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GESCHICHTE/628: Johanna Hellman, eine der ersten Chirurginnen in Deutschland (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 10/2018

Portrait
Kliniken von außen "neidvoll angestarrt"

von Dr. Jutta von Campenhausen


Als Chirurgin hatte Johanna Hellmann es schwer genug, als Jüdin wurde die Ausübung ihres Berufes in Deutschland in den 1930er Jahren dann unmöglich. Das Leben einer außergewöhnlichen Ärztin.


Im Leo Baeck Archiv in New York ist das zweite Blatt der Kieler neusten Nachrichten vom Sonntag, dem 2. November 1924, dem Schleswig-Holsteinischen Universitätstag, sorgfältig archiviert. Fünf gezeichnete Köpfe zieren die Aufmacherseite: Neben Wedemeyer, dem Rektor der Universität Kiel, dem Vorsitzenden der Universitätsgesellschaft Schifferer-Charlottenhof und zwei weiteren Würdenträgern prangt Geheimrat Professor Dr. Anschütz als erster Vorsitzender der Studentenhilfe auf dem Blatt. Um seinen Kopf ist mit grünem Buntstift ein Herz gemalt, und an der Seite steht: "Um Rückgabe wird gebeten, da ich doch nicht meines Willy einziges Bild, das ich besitze, verschenken kann!!!!"

Die Notiz stammt von Johanna Hellmann (1890-1981), einer der ersten Chirurginnen in Deutschland. Sie wollte früh Medizin studieren, was schon daran zu scheitern drohte, dass in ihrer Heimat Nürnberg Mädchen kein Abitur machen konnten. Sie wechselte deshalb mit Hilfe ihrer beiden fortschrittlichen und kinderlosen Onkel nach München, wo sie vier Jahre lang Sickenbergers Institut besuchte und 1909 schließlich - an einer Jungenschule - das Abitur ablegen durfte. Anschließend studierte Johanna in Berlin und Kiel. Der Anatom Hans Virchow unterrichtete Männer und Frauen gemeinsam, nur in den Sektionssaal durften die Studentinnen nicht. Virchow gab Hellmann deshalb praktisch private Einzelstunden.

1911 zog Johanna Hellmann nach Kiel, wo ihre "Laufbahn ihren Gesamtprägel bekommen sollte." Noch in den vorklinischen Semestern besuchte sie aus Interesse eine Vorlesung von Ernst Wilhelm Baum über Frakturen und Luxationen in der Chirurgischen Klinik und beschloss, Chirurgin zu werden. Schon als Mädchen hatte Johanna ihre Puppen operiert und die Pappmachékörper gewässert, um besser schneiden zu können. Ihre Liebe zur Chirurgie entdeckte die junge Frau aber erst als Studentin in Kiel, wo Wilhelm Anschütz die Chirurgie leitete. Sie erklärte Anschütz, dass sie Chirurgin werden wolle. Während ein Assistent sie mit einer sarkastischen Bemerkung zurückwies, verstand der Direktor der chirurgischen Klinik, wie ernst es der jungen Dame war. Nachdem sie nicht aufhörte, immer und immer wieder bei ihm anzuklopfen, gab er ihr widerstrebend eine Chance, nicht ohne ihr zu erklären, dass ein weiblicher Chirurg nicht den Hauch einer Chance habe.

Eine Bedingung für ihre Aufnahme unter den Chirurgen war, dass die ausgebildete Ärztin in der Chirurgie zunächst als Krankenschwester arbeiten musste. Über diese Erfahrung schreibt Hellmann: "Wenn ich die Ausbildung von Ärzten planen müsste, würde ich eine solche Arbeit verpflichtend in das Grundlagenprogramm einbauen, damit alle Mediziner ein besseres Verständnis nicht nur für die Krankheit, sondern auch für die kranke Person entwickeln."

Hellmann dichtete und zeichnete gern. In einem Heft finden sich verschiedene handschriftliche Gedichte für und über Kollegen, garniert mit eigenen Federzeichnungen. Offenbar hat sie Weihnachten 1912 jedem Kieler Universitäts-Chirurgen mit einem humorigen Gedicht ein Geschenk überreicht. Auch über eine sommerliche Klinikerfahrt dichtet sie und zeichnet das Bild der dank "Schifferer Bier" feuchtfröhlichen Gesellschaft auf einem Dampfer der "Neuen Dampfer Compagnie" (NDC) in Kiel.

Als mit Ausbruch des 1. Weltkrieges die meisten Assistenzärzte zum Kriegsdienst einberufen wurden, blieb Hellman "als pièce de résistance" in der Klinik. Sie leitete die Verteilung der Verwundeten am Kieler Bahnhof, arbeitete auf verschiedenen Stationen und assistierte dem Chef oder dem jeweiligen Oberarzt bei allen Operationen. So erhielt sie eine erstklassige und breite Ausbildung in Chirurgie, Urologie und Orthopädie. Später vertrat sie den Chef der Kieler Röntgenabteilung. In ihren Ferien vertrat sie Klinikchefs in verschiedenen Häusern, eine Position, die für Frauen damals fast noch ungewöhnlicher war als der Beruf der Chirurgin. In dieser Zeit veröffentlichte sie mehrere wissenschaftliche Arbeiten, vornehmlich er die Strahlentherapie bei Mammakarzinomen.

1920 wurde Johanna Hellmann als dritte Frau überhaupt Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. (Nach ihr folgten in den nächsten zehn Jahren 15 Chirurginnen. 1977 waren unter den 2.600 Mitglieder 42 Frauen.) Gleichzeitig trat sie auch der Vereinigung Nordwestdeutscher Chirurgen bei (damals reichte ihr Einzugsgebiet bis Mecklenburg, die Nordostdeutschen Chirurgen saßen in Pommern, West- und Ostpreußen). Die Chirurgenkongresse besuchte sie treu. Der Hamburger Chirurg Ernst Roedelius schreibt über die Vereinigung Nordwestdeutscher Chirurgen: "Es folgten die traditionellen Tischreden, jedoch nur selten eine Damenrede, da ja meist keine Damen anwesend waren, mit einer Ausnahme: Zu unserer Vereinigung gehörte die seltene Erscheinung einer Chirurgin, Fräulein Hellmann, ein treues Mitglied, keine Tagung auslassend. Bisweilen ist sie auch bei Tisch offiziell begrüßt worden."

Dass Sie 1928 auch am Kongress der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) teilnahm, lässt sich der Anwesenheitsliste entnehmen, in der sie als einzige Frau verzeichnet ist. Sie wird deshalb auch als eine der ersten Urologinnen Deutschlands geführt. Sich selbst bezeichnete sie aber immer als Chirurgin.

Johanna Hellmann arbeitete 15 Jahre lang als Assistenzärztin an der Seite von Anschütz an der chirurgischen Universitätsklinik Kiel und ging 1929 wieder nach Berlin, wo sie drei Jahre lang bei Sauerbruch an der Charité operierte. Außerdem betrieb sie eine Privatpraxis als Fachärztin für Chirurgie, Urologie und Röntgenologie. Gleichzeitig bewarb Hellmann sich auf verschiedene Chefarztstellen.

1932 - 1938 wurde Hellmann nach einem für sie enttäuschenden Intermezzo an einer Privatfrauenklinik schließlich Chefärztin des Krankenhauses der Heilsarmee in Berlin und damit eine internationale Seltenheit. Sie baute das damalige Wöchnerinnenheim in ein allgemeines Krankenhaus mit chirurgischer Abteilung um. Die Aufgabe war anspruchsvoll und befriedigend, zumal die Zusammenarbeit mit dem gesamten Personal "wunderbar" war, weil alle vom gleichen Geist, dem Willen zu helfen, beseelt gewesen seien. Hellmann war oben angekommen; doch das Glück hielt nur kurz.

Als Jüdin wurde ihr am 1.7.1933 die Kassenzulassung entzogen. Dagegen legte sie zwar Beschwerde ein, doch wurde die am 25.9.1933 vom Reichsarbeitsministerium abgewiesen. Mit Kriegsbeginn emigrierte Hellmann über Dänemark nach Schweden. Von dort wollte sie weiter in die USA, blieb aber schließlich. Sie schreibt: "1938 musste ich auf Grund der diskriminierenden Nazi-Gesetze die Stellung aufgeben. Ich war gezwungen, meine Emigration vorzubereiten. Zuvor muß ich aber noch ein paar Worte über meine beiden Chefs - Geheimrat Anschütz und Geheimrat Sauerbruch - und die Assistenten der Kliniken sagen. Sämtlichen bin ich zu unerhörtem Dank verpflichtet. Wenn sie mich auch anfangs begreiflicherweise als ein gewisses Kuriosum ansahen, da ja die Zeit meiner Ausbildung in die Jahre 1912 bis etwa 1925 fiel und es ungewöhnlich war, daß eine Frau eine Assistentenstelle an einer chirurgischen Universitätsklinik innehaben sollte, so waren doch sämtliche bestrebt, mich in jeder Weise zu fördern und zu unterstützen, und durch all die Jahre hindurch hat mich echte Freundschaft mit meinen beiden Chefs und vielen der Assistenten verbunden." Hellmanns Leben als Flüchtling in Schweden war schwierig. Trotz zahlreicher Empfehlungsschreiben prominenter deutscher Chirurgen durfte sie nicht ärztlich arbeiten. Sie war mittel- und arbeitslos. Im Rückblick beschreibt sie, wie sie die großen Krankenhäuser in Stockholm "neidvoll von außen" anstarrte. Sechs Jahre dauerte es, bis die chirurgische Chefärztin schließlich eine Assistentenstelle an der chirurgischen Klinik des Lazaretts Eskilstuna erhielt. Bald darauf durfte sie auch Emigranten behandeln. Erst 1947 wurde sie als Chirurgin in Schweden zugelassen, doch auch das nur mit Einschränkung: Sie durfte nur in Privatkrankenhäusern praktizieren. Trotzdem blieb Johanna Hellmann in Schweden. Sie empfing bis zu ihrem 90. Lebensjahr Patienten in ihrem Haus in Lidingö, obwohl sie längst nicht mehr operieren konnte. Ihr guter diagnostischer Blick, ihr kluger Rat und ihr Einfühlungsvermögen machten sie zu einer hoch geschätzten Ärztin.

Sie starb 1981. Die wenigen persönlichen Unterlagen, die sie auf die Flucht aus Deutschland mitgenommen hatte, erhielt das 1955 von Hannah Arendt, Gershom Scholem u. a. gegründete Leo Baeck Institut, das die Geschichte und Kultur deutschsprachiger Juden bewahren will. In Hellmanns Archivmappe befinden sich ihr Studienbuch, zwei Fotos von Wilhelm Anschütz, die Kieler Universitätszeitung, ihre Gedichte und einige Briefe, darunter auch ein kurzer Briefwechsel mit Liese Meitner.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Auditorium beim 55. Kongress der DGCH in Berlin. Wenig links der Bildmitte sitzt als einzige Dame unter Herren die Chirurgin Johanna Hellmann.
- Johanna Hellmann operiert während des ersten Weltkriegs.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 10/2018 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2018/201810/h18104a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
71. Jahrgang, Oktober 2018, Seite 26 - 27
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. November 2018

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