ÄKN - Ärztekammer Niedersachsen - 29. April 2020
Gemeinsame Initiative zu den gesellschaftspolitischen und sozialethischen Folgewirkungen der COVID-19-Pandemie
Impulse von Frau Dr. med. Martina Wenker, Präsidentin der Ärztekammer
Niedersachsen
- Es gilt das gesprochene Wort -
In diesen außergewöhnlichen Zeiten der weltweiten Coronapandemie ist es für die meisten Menschen in Deutschland eine völlig neue Sorge, ob sie sich noch darauf verlassen können, dass im Fall einer schweren Erkrankung alles medizinisch Erforderliche für sie getan werden kann.
Dabei gilt es zunächst festzuhalten, dass die ethischen Grundsätze des ärztlichen Berufs, wie sie im Genfer Gelöbnis und in den Berufsordnungen der Landesärztekammern niedergelegt sind, auch in der Situation einer Pandemie ihre Gültigkeit behalten und das ärztliche Handeln prägen: "Ich werde die Autonomie und die Würde meines Patienten respektieren. Ich werde den höchsten Respekt vor menschlichem Leben wahren. Ich werde nicht zulassen, dass Erwägungen von Alter, Krankheit oder Behinderung, ...oder jeglicher anderer Faktoren zwischen meine Pflichten und meinen Patienten treten."
Die Autonomie des Patienten zu respektieren bedeutet, dass wir Ärzte uns entschieden gegen die alleinige Kategorisierung oder gar Pauschalierung von Patienten nach "Risikogruppen", gegen jedwede Stigmatisierung von Patienten nach Vorerkrankungen oder bestimmten Diagnosen wehren müssen. Jeder Patient hat das Recht auf eine individuelle ärztliche Behandlung unter Beachtung seines Selbstbestimmungsrechts. Allein das Wort "Risikogruppe" ist bereits eine unzulässige Stigmatisierung von Menschen. Aus ärztlicher Perspektive gilt es, jeden Patienten anhand seiner ganz persönlichen Risikofaktoren zu behandeln.
Zitat HAZ 27.04.20 "Kein Besuch. Kein Garten. Keine Sonne. Seit 5 Wochen hat die 86-jährige Helga Witt-Kronshage ihr Zimmer kaum verlassen. Isoliert wie sie leben derzeit Hunderttausende Senioren in Pflegeheimen. Sie sollen vor dem Coronavirus geschützt werden - aber niemand hat gefragt, ob sie das auch wollen. "Das ist kein Schutz, das ist eine Qual".
Bereitstellung von ausreichend persönlichen Schutzmaterialien in allen Senioren- und Pflegeheimen sowie niederschwellige und regelmäßig zu wiederholende Screeninguntersuchungen auf SARS-CoV-2 bei allen Bewohnern und Mitarbeitern. Unter dieser Prämisse können auch die Bewohner in den Alten- und Pflegeheimen weitgehend selbstbestimmt "ihr" Leben weiterführen.
Menschen mit chronischen Vorerkrankungen oder Behinderungen haben, auch in Coronazeiten, wie alle Menschen das Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Sie gehören in diesen Zeiten zu den besonders schutzwürdigen Menschen. Der Forderung, alle Menschen über 60 Jahre mit Vorerkrankungen unter häusliche Quarantäne zu stellen, ist eine klare Absage zu erteilen.
a. Bereitstellung von ausreichend persönlichen Schutzmaterialien für alle Menschen mit Vorerkrankungen oder Behinderungen. Gerade jetzt besonders intensive ärztliche und pflegerische Unterstützung sowie konsequente Fortführung der erforderlichen ambulanten und stationären medizinischen Versorgung und Behandlung, um Verschlechterungen des Gesundheitszustands zu verhindern.
b. Bei akuten Problemen und wichtigen Vorsorge- und Impfterminen niemals den Weg zum Arzt scheuen. Patienten mit ernsthaften Gesundheitsbeschwerden oder wichtigen Vorsorge- und Impfterminen sollten nicht zögern, eine Arztpraxis aufzusuchen. "Wer zu lange wartet, riskiert irreversible Schäden", warnt Marion Charlotte Renneberg, Vizepräsidentin der Ärztekammer Niedersachsen (ÄKN). "Wer Blutverdünner nimmt, an Bluthochdruck oder Diabetes leidet, muss zum Beispiel weiterhin betreut werden."
c. Kinder ohne große Gesundheitsrisiken sollten nicht vom Schulbesuch ausgeschlossen werden. Nicht für alle Kinder mit Grunderkrankungen besteht ein erhöhtes Risiko, dass eine COVID-19-Infektion bei ihnen einen schweren Verlauf nimmt. Deshalb fordert Dr. med. Thomas Buck, Facharzt für Kinderheilkunde in Hannover und Mitglied des Landesvorstands der Ärztekammer Niedersachsen, chronisch erkrankte Kinder nicht per se auszuschließen, wenn der Schulbetrieb jetzt wieder nach und nach aufgenommen wird.
Menschen in der letzten Lebensphase, z. B. aufgrund einer fortschreitenden Krebserkrankung, müssen derzeit in vielfacher Hinsicht besonders viel Leid ertragen.
Beispiel: Ein 85-jähriger alter Herr mit einem metastasierten Tumorleiden verstirbt alleine ohne Beisein der Angehörigen im Krankenhaus. Die 82-jährige Ehefrau, welche mit ihm gemeinsam im Altenheim lebt und mit welcher er seit 53 Jahren verheiratet ist, darf ihn beim Sterben nicht begleiten und nicht in Würde von ihm Abschied nehmen.
Konsequente Beachtung und Umsetzung der Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin zur psychosozialen und spirituellen Unterstützung in Zeiten von Covid-19 "Belastete, schwerstkranke, sterbende und trauernde Menschen brauchen jemanden an ihrer Seite." Interprofessionelle Beratung in klinischen Ethikkomitees und ambulanter Ethikberatung gerade auch jetzt dringend erforderlich.
Ein Expertenbeirat sollte ein Niedersachsen schnellstens gebildet werden, der ethische Abwägungen vornimmt und konkrete Handlungsvorschläge für die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens in Niedersachsen während und nach der COVID-19-Krise erarbeitet. Dazu gehören auch vorsichtig-begründete Maßnahmen zur schrittweisen Wiederherstellung der gesellschaftlichen Normalität.
*
Quelle:
ÄKN - Ärztekammer Niedersachsen
Pressemitteilung vom 29. April 2020
Karl-Wiechert-Allee 18-22, 30625 Hannover
Telefon: 0511 / 380-02, Fax: 0511 / 380-2240
E-Mail: info@aekn.de
Internet: www.aekn.de
veröffentlicht im Schattenblick zum 30. April 2020
Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang