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FORSCHUNG/3583: Fortschritt im Wissen über Widerstandsfähigkeit gegen Stress (idw)


Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz - 11.10.2016

Fortschritt im Wissen über Widerstandsfähigkeit gegen Stress

Endokrine Zellen im Gehirn beeinflussen Verhaltensoptimierung


Jüngste Erkenntnisse einer Arbeitsgruppe von Professor Dr. Soojin Ryu, leitende Wissenschaftlerin am Deutschen Resilienz-Zentrum (DRZ) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), zeigen: Corticotrope Zellpopulationen, die im Gehirn Stresshormone erzeugen, sind in der Lage, unmittelbar nach dem Beginn einer stressbedingten Belastung Vermeidungsverhalten schnell abzuwandeln. Diese Erkenntnis kann dazu beitragen, effektive Therapien zu entwickeln, um mit akuten, stressbedingten Belastungssituationen besser umgehen zu können. Die Erkenntnisse sind in "Nature Communications" veröffentlicht.

Wenn ein Mensch gestresst ist, passt er sein Verhalten in der Regel schnell an die Situation an. Bei diesem schnellen Anpassungsvorgang spielen Neurotransmitter, also biochemische Botenstoffe des Gehirns, eine zentrale Rolle. Hormone haben ebenfalls eine stressregulierende Funktion, reagieren aber langsamer. Aber ist das wirklich so? Jüngste Erkenntnisse einer Arbeitsgruppe von Professorin Dr. Soojin Ryu, leitende Wissenschaftlerin am Deutschen Resilienz-Zentrum (DRZ) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), stellen dies in Frage. Denn mittels einer Kombination aus genetischen und optischen Methoden konnte das Forscherteam Folgendes zeigen: Corticotrope, also die Nebennierenrinde stimulierende Zellpopulationen, die im Gehirnareal der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse Stresshormone erzeugen, sind in der Lage, unmittelbar nach dem Beginn einer stressbedingten Belastung Vermeidungsverhalten schnell abzuwandeln. Diese Erkenntnis kann dazu beitragen, effektive Therapien zu entwickeln, um mit akuten, stressbedingten Belastungssituationen besser umgehen zu können bzw. akute Stresssituationen umzuwandeln. Die Erkenntnisse sind in der aktuellen Ausgabe der renommierten Fachzeitschrift "Nature Communications" veröffentlicht.

Den menschlichen Körper steuern zwei Systeme: das Hormon- und das Nervensystem. Sie arbeiten eng aufeinander abgestimmt. Eine Schlüsselrolle nimmt hierbei der Hypothalamus als Teil des Zwischenhirns ein. Der Hypothalamus ist ein Verbindungsstück zwischen dem Körper und den übrigen Regionen des Gehirns, der mittelbar und unmittelbar eine Reihe essenzieller vegetativer Körperfunktionen steuert. Zudem ist er das wichtigste Steuerungsorgan im endokrinen System des Menschen (Hormonsystem), denn er reguliert, wann welche Menge eines Hormons gebildet wird. Dabei unterliegt er bzw. seine Hormonproduktion unter anderem dem Einfluss von emotionalem Stress. Am Hypothalamus hängt die Hypophyse (Hirnanhangsdrüse). Zusammen bilden sie eine funktionelle Einheit. Diese wird als Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-System (HHN) bezeichnet.

Zu den im Hypothalamus gebildeten Hormonen gehören die sogenannten Releasing Hormone. Ein Beispiel für ein solches Hormon ist das Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH). Es stimuliert in der Hirnanhangsdrüse die Produktion des adrenocorticotropen Hormons (ACTH). ACTH ist ein Hormon des Hypophysenvorderlappens und reguliert wiederum die Produktion anderer Hormone, beispielsweise die des Stresshormons Cortisol (Hydrocortison).

Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass die Neurotransmitter des zentralen Nervensystems Angriffs- oder Fluchtverhalten schnell regulieren. Die Hormone des Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden(HHN)-Systems entfalten ihre stressregulierende Funktion wesentlich langsamer - so der bisherige wissenschaftliche Kenntnisstand. Die konkrete Rolle des HNN bei der raschen Anpassung des Verhaltens an eine Stresssituation genauer zu ergründen, war mit den in der Stressforschung bislang üblichen Tiermodellen jedoch kaum möglich. Denn der Hypothalamus und die Hypophyse sind in Säugetieren nur schwer zugänglich. Um diese Hürde zu überwinden, entwickelte eine Arbeitsgruppe des Deutschen Resilienz-Zentrums (DRZ) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) unter der Leitung von Professor Dr. Soojin Ryu eine neue optogenetische Untersuchungsmethode: Es gelang ihr, eine genetisch veränderte Zebrafischlarve zu entwickeln. Bei dieser lässt sich mittels des Einsatzes von Licht die Aktivität des Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Systems manipulieren und gleichzeitig die so erzielten Auswirkungen auf das Verhalten der modifizierten Zellen beobachten.

Das von der Arbeitsgruppe um Prof. Ryu neu entwickelte Analyseverfahren kombiniert zwei Lösungsansätze: Zum einen verwendet es Methoden der Optogenetik, einer Kombination von Methoden der Optik und der Genetik. Diese Technologie ermöglicht es, das exakt definierte funktionelle Verhaltensereignisse von genetisch modifizierten Zellen unter Lichteinfluss gezielt und extrem schnell zu kontrollieren. Hierbei verändern die Forscher zunächst mittels gentechnischer Verfahren lichtempfindliche Proteine. Anschließend bringen sie diese in bestimmte Zielzellen bzw. -gewebe ein. Dadurch lassen sich die Funktionen von Proteinen mittels Lichteinfluss regulieren und das Verhalten der modifizierten Zellen kontrollieren. Zum anderen leistete Prof. Ryu Pioneerarbeit in der Nutzung eines neuen Tiermodells für die Stressforschung, dem Zebrafisch. Der Vorteil in der Forschung mit Zebrafischen, speziell den durchsichtigen Larven dieses kleinen, tropischen Knochenfischs, liegt darin, dass dessen Embryonalentwicklung derjenigen des Menschen ähnelt. Zudem entwickeln sie sich sehr schnell. Er ist somit hervorragend für genetische Untersuchungsmethoden geeignet. Zudem lässt die Durchsichtigkeit der Larven Licht in allen Gewebeteilen des Fischkörpers sichtbar werden.

Für ihre Studie führten die Wissenschaftler des DRZ Mainz dem Tiermodell ein synthetisches Enzym hinzu, das nur in den corticotrophen Zellen des HNN-Systems das Niveau des intrazellulären Botenstoffs cyclisches Adenosinmonophosphat (cAMP) erhöht. Dessen Erhöhung ist wichtig für die Freisetzung von Hormonen in den corticotrophen Zellen der vorderen Hypophyse. Das daraus resultierende, sogenannte transgenetische tierische Stresshormonniveau kann durch Licht gesteigert werden. Dies wiederum erlaubt es den Forschern, gleichzeitig die Veränderung des Verhaltens zu untersuchen.

Die nun in "Nature Communications" vorgestellten Forschungsergebnisse der Mainzer Wissenschaftlerin Professor Ryu und ihrer Arbeitsgruppe des DRZ Mainz zeigen, dass die corticotrophen Zellen in der Hypophyse direkt aktiv werden, nachdem eine als belastend empfundene Stresssituation begonnen hat: Sie beeinflussen sowohl die Fortbewegung als auch vermeidendes Verhalten sowie die Reizempfindlichkeit. Die Forscher deuten dies als Beleg dafür, dass die corticotrophen Zellen in der Hypophyse eine bedeutende Rolle bei der schnellen Verhaltensanpassung an lokale, gegnerische Umwelten haben.


Weitere Informationen zur Studie:
De Marco, R. J. et al. Optogenetically enhanced pituitary corticotroph cell activity post-stress onset causes rapid organizing effects on behaviour. Nat. Commun. 7:12620 doi: 10.1038/ncomms12620 (2016).

• Zur Person Professorin Dr. Soojin Ryu:
Geboren in Südkorea und aufgewachsen in New York City (USA), studierte Prof. Dr. Soojin Ryu Biologie an der Harvard University, USA. 1999 machte sie an der University of California in Berkeley (USA) ihren Ph.D. in Molekularer Biologie und Zellbiologie im Labor von Prof. Dr. Robert Tjian. Nach Deutschland kam die Wissenschaftlerin im Jahr 2000. Dort arbeitete sie im Labor von Prof. Dr. Wolfgang Driever in der Entwicklungsbiologie am Institut für Biologie I (Zoologie) der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. 2008 wechselte sie an das Max-Planck-Institut für medizinische Forschung in Heidelberg, wo sie bis 2015 als Forschungsgruppenleiterin tätig war. Seit 2015 hat Prof. Dr. Soojin Ryu eine Professur am Forschungszentrum Translationale Neurowissenschaften (FTN) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz inne.
Im Laufe ihrer bisherigen beruflichen Karriere war Prof. Dr. Soojin Ryu unter anderem Stipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung, Human Frontier Science Program und Preisträgerin verschiedener Auszeichnungen, wie beispielsweise der Behrens-Weise-Stiftung. Zudem war sie an mehreren von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekten beteiligt.

Kontakt
Martina Diehl
Deutsches Resilienz-Zentrum (DRZ)
Johannes Gutenberg-Universität (JGU) und
Universitätsmedizin Mainz
E-Mail: martina.diehl@unimedizin-mainz.de

- Über das Deutsche Resilienz Zentrum (DRZ)
Das DRZ ist eine wissenschaftliche Einrichtung der Johannes Gutenberg-Universität (JGU) und der Universitätsmedizin Mainz, die sich die Erforschung der Resilienz, also der "seelischen Widerstandskraft", zum Ziel gesetzt hat. In der fachübergreifenden Einrichtung arbeiten Neurowissenschaftler, Mediziner, Psychologen und Sozialwissenschaftler zusammen. Die Wissenschaftler widmen sich insbesondere folgenden Fragen: Welche Vorgänge im Gehirn befähigen uns dazu, weniger angreifbar für Stress und belastende Lebensereignisse zu sein? Was macht uns resilient, also seelisch widerstandsfähig? In diesem Zusammenhang untersuchen sie beispielsweise auch, ob einzelne Gene, neuronale Netzwerke oder bestimmte Neurotransmittersysteme Resilienz unterstützen.
Die zentralen Anliegen des DRZ sind es, Resilienzmechanismen neurowissenschaftlich und human-psychologisch zu verstehen, darauf aufbauend mit Präventionsstrategien vorzubeugen und darauf hinzuwirken, Lebensumfelder so zu verändern, dass Resilienz gestärkt wird. Mit diesem Ansatz soll der Paradigmenwechsel von einer krankheitsorientierten Forschung zu einer gesundheitsorientierten Forschung, also der Erforschung von Faktoren und Mechanismen, die zum Erhalt der psychischen Gesundheit beitragen, vorangetrieben werden.

Weitere Informationen im Internet unter
www.drz.uni-medizin.de

- Über die Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Die Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz ist die einzige medizinische Einrichtung der Supramaximalversorgung in Rheinland-Pfalz und ein international anerkannter Wissenschaftsstandort. Sie umfasst mehr als 60 Kliniken, Institute und Abteilungen, die fächerübergreifend zusammenarbeiten. Hochspezialisierte Patientenversorgung, Forschung und Lehre bilden in der Universitätsmedizin Mainz eine untrennbare Einheit. Rund 3.300 Studierende der Medizin und Zahnmedizin werden in Mainz ausgebildet. Mit rund 7.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist die Universitätsmedizin zudem einer der größten Arbeitgeber der Region und ein wichtiger Wachstums- und Innovationsmotor. Weitere Informationen im Internet unter
www.unimedizin-mainz.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution1431

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Barbara Reinke M.A., 11.10.2016
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Oktober 2016

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