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GESUNDHEIT/1383: Kraftquelle Atem - ein wirksames Mittel zur Entspannung (Securvital)


Securvital 3/22 - Juli-September 2022
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen

Kraftquelle Atem

Wer bewusst atmet, versorgt seinen Körper mit mehr Energie und verfügt über ein wirksames Mittel zur Entspannung.

von Astrid Froese


Sommer! Endlich wieder draußen sein und durchatmen! Das tut gerade jetzt besonders gut. Erst die erschöpfenden Jahre der Pandemie. Dann die explodierenden Verbraucherpreise. Und nun auch noch der Krieg in der Ukraine. Viele Menschen nehmen ihr Leben seit einiger Zeit als immer anstrengender wahr - und sich selbst als immer gehetzter. Kein Zufall also, dass das Interesse am Atem als Mittel zur Entspannung zunimmt. Atem-Kurse, Atem-Apps und Atem-Bücher liegen im Trend. Dabei ist die Kunst des richtigen Atmens weit mehr als nur ein Hype. Ohne Atmung kann der Mensch nur wenige Minuten überleben. Wie der Kreislauf gehört die Atmung zu den zentralen Vitalfunktionen des Körpers, welche die Lebensvorgänge aufrechterhalten. Beim Luftholen gelangt der für alle Körperzellen notwendige Sauerstoff über Mund oder Nase bis in die Lunge. Dort findet ein Gasaustausch statt. Über die Lungenbläschen wird der Sauerstoff ins Blut abgegeben und gleichzeitig das als Abfallprodukt des Stoffwechsels anfallende Kohlendioxid aufgenommen und über die Ausatmung aus dem Körper geleitet.

Automatische Versorgung

Rund 20.000 Mal holt der Mensch pro Tag Luft - in der Regel unbewusst. Pro Atemzug wird dabei rund ein halber Liter Luft eingesogen, sodass mehr als 10.000 Liter Luft pro Tag durch die Lunge strömen. Diese besteht aus zwei Lungenflügeln. Beide sind von einem sich immer weiter verfeinernden Röhrensystem durchzogen, den Bronchien. Durch sie wird die Atemluft zu den Lungenbläschen transportiert und von dort ins Blut abgegeben.

Atmet der Mensch ein, ziehen sich die Muskeln im Rumpf zusammen, der Brustkorb weitet sich und Luft strömt ein. Entspannen sich die Muskeln, entsteht in der Lunge ein Überdruck und das Ausatmen geschieht automatisch. Gesteuert wird die Atmung über die Bahnen des zentralen Nervensystems von einem Atemzentrum im Gehirn. Spezialisierte Zellen messen im gesamten Körper, wie viel Sauerstoff bzw. Kohlendioxid im Blut vorhanden ist, und übermitteln diese Informationen an das Atemzentrum, welches die Atmung je nach Bedarf beschleunigt oder verlangsamt. Bei körperlicher Anstrengung benötigen die Muskeln mehr Sauerstoff, daher atmen wir schneller. Im Ruhezustand verlangsamt sich die Atmung.


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Richtig atmen beim Sport

Bei körperlicher Belastung steigt der Energieverbrauch und damit der Sauerstoffbedarf des Körpers. Dadurch erhöht sich auch die Atemfrequenz. Wer joggt, sollte durch die Nase tief und gleichmäßig in den Bauch ein- und bewusst wieder ausatmen, um das gesamte Lungenvolumen zu nutzen und dabei schmerzhaftem Seitenstechen vorzubeugen. Ein natürlicher Atemrhythmus wird sich beim Laufen von allein einstellen. Beim Krafttraining sollte auf keinen Fall die Luft angehalten werden, da sonst ein enormer Druck auf Gefäßen, Herz und Lunge lastet. Auch kurze, flache Atemzüge rauben unnötig Energie. Am besten wird während der Belastung aus- und während der Entlastung tief eingeatmet. Kontinuierliches Training stärkt die Atemmuskulatur und die Leistungsfähigkeit.
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Möglichst in den Bauch

Wer sich nach einer körperlich oder mental anstrengenden Phase anfängt zu entspannen, stößt dabei manchmal einen tiefen Seufzer aus. Menschen seufzen nicht nur, wenn sie unglücklich oder besorgt sind, sondern auch bei Zufriedenheit und Entspannung. Warum das so ist, darüber rätseln Wissenschaftler noch. Fest steht, dass Seufzen überlebenswichtig ist. Durch den tiefen Atemzug werden abgelegene Lungenbereiche belüftet, die bei der normalen Atmung nicht mit Sauerstoff versorgt werden. Die Forscher vermuten, dass das Seufzen darüber hinaus auch ein Bestandteil zwischenmenschlicher Kommunikation ist - ein unbewusstes Signal an die Umwelt zum Gemütszustand.

Grundsätzlich gilt: Wer durch die Nase atmet, atmet ruhiger und länger und versorgt seinen Körper mit mehr Sauerstoff. Unterschieden wird zwischen der Brust- und der Bauchatmung. Brustatmung bezeichnet eine flache Atmung, bei der nur der Brustkorb und die Schultern beteiligt sind. Dadurch wird lediglich der obere Teil der Lunge mit Sauerstoff versorgt, entsprechend geringer ist die Leistungsfähigkeit des Körpers. Müdigkeit, Kopfschmerzen und Konzentrationsschwierigkeiten können die Folge sein.

Demgegenüber steht die als Vollatmung bezeichnete tiefe Bauch- bzw. Zwerchfellatmung. Durch sie wird das gesamte Lungenvolumen ausgeschöpft und der meiste Sauerstoff aufgenommen. Beim Einatmen schiebt sich das Zwerchfell in den Bauchraum, der sich in der Folge nach außen wölbt. Wer tief Luft holt, kann das eingeatmete Luftvolumen von 0,5 auf über 2,5 Liter steigern.

Im Unterschied zu anderen Vitalfunktionen weist die Atmung eine Besonderheit auf: »Es ist die einzige vegetative Funktion, die willentlich beeinflussbar ist«, erklärt Professor Thomas Loew, Chefarzt der psychosomatischen Abteilung der Universität Regensburg. Der Atem funktioniert zwar automatisch, kann aber - anders als der Herzschlag oder die Körpertemperatur - unmittelbar gesteuert werden. Wenn es stinkt, können wir die Luft anhalten. Wenn wir durch die Natur spazieren, können wir den Duft der Bäume oder einer frisch gemähten Wiese tief inhalieren.

Uraltes Wissen

Wie heilsam bewusstes Atmen wirken kann, wissen die Traditionelle Chinesische und indische Medizin seit Jahrtausenden. 4000 Jahre alte Grabinschriften belegen, dass auch die Ägypter den Atem heilend nutzten. Und auch der berühmte Arzt der griechischen Antike, Hippokrates, schrieb vom pneuma, das ähnlich dem indischen prana oder dem chinesischen qi Atem, Seele, Geist oder Leben bedeutet. Sie alle eint die Vorstellung von der Bedeutung des Atems als menschlicher Lebenskraft.


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Yoga- und Meditationspraktiken nutzen jahrtausendealte Atemtechniken zur Konzentration und Entspannung

Eine weitere Atemübung ist die sogenannte Ujjayi-Atmung aus der Yoga-Praxis. Dabei geht es darum, den Atem kontrolliert zu führen und hörbar zu machen. Dies geschieht, indem die Stimmritze bei geschlossenem Mund wie beim Flüstern verengt wird. Dadurch entsteht ein leises gleichmäßiges Strömungsgeräusch, Körper und Geist beruhigen sich.
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Diese Vorstellung wirkt bis heute fort. Buddhisten und Yogapraktizierende nutzen den Atem zur Konzentration und Entspannung. Hebammen bringen werdenden Müttern spezielle Atemtechniken bei, um die Schmerzen während der Wehen zu lindern und das Baby besser mit Sauerstoff zu versorgen. Wie viele messbare Effekte auf Körper und Psyche bewusstes Atmen hat, dokumentieren neuere Studien. Demnach können Atemtherapien Schmerzen, Depressionen und Herzprobleme lindern. Sie helfen beim Umgang mit Stress und negativen Emotionen und werden zur Bekämpfung von Lampenfieber bei Musikern oder zur Verhinderung von Erschöpfungszuständen bei Burnout-gefährdeten Lehrkräften eingesetzt. Und das, ohne unerwünschte Nebenwirkungen zu haben wie manches Medikament.

Psychosomatiker Professor Thomas Loew sagt: »Eine entschleunigte Atmung ist das Basistherapeutikum in der Psychosomatik.« Sie ist das Erste, was Patienten in der Klinik lernen. Schließt man die Patienten an ein Biofeedback-Gerät an, sehen sie, wie ihr Blutdruck beim tiefen Ein- und Ausatmen sinkt, das Herz langsamer schlägt und sich die Muskeln entspannen. Bluthochdruck kann so erfolgreich behandelt und die Herzleistung verbessert werden. Auch die Lungenfunktion und Lebensqualität von Asthmapatienten lassen sich durch Atemübungen spürbar beeinflussen, wie Studien belegen.

Wie eng der Atem mit der Psyche zusammenhängt, zeigen traditionelle Redewendungen. Uns stockt der Atem, wenn uns etwas erschreckt. Unsere Kehle ist wie zugeschnürt, wenn wir nichts sagen können. Oder uns bleibt die Luft weg, wenn wir fassungslos sind.

Prof. Dr. Wolfram Windisch von der Universität Witten/Herdecke erläutert, dass die enge Verschaltung des Atems mit dem zentralen Nervensystem dafür verantwortlich ist, dass sich die Psyche so unmittelbar auf den Atem auswirkt. Sind Menschen aufgeregt, verändert sich ihre Atmung genauso, wie wenn sie wütend sind, Angst haben, sich freuen oder wohlfühlen. Lampenfieber vor einem Vortrag beispielsweise führt dazu, dass der Körper sich verkrampft, das Zwerchfell blockiert wird und die Atemluft weniger Raum hat. Atmung und Sprechen werden dann auf den Brustraum reduziert, es kommt zum »Kloß im Hals« und in der Folge zu einer gepressten oder zittrigen Stimme.

Unsere Stimmungen und wie wir uns körperlich fühlen beeinflussen die Atmung und umgekehrt. Dabei ermöglicht die bewusste Konzentration auf den Atem, die eigene Verfassung bewusst wahrzunehmen und diese Wahrnehmung zu nutzen. So kann das eigene Wohlbefinden mit der richtigen Atemtechnik gesteigert und gleichzeitig verhindert werden, dass belastende emotionale Zustände wie Angst, Trauer oder Wut sich chronisch im Körper festsetzen und auf Dauer krank machen.

Atmen und entspannen

Klimakrise, Wirtschaftskrise, Pandemie und Krieg: Wissenschaftler nennen Zeiten, in denen sich belastende Ereignisse häufen, Stapelkrise. Und auch wenn niemand genau vorhersagen kann, was passieren wird: Zukunftsforscher prognostizieren, dass Unsicherheiten und Umbrüche infolge von ökologischen, pandemischen oder geopolitischen Krisen künftig häufiger auftreten. Umso wichtiger ist es für den Einzelnen, Zäsuren in seinem Alltag zu schaffen und positiv auf das eigene Wohlbefinden einwirken zu können. Innehalten. Augen schließen. Einatmen. Ausatmen. Wer sich bewusst auf seine Atmung konzentriert, kann das Gedankenkarussell im Kopf stoppen und zur Ruhe kommen.


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Atemübungen für den Alltag

Bewusste Atempausen sind ein wirksames Instrument, um im Alltag kurz abzuschalten und zur Ruhe zu kommen. Am besten werden sie mit geschlossenen Augen ausgeführt. Eine einfache Übung ist die 4711-Regel: vier Sekunden einatmen, sieben Sekunden ausatmen und das elf Minuten lang. Dadurch dass die Ausatmung länger ist als die Einatmung, wird der Herzschlag verlangsamt, der Blutdruck sinkt und ein Gefühl der Entspannung tritt ein. Atemtherapeuten empfehlen auch die 365er-Methode: Bei ihr wird dreimal täglich der Tagesablauf unterbrochen, um sechsmal pro Minute für eine Gesamtdauer von fünf Minuten ein- und auszuatmen. Um wirksam zu sein und Stress aktiv entgegenzuwirken, sollte bei allen Übungen tief in den Bauch eingeatmet werden.
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Besser langsam

Eine bewusste Atmung kann Krankheiten positiv beeinflussen und Medikamente überflüssig machen.

Astrid Froese sprach mit Thomas Loew, Professor für Psychosomatik


Securvital: Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit den Zusammenhängen zwischen Körper, Psyche und Atmung. Mittlerweile zeigen immer mehr Studien, dass sich körperliche Krankheiten durch bewusste Atmung beeinflussen lassen. Wie kann beispielsweise hoher Blutdruck behandelt werden?

Thomas Loew: Die Blutdrucksenkung über eine entschleunigte Atmung funktioniert genauso gut wie die mit Tabletten, das ist erwiesen. Das heißt nicht, dass man grundsätzlich auf Tabletten und die Einnahme von Medikamenten verzichten kann. Aber die Dosis kann reduziert werden. Entschleunigtes Atmen simuliert das entspannte Atmen im Schlaf. Das Herz schlägt ruhiger und es muss weniger stark pumpen, der Blutdruck sinkt. Langsames Atmen verbessert nachweislich die Herzleistung.

Securvital: Und Asthma bronchiale?

Loew: Auch da gibt es Studien, dass wir den Atemwegswiderstand durch entschleunigtes Atmen auf ein gesünderes Maß bringen können. Entschleunigtes Atmen funktioniert ganz ähnlich wie die häufig empfohlene Lippenbremse bei Asthma oder COPD zur Entspannung der Atemmuskulatur. Eine tiefe Bauchatmung wirkt sich bei Asthmapatienten nachweislich positiv auf ihre Lebensqualität und auf ihre psychische Verfassung aus. Sie sehen es übrigens auch bei Rauchern, die es ja leider noch gibt: Raucher sagen, es würde sie entspannen zu rauchen, obwohl Nikotin nachweislich anregend wirkt. Es ist die entschleunigte Ausatmung, die entspannend wirkt, nicht die Zigarette.

Securvital: Warum atmen viele Menschen nicht optimal?

Loew: Da kommen verschiedene Punkte zusammen, zum Beispiel Übergewicht, Bewegungsmangel oder Stress. Sie alle wirken sich auf die Atmung aus, vor allem Belastung und Stress. Sie machen die Atmung flach und schnell. Unsere Atmung ist immer ein Spiegel des körperlichen und psychischen Zustands.

Securvital: Lässt sich eine langsamere und tiefe Atmung trainieren?

Loew: Auf jeden Fall. Ich muss nur damit anfangen und es üben. Wichtig ist, dass die Ausatmung länger ist als die Einatmung. Ein guter Takt ist 4 Sekunden ein- und 6 Sekunden ausatmen. Entweder bekomme ich das allein hin durch Konzentration und Mitzählen. Und wenn ich es nicht hinbekomme, dann gibt es technische Möglichkeiten, verschiedene Formen von Atemtaktern. Auf meiner Webseite biete ich dazu Lösungen an: eine akustische mit dem Wechsel zwischen einem Wellenrauschen als Zeichen fürs Ausatmen und einem Regentropfen fürs Einatmen. Oder eine optische, ein kleiner Youtube-Film mit dem Wechsel zwischen Grün und Blau. Das Grün symbolisiert dabei Gesundheit und Natur, das Blau Entspannung, Himmel und Weite. Und drittens gibt es eine haptische Alternative, den Atemtakter nicht größer als eine Streichholzschachtel, den man in die Hosentasche stecken und zur Beruhigung nutzen kann. Mittels Vibration gibt er genaue Signale zur Steuerung der Atmung.

Securvital: Empfehlen Sie Atem-Apps?

Loew: Es gibt natürlich Apps, aber das Handy ist dafür weniger geeignet. Wenn es vibriert, kommen meist Mails oder SMS rein Nachrichten, die häufig Stress erzeugen. Deshalb empfehle ich eher andere Lösungen, zum Beispiel eine mit Naturtönen. Akustische Lösungen haben zudem den Vorteil, dass ich dabei die Augen schließen kann. Außerdem ist bei den Apps der Akku ruckzuck leer. Professionelle Atemtakter sind die bessere Lösung. Sie sind auch ein ideales Geschenk für Menschen, die schon alles haben.

Securvital: Nicht nur körperliche Krankheiten, sondern auch Ängste, Panikattacken oder Schlafstörungen können durch bewusstes Atmen positiv beeinflusst werden. Was geschieht dabei?

Loew: Man kann die Psychologie nicht abtrennen von der Biologie, der Mensch ist immer beides. Die entschleunigte Atmung beeinflusst in erster Linie biologische Prozesse, der psychologische Effekt ist ein sekundärer Aspekt. Bei Panikattacken zum Beispiel kann die entschleunigte Atmung den zu niedrigen Kohlendioxid-Spiegel im Blut positiv beeinflussen und damit die Panik vermindern. Leider haben wir in Deutschland grundsätzlich das Problem, dass Entspannungsmethoden unterschätzt werden und auch die Forschung im komplementären Bereich zu kurz kommt. Da fließen kaum Forschungsmittel rein.


Prof. Dr. Thomas Loew
ist Chefarzt der psychosomatischen Abteilung am Universitätsklinikum Regensburg sowie der psychosomatischen Station der Klinik Donaustauf. Er ist Autor des Buches »Langsamer atmen. Besser leben«.

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Quelle:
Securvital 3/22 - Juli-September 2022, Seite 6-7 und 11
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen
Herausgeber: SECURVITA Gesellschaft zur Entwicklung alternativer Versicherungskonzepte mbH
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Internet: www.securvita.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 8. Juli 2022

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