesellschaft.


Anmerkungen

[1] Gierer 2005, S. 4.
[2] Rahner 1966, S. 55.
[3] Vgl. dazu Mieth 2004.
[4] Fromm 1976.
[5] Vgl. Galert 2004.
[6] Hottois 2001.
[7] So, didaktisch sehr pointiert, Hans-Martin Sass. Vgl. ders. 1987.
[8] Vgl. Gewirth 1996.
[9] Rombach 1987.
[10] Es geschehe Recht, auch wenn die Welt darüber zugrunde geht.


Literatur

Fromm, Erich (1976): Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Stuttgart.

Galert, Thorsten (2004): Inwiefern können Eingriffe in das Gehirn die personale Identität bedrohen? Vortrag auf der ersten Konferenz des "Netzwerks TA": "Technik in einer fragilen Welt. Die Rolle der Technikfolgenabschätzung", 24.-26. November 2004, Berlin.
Online im Internet: http://www.itas.fzk.de/v/nta1/abstr/gale04a.htm [6.11.2009].

Gewirth, Alan (1996): The Community of Rights. Chicago.

Gierer, Alfred (2005): Willensfreiheit aus neurowissenschaftlicher und theologiegeschichtlicher Perspektive - Ein erkenntniskritischer Vergleich. Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Preprint 285. Online im Internet:
http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/Preprints/P285.PDF [6.11.2009].

Hottois, Gilbert; Missa, Jean-Noël (2001): Nouvelle Encyclopédie de Bioéthique: Médecine, Environnement, Biotechnologie. Brüssel.

Mieth, Dietmar (2004): "Der operable Mensch". Karl Rahners Beitrag zur Selbstmanipulation des Menschen (1966) im Disput. In: Stimmen der Zeit, 12, S. 807-817.

Rahner, Karl (1966): Experiment Mensch. In: Rombach, Heinrich (Hrsg.): Die Frage nach dem Menschen. Freiburg; München, S. 45-69.

Rombach, Heinrich (1987): Strukturanthropologie. "Der menschliche Mensch". Freiburg; München.

Sass, Hans-Martin (1987): Methoden ethischer Güterabwägung in der Biotechnologie. In: Braun, Volkmar; Mieth, Dietmar; Steigleder, Klaus (Hrsg.): Ethische und rechtliche Fragen der Gentechnologie und der Reproduktionsmedizin. Dokumentation eines Symposiums der Landesregierung Baden-Württemberg und des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft in Verbindung mit der Universität Tübingen vom 1.-4. September 1986 in Tübingen. München, S. 89-110.


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INHALT

Vorwort von Christiane Woopen
Barbara Wild - Hirnforschung gestern und heute
John-Dylan Haynes - Bilder des Gehirns als Bilder des Denkens und Fühlens
Tade Matthias Spranger - Das gläserne Gehirn? Rechtliche Probleme bildgebender Verfahren
Isabella Heuser - Psychopharmaka zur Leistungsverbesserung
Thomas E. Schläpfer - Schnittstelle Mensch/Maschine: Tiefe Hirnstimulation
Henning Rosenau - Steuerung des zentralen Steuerungsorgans - Rechtsfragen bei Eingriffen in das Gehirn
Ludger Honnefelder - Die ethische Dimension moderner Hirnforschung
Dietmar Mieth - Der (gehirnlich) steuerbare Mensch - Ethische Aspekte
Wolfgang van den Daele - Thesen zur ethischen Debatte um das Neuro-Enhancement


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Quelle:
Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2009
Der steuerbare Mensch? - Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn
© 2009 - Seite 97 - 105
Herausgeber: Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates
Vorsitzender: Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Sitz: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
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Redaktion: Dr. Joachim Vetter (V.i.S.d.P.)
Telefon: 030/203 70-242, Telefax: 030/203 70-252
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Internet: www.ethikrat.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Mai 2011