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ETHIK/1250: Suizidprävention statt Suizidunterstützung (Deutscher Ethikrat)


Ad-hoc-Empfehlung des Deutschen Ethikrats

Suizidprävention statt Suizidunterstützung.
Erinnerung an eine Forderung des Deutschen Ethikrates anlässlich einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts


Berlin, 1. Juni 2017

Der Umgang mit der Beihilfe zum Suizid gehört zu den meistdiskutierten ethischen Problemen der jüngsten Vergangenheit und ist auch vom Deutschen Ethikrat bereits thematisiert worden. In seiner Ad-hoc-Empfehlung vom 18. Dezember 2014 ("Zur Regelung der Suizidbeihilfe in einer offenen Gesellschaft")[1] hat er sich für eine gesetzliche Stärkung der Suizidprävention ausgesprochen und gleichzeitig unterstrichen, dass im freiheitlichen Verfassungsstaat keine Rechtspflicht zum Leben besteht und deshalb auch Suizid nicht abstrakt-generell als Unrecht zu qualifizieren ist. Eine spezielle, etwa professionsbezogene gesetzliche Regulierung der Suizidbeihilfe lehnte die Mehrheit des Deutschen Ethikrates mit der Begründung ab, auf diese Weise würden gleichsam "erlaubte Normalfälle" einer Suizidbeihilfe definiert. Betont wurde darüber hinaus, dass eine Suizidbeihilfe, die nicht individuelle Hilfe in tragischen Ausnahmesituationen, sondern wählbares Regelangebot von Ärzten oder speziellen Vereinen ist, Gefahr läuft, den gesellschaftlichen Respekt vor dem Leben zu schwächen, fremdbestimmte Einflussnahmen in Situationen prekärer Selbstbestimmung zu begünstigen sowie Anstrengungen der Suizidprävention zu konterkarieren. Der Deutsche Ethikrat sprach sich dementsprechend mehrheitlich für ein "Verbot der Suizidbeihilfe sowie ausdrücklicher Angebote dafür, wenn sie auf Wiederholung angelegt sind und öffentlich erfolgen", aus. Unter anderem mit Verweis auf diese Stellungnahme hat der Deutsche Bundestag Ende 2015 das Strafgesetzbuch um eine Regelung zur Strafbarkeit der "geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung" ergänzt (§ 217 StGB n.F.).

In seinem Urteil vom 2. März 2017 (Az.: BVerwG 3 C 19.15)[2] hat nun das Bundesverwaltungsgericht die Auffassung vertreten, das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG umfasse "auch das Recht eines schwer und unheilbar kranken Menschen, zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt sein Leben enden soll, vorausgesetzt, er kann seinen Willen frei bilden und entsprechend handeln" (Rn. 24). Für den Fall einer "extremen Notlage" folge hieraus ein Anspruch auf Erteilung einer Erlaubnis zum Erwerb von Natrium-Pentobarbital zum Zweck der Selbsttötung (Rn. 32).

Diese Entscheidung ist nach Auffassung der Mehrheit des Deutschen Ethikrates nicht zu vereinbaren mit den Grundwertungen des parlamentarischen Gesetzgebers, auf denen die Neuregelung des § 217 StGB beruht:

  • In ethischer Hinsicht problematisch ist zunächst, dass das Bundesverwaltungsgericht das einleuchtende Gebot, die staatliche Gemeinschaft dürfe "den hilflosen Menschen nicht einfach sich selbst überlassen" (Rn. 27) verknüpft mit dem staatlich garantierten Zugang zu Betäubungsmitteln. Indem die Entscheidung das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zum Verpflichtungsadressaten der Selbsttötungsassistenz macht, macht sie diese von einer staatlichen "Erlaubnis" abhängig und erweckt so den Anschein, Suizidwünsche müssten staatlicherseits bewertet bzw. könnten staatlicherseits legitimiert werden. Das aber würde bedeuten, die höchstpersönliche Natur solcher Wünsche infrage zu stellen. Ferner könnte es diejenigen sozialen Normen und Überzeugungen schwächen, in denen sich der besondere Respekt vor jedem menschlichen Leben ausdrückt.
  • Zudem bestehen grundsätzliche Bedenken dagegen, unter Berufung auf besondere Ausnahmesituationen die durch das hierfür zuständige und demokratisch legitimierte Parlament festgelegten allgemeinverbindlichen Verhaltensregeln infrage zu stellen. Der Gesetzgeber hat sich in Übereinstimmung mit der Mehrheit des Deutschen Ethikrates bewusst dagegen entschieden, die Legitimität der Suizidassistenz an die Erfüllung materieller Kriterien - wie schweres und unerträgliches Leiden - zurückzubinden. Diese zentrale, ethisch fundierte Grundentscheidung wird durch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts unterlaufen. Es zwingt eine staatliche Instanz, die § 217 StGB wie dem gesamten System des (straf-)rechtlichen Lebensschutzes zugrunde liegende ethische Leitidee der staatlichen Neutralität gegenüber Lebenswertvorstellungen aufzugeben. Zugleich wird ihr zugemutet, ohne konkretisierende Vorgaben - die das Bundesverwaltungsgericht für entbehrlich hält (Rn. 40) - eigene Erwägungen anzustellen über das Kriterium eines "unerträglichen Leidensdruck[s]" (Rn. 31) und die Frage einer anderen zumutbaren Möglichkeit zur Verwirklichung des Sterbewunschs.
  • Die Entscheidung steht damit schließlich auch in einem Spannungsverhältnis zu der Forderung einer Stärkung suizidpräventiver Maßnahmen und Strukturen. Die Entscheidung, das eigene Leben beenden zu wollen, verweist auf eine individuelle Ausnahmesituation, in der lebens­ orientierte Antworten nicht (mehr) gesehen werden. Auch im Kontext schwerster und unheilbarer Erkrankung ist es dabei durchaus möglich, dass sich Suizidgedanken aktuell aufdrängen und oft nicht auf reflektierten oder bilanzierenden Erwägungen beruhen. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass manche Leidenszustände auch durch eine optimale palliativmedizinische Versorgung und Unterstützung nicht behoben werden und so Suizidwünsche begründen können. Doch in vielen Fällen steht der Wunsch, eine subjektiv unerträgliche und durch anderweitige Maßnahmen nicht mehr zu lindernde, irreversible Leidenssituation durch Suizid zu beenden, in engem Zusammenhang mit der im individuellen Fall verfügbaren Versorgung und Unterstützung. Denn diese ist in vielen Bereichen, besonders im Hinblick auf Schmerztherapie, rehabilitative Pflege und Psychotherapie, immer noch defizitär.

Eine Minderheit des Deutschen Ethikrates hält das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts dagegen für ethisch wohl erwogen und begrüßenswert. Ihr zufolge steht es im Einklang mit der dem Notstandsprinzip zugrunde liegenden Moralpflicht, vor allem in existenziellen Grenzfällen ein generell begründbares Verbot nicht zum Gebot der Unmenschlichkeit werden zu lassen. In diesem Sinne eröffnet die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts die Möglichkeit, in "extremen" Notsituationen der zwangsrechtlichen Ausnahmslosigkeit der Strafregelung des § 217 StGB zu begegnen. Eine "staatliche Verpflichtung" zur Unterstützung von Suiziden liegt darin nicht. Der Staat wird lediglich verpflichtet, in Fällen extremer Not seine grundsätzliche Blockade dieses Medikaments ausnahmsweise aufzuheben und damit anderen eine Hilfe nicht (mehr) zu verwehren, zu der sie sich nach den Maximen ihres Gewissens aus verständlichen Gründen verpflichtet fühlen. Auch in Fällen, in denen nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts das Medikament gegebenenfalls direkt an den Sterbewilligen herauszugeben wäre, wird der Staat nicht zum Gehilfen eines Suizids. Es wird ihm lediglich nicht (mehr) gestattet, die Verfügbarkeit eines Medikaments aktiv zu blockieren, das schließlich nicht er bereitstellt, sondern dem Zugriff Dritter lediglich entzieht. In Notstandsfällen das Handeln eines anderen nicht mehr aktiv verhindern zu dürfen, heißt aber keineswegs, nun als dessen Unterstützer verpflichtet zu sein. Die dem Urteil zugrunde liegende Notstandserwägung, die auch einer moralischen Pflicht entspricht, sollte daher nach Auffassung der Minderheit im Sinne einer klarstellenden und präzisierenden Regelung in das Betäubungsmittelgesetz aufgenommen werden.

Ungeachtet dieses Dissenses bekräftigt der Deutsche Ethikrat in seiner Gesamtheit die Forderung nach einer Stärkung suizidpräventiver Maßnahmen sowie nach einem Ausbau nicht nur der Hospiz- und Palliativversorgung im ambulanten und stationären Bereich, sondern allgemein der Versorgung von Menschen in der letzten Lebensphase. Zugleich unterstreicht er seine Position, dass eine freiheitliche Verfassungsordnung freiverantwortliche Suizidhandlungen zu respektieren hat. Ein Anspruch auf entsprechende staatliche Unterstützung besteht hingegen nicht. Der Deutsche Ethikrat hält es deshalb für erforderlich, die Spannung zwischen den in § 217 StGB zum Ausdruck gebrachten Regelungsintentionen und der jetzt vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommenen Interpretation des Betäubungsmittelgesetzes durch eine klarstellende Regelung abzubauen. Die Mehrheit des Ethikrates empfiehlt, entgegen der vom Bundesverwaltungsgericht vorgeschlagenen problematischen Neuausrichtung des normativen Ordnungsrahmens an dem zuletzt noch einmal legislativ bekräftigten ethischen Grundgefüge festzuhalten und nicht der gebotenen Achtung individueller Entscheidungen über das eigene Lebensende eine staatliche Unterstützungsverpflichtung zur Seite zu stellen.


Der Mehrheitsposition haben sich die folgenden Ratsmitglieder zugeordnet:

Steffen Augsberg, Franz-Josef Bormann, Alena M. Buyx, Peter Dabrock, Christiane Fischer, Sigrid Graumann, Martin Hein, Wolfram Henn, Wolfram Höfling, Ilhan Ilkilic, Andreas Kruse, Adelheid Kuhlmey, Volker Lipp, Andreas Lob-Hüdepohl, Elisabeth Steinhagen-Thiessen, Claudia Wiesemann

Der Minderheitsposition haben sich die folgenden Ratsmitglieder zugeordnet:
Constanze Angerer, Dagmar Coester-Waltjen, Carl Friedrich Gethmann, Ursula Klingmüller, Stephan Kruip, Leo Latasch, Reinhard Merkel, Gabriele Meyer, Petra Thorn


Anmerkungen

[1] Abzurufen im Internet unter:
http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/empfehlung-suizidbeihilfe.pdf [01.06.2017].

[2] Abzurufen im Internet unter:

http://www.bverwg.de/entscheidungen/pdf/020317U3C19.15.0.pdf
[01.06.2017].

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Quelle:
Ad-hoc Empfehlung, 1. Juni 2017, Beilage Infobrief 21 02/17
Informationen und Nachrichten aus dem Deutschen Ethikrat
Herausgeber: Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates
Sitz: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
Jägerstr. 22/23, 10117 Berlin
Redaktion: Dr. Joachim Vetter (V.i.S.d.P.)
Telefon: 030/203 70-242, Telefax: 030/203 70-252
E-Mail: kontakt@ethikrat.org
Internet: www.ethikrat.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. September 2017

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