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GESCHICHTE/632: Kassenärztliche Vereinigung in Schleswig-Holstein (1) - Die Anfänge (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 7-8/2019

Serie
Anfänge der KV in Schleswig-Holstein

von Karl-Werner Ratschko


Ärzte als unorganisierte Einzelkämpfer, die Dumpingpreisen von Krankenkassen ausgeliefert waren: Diese Situation gab es vor Gründung der KV auch in Schleswig-Holstein.


Nicht nur Besucher sondern auch alteingesessene Bad Segeberger sind erstaunt, wenn sie erfahren, dass Ärztekammer, Kassenärztliche Vereinigung und andere schleswig-holsteinische ärztliche Organisationen sich nicht in der Landeshauptstadt oder in einer anderen schleswig-holsteinischen Großstadt, sondern in Bad Segeberg befinden. Wie konnte es kommen, dass sich die schleswig-holsteinische Ärzteschaft für ihre wichtigsten Organisationen weitab von der Landesregierung und anderen schleswig-holsteinischen Verbänden ausgerechnet Bad Segeberg ausgesucht hat? Einige Gründe ließen sich leicht finden. Bad Segeberg liegt günstig zwischen Kiel, Neumünster, Hamburg und Lübeck und verfügt über eine gute Infrastruktur, wie z. B. höhere Schulen, überzeugende Freizeitangebote, die Kreisverwaltung und anderes. Abwägende, kluge Analysen waren jedoch im Jahr 1935 nicht der Grund für die Verlagerung der Ärztekammer und des Provinzialverbands Schleswig-Holstein als Vorläufer der Kassenärztlichen Vereinigung aus Kiel über Neumünster nach Bad Segeberg. Es war der Wechsel in der Leitung der beiden Körperschaften von Frauenarzt Dr. Hans Köhler, Neumünster, zum chirurgischen Chefarzt Dr. Hans Rinne, Bad Segeberg. In Bad Segeberg blieben die ärztlichen Organisationen auch, als nach der NS-Zeit im Juni 1945 der Kieler Arzt Dr. Berthold Rodewald Chef der ärztlichen Einrichtungen wurde. Auch spätere Vorsitzende und Präsidenten aus Lübeck und Kiel änderten nichts mehr an der Ortswahl.

Größe und Mitarbeiterzahl der beiden ärztlichen Körperschaften waren allerdings Mitte der dreißiger Jahre noch nicht beeindruckend, sodass die Geschäftsstelle in der am Segeberger See gelegenen Villa im Klosterkamp 12, einer Seitenstraße der nach Norden führenden Kurhausstraße, ausreichten. Auch als die Körperschaften in der Nachkriegszeit größer wurden, blieben sie dem Nordosten Bad Segebergs treu. Die Kassenärztliche Vereinigung und die Ärztekammer fanden 1965 nach einer Interimszeit in der Eutiner Straße 3 Grundstücke in der Bismarckallee am Rande des Kurparks in unmittelbarer Nachbarschaft zum Otto-Flath-Haus.

Die Vorgeschichte von Kassenärztlicher Vereinigung und Ärztekammer ist eng verbunden. Beide waren deswegen bis weit in die Nachkriegszeit auch für die Ärzte kaum auseinanderzuhalten. Am Kriegsende waren die beiden Organisationen Provinzverwaltungen der Reichsärztekammer und Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands (KVD) für Schleswig-Holstein. Nach 1945 wurde jedoch auf Veranlassung der britischen Militärregierung nur die Ärztekammer aktiv, da dringender Bedarf für ihre Tätigkeit bestand. Die Verwaltungsstelle der KVD wurde damals einfach in die Ärztekammer eingegliedert. Folgerichtig gab es für beide eine gemeinsame Leitung. Die Ärztekammer hatte keine eigenen Mitarbeiter, sondern die Kassenärztliche Vereinigung stellte Personal, Räume und Infrastruktur gegen Entschädigung zur Verfügung. Die KV war gegenüber der Ärztekammer die weitaus größere und finanzstärkere Einrichtung. Die Ärztekammer hatte übergeordnete berufspolitische Funktionen für die Gesamtheit des Berufsstandes in Praxis, Krankenhaus und öffentlichem Gesundheitsdienst wahrzunehmen, also Aufgaben, die während der NS-Zeit zentral von der Reichsärztekammer bearbeitet wurden und die nicht unbedingt immer direkte Auswirkungen auf die tägliche Arbeit der Ärztinnen und Ärzte hatten. Insofern bestand damals kein großer Personalbedarf.

Dagegen war die Kassenärztliche Vereinigung ganz praktisch für das tägliche Brot, die Honorierung der niedergelassenen Kassenärzte zuständig. Kassenärztliche Vereinigungen bestehen heute aufgrund von Regelungen im Sozialgesetzbuch (SGB V), während Ärztekammern schon seit ihrer Gründung mit Ausnahme der NS-Zeit Länderangelegenheit waren. Allerdings verschwammen damals die Grenzen zwischen Kammer und KV bei den Ärzten und in der öffentlichen Wahrnehmung.

Als dritte große ärztliche Organisation ist die Privatärztliche Verrechnungsstelle Schleswig-Holstein/Hamburg ("Die PVS") zu nennen. Die Honorierung der privatärztlichen Tätigkeiten aller Arztgruppen, also der niedergelassenen Ärzte wie auch der Krankenhausärzte, war weder Angelegenheit der Kammer noch der KV. Sie erfolgt durch direkte Abrechnung der Ärzte mit den Privatpatienten oder mit der Hilfe privatärztlicher Abrechnungsstellen, von denen sich die für Schleswig-Holstein wichtigste auch in Bad Segeberg, in der Moltkestraße befindet. Im Gegensatz zu Ärztekammer und Kassenärztlicher Vereinigung sind die Privatärztliche Verrechnungsstelle sowie der im Weiteren noch zu nennende Marburger Bund und die Ärztegenossenschaft Nord keine Körperschaften öffentlichen Rechts. Mit 17 Ärzten als Mitgliedern hat die PVS 1926 als "Ärztliche Verrechnungsstelle Ostholstein e. V." in einer Dachkammer in der Bad Segeberger Keltingstraße begonnen. Begründet wurde sie von Dr. Hans Rinne und Dr. Erwin Reiner. Nach dem Zusammenschluss mit der Flensburger PVS entstand am 1. Januar 1937 die PVS Schleswig-Holstein. Anfang 1938 wurde aus dem Verein eine Verwaltungsstelle der Reichsärztekammer. Stationen der ständig wachsenden Einrichtung waren der Klosterkamp 13, die Eutiner Straße 3 und mit einem Teil des Betriebs das Blunksche Haus in der Moltkestraße 1. Im August 1948 wurde sie, wie damals auch die Kassenärztlichen Vereinigung, aus der Ärztekammer herausgelöst und wieder ein Verein. 1951 wurde ein neu errichtetes Gebäude in der Moltkestraße 1-3 bezogen, in dem damals immerhin schon 75 Mitarbeiter Platz fanden.(1) Das Gebäude wurde zwischen 1951 und 2011 erweitert, renoviert und an die jeweiligen Anforderungen angepasst. 1985 entstand durch Übernahme der Abrechnungsstelle Hamburg die PVS Schleswig-Holstein/Hamburg. Die PVS SH/HH hat heute über 100 Mitarbeiter, Zweigstellen in Hamburg und Bad Doberan und rund 3500 Kunden. Sie zieht pro Jahr ungefähr 1,8 Millionen Arztrechnungen ein.(2)

Der Marburger Bund ist der Berufsverband der angestellten und beamteten Ärztinnen und Ärzte und setzt sich politisch für die Verbesserung der beruflichen Situation der Ärzte ein. Als Ärztegewerkschaft führt er die Tarifverhandlungen für die meist im Krankenhaus tätigen angestellten Ärztinnen und Ärzte. Seine Geschäftsstelle befindet sich ebenfalls im Nordosten Bad Segebergs in der Esmarchstraße in einem Gebäude der Ärztekammer. Im Gegensatz dazu ist die Ärztegenossenschaft Nord ein Zusammenschluss von etwa 1800 niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten. Sie will von staatlichen Reglementierungen unabhängig die Interessenvertretung gegenüber Krankenkassen und Politik wahrnehmen und neue Vertragsmöglichkeiten im Gesundheitswesen nutzen. Ihr Sitz ist im Zentrum Bad Segebergs in der Bahnhofstraße.

Entstehung der Kassenärztlichen Vereinigung

Die angemessene Honorierung ärztlicher Leistungen war schon früher für die freiberuflich tätigen niedergelassenen Ärzte wichtig, auch wenn dieser Aspekt in der Vergangenheit möglichst zurückhaltend in der Öffentlichkeit angesprochen wurde, was Ärztestreiks am Anfang und in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts jedoch nicht ausschloss. Ärztliches Handeln sollte bei den Patienten vorrangig nicht als von wirtschaftlichen Gesichtspunkten der Ärzte bestimmt angesehen werden. Mit der Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen der Ärzteschaft befasste Organisationen entstanden so erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die Ärztegewerkschaft Marburger Bund sogar erst in der Nachkriegszeit 1947/48.(3)

Die Ärzte begannen bereits knapp hundert Jahre früher, Ärztevereine regional zur Wahrnehmung ihrer beruflichen Interessen zu bilden. Ziele waren allgemeine Ordnungsfunktionen innerhalb der Ärzteschaft, ärztliche Fortbildung, Bekämpfung des Kurpfuschertums sowie die Alters- und Hinterbliebenenfürsorge und die angemessene Honorierung ärztlicher Leistungen. In Schleswig-Holstein gab es bereits in der dänischen Zeit einige wenige ärztliche Vereine, z. B. in Altona, Kiel, Schleswig und Süderdithmarschen, aber keinen mit überregionaler Bedeutung für die beiden Herzogtümer. Einer der ersten Ärztevereine in Deutschland wurde am 23. Oktober 1809 in der jedoch erst seit 1937 zu Schleswig-Holstein gehörenden Hansestadt Lübeck gegründet.(4) Für Bad Segeberg gab es seit 1865 den südost-holsteinischen ärztlichen Verein, später den Segeberger Ärzteverein, der nach der NS-Zeit 1945 unter dem Vorsitz von Dr. Erwin Reiner (1888-1953) wieder zum Leben erweckt wurde.

Erst nach der Herauslösung der Herzogtümer aus dem dänischen Gesamtstaat wurde anlässlich einer Versammlung des Vereins baltischer Ärzte in Kiel am 8. Juni 1865 der Verein Schleswig-holsteinischer Ärzte gegründet. In dem Einladungsschreiben wurden u. a. auch die wirtschaftlichen Motive deutlich. Der ärztliche Stand sollte "für die ihm zugemutheten erhöhten Leistungen entsprechend durch Verbesserung seiner materiellen Leistungen entschädigt und durch die seinen Leistungen gebührende Achtung geehrt" werden.(5) Diese berufspolitische Zielvorstellung, hier zunächst für den in Entstehung befindlichen Verein formuliert, galt künftig mehr oder weniger für alle ärztlichen Verbände und Organisationen in Schleswig-Holstein als Leitlinie. Der Verein Schleswig-Holsteinischer Ärzte (künftig kurz: Provinzialverein) wurde für die nördlichste preußische Provinz ein Kristallisationspunkt ärztlicher Berufspolitik mit anfangs 142 Mitgliedern. Später haben etwa drei Viertel der ständig steigenden Zahl praktischer Ärzte der Provinz zum Verein gehört, ein bei freiwilliger Mitgliedschaft beeindruckender Organisationsgrad.(6) 1890 gab es in Schleswig-Holstein 17 selbstständige regionale Vereine, 1925 waren es 22. Sie hatten 1890 in der Regel zwischen zehn und zwanzig Mitglieder, der Ärzteverein in Altona und die drei Kieler Vereine ragten mit einer deutlich höheren Mitgliederzahl heraus. Die Ärztevereine waren später meistens auch die organisatorische Grundlage für die Abrechnung mit den gesetzlichen Krankenkassen.

In der Zeit der Entstehung der Bismarck'schen Sozialgesetzgebung mit Errichtung der gesetzlichen Krankenversicherung (1883), der Unfall- (1884), Invaliditäts- (1889) und Rentenversicherung (1891)(7) erwies es sich besonders in wirtschaftlicher Hinsicht als nachteilig, dass die freiwillige Mitgliedschaft zu ärztlichen Vereinen nicht alle Ärztinnen und Ärzte erfasste. Eine Lösung wurde in Preußen 1887 in der Schaffung von Provinzärztekammern als Körperschaften öffentlichen Rechts gesehen. Die Kammern sollten sich mit allen Fragen und Angelegenheiten des ärztlichen Berufes sowie der öffentlichen Gesundheitspflege beschäftigen. Zu ihren Aufgaben sollte aber auch gehören, für die Wahrung elementarer wirtschaftlicher Belange am Anfang einer jeden Wahlperiode Ausschüsse einzusetzen, die die zwischen Ärzten und Krankenkassen abgeschlossenen Verträge zu überwachen hatten.(8)

Die Eingaben und Beschlüsse der Ärztetage und -vereine für die Erhaltung der Freiheit des Ärztestandes scheiterten jedoch regelmäßig auf Reichsebene an dem "seit Bismarcks Abgang ungehemmten Sozialisierungsdrang des Reichsregierung und des Reichstags", wie es der Vorsitzende des Vereins Schleswig-Holsteiner Ärzte, Dr. Wilhelm Henop, in seinem Bericht über die Jahre 1865 bis 1925 seines Vereins feststellte.(9) Die Spannungen zwischen den Krankenkassen und der Ärzteschaft wurden größer, als 1892 in einer Novelle zum Krankenversicherungsgesetz die Krankenkassen das Recht erhielten, über die Einstellung einzelner Ärzte allein zu entscheiden. Damit hatten sie die Definitionsmacht über die Inhalte der Verträge mit den einzelnen Ärzten und die Möglichkeit, die Honorare immer weiter zu drücken. Die hieraus entstehende starke Stellung der Krankenkassen und die schwache Stellung des einzelnen Arztes führten zu einer über etwa zwei Jahrzehnte dauernden heftigen Konfrontation zwischen der Ärzteschaft und den Krankenkassen.(10) Auf Reichsebene war die Gründung des "Verbandes der Ärzte Deutschlands zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen" die Folge, des "Leipziger Verbandes", der ab 1923 Hartmannbund genannt wurde, am 13. September 1900 durch Dr. Hermann Hartmann (1863-1923). Dazu kam, nicht zum Vorteil der politischen Situation der Ärzteschaft, auf Reichsebene ein sich zuspitzender Konflikt zwischen dem mehr den ärztlichen Standesproblemen zugewandten Ärztevereinsbund und dem auf die wirtschaftlichen Interessen der Ärzte verpflichteten Leipziger Verband.

Schleswig-Holstein war da schon weiter. Eine solche Entwicklung gab es schon fast ein Jahrzehnt früher zwischen dem Verein Schleswig-Holsteinischer Ärzte und dem 1890 zunächst von einigen Ärztevereinen gegründeten "Cartell-Verband Schleswiger Ärzte-Vereine".(11) Ein Beitrag in Heft 12 der "Mittheilungen des Vereins schleswig-holsteinischer Ärzte" im Dezember 1890 zeigte dies sehr deutlich. Erstmalig wird auf eine drohende Spaltung in der schleswig-holsteinischen Ärzteschaft hingewiesen. Unter dem Titel "Kleine beachtenswerte Ereignisse" findet sich folgender Bericht: "Im Herzogthum Schleswig will es ein Neues werden! Es hat sich daselbst ein 'Cartell-Verband Schleswiger-Ärzte-Vereine' gebildet, dem bis jetzt der Angler, der Flensburger und der Nordost-Schleswigsche Verein angehören."(12) Zu den Aufgaben des neuen Verbandes sollten insbesondere die Wahrnehmung und Förderung der materiellen ärztlichen Interessen wie Aufbesserung des Honorars, das Verhältnis zu den Krankenkassen und die Leitung des Existenzkampfes in standeswürdige Bahnen gehören. Hierzu wollte man Material für Verhandlungen des Provinzvereins und der Ärztekammer vorbereiten. Ganz offenkundig hatte der Verein Schleswig-Holsteinischer Ärzte die durch die Krankenkassengesetzgebung des Reiches größer werdenden existenziellen Sorgen der praktizierenden Ärzte in der Provinz nicht wahrgenommen. Der Unwille der am Patienten tätigen Ärzte, die durch die weitgehend ungehinderte Machtausübung der regionalen Krankenkassen gegeneinander ausgespielt wurden, schaffte sich durch Bildung einer auf der Struktur der Regionalvereine beruhenden Parallelorganisation Raum.

In Schleswig-Holstein kann der Cartell-Verband als Keimzelle unserer heutigen KVSH angesehen werden, auch wenn noch ziemlich genau 40 Jahre bis zu ihrer Gründung durch eine Notverordnung des Reichspräsidenten Hindenburg am 8. Dezember 1931 vergehen sollten. Weitere Vereine schlossen sich in den Folgejahren dem Cartell-Verband an. Bezweckt wurde die Abwehr der Übergriffe der Krankenkassen, im Ergebnis richtete sich die Aggression der ärztlichen Basis aber bald auch gegen den Provinzialverein. Der Streit eskalierte, insbesondere die vom Cartell-Verband beklagte starke Repräsentanz von beamteten Ärzten in den Leitungsstrukturen des Provinzialvereins und der Ärztekammer wurde immer wieder kritisiert. Ende 1899 gelang dem Cartell-Verband und dem Verein schleswig-holsteinischer Ärzte jedoch in Erkenntnis der Tatsache, dass der Gegensatz zwischen beiden schleswig-holsteinischen Verbänden ein für die Ärzteschaft kontraproduktiver Zustand sei, mit großer Mehrheit eine Kommission einzusetzen, die eine Integration des Cartell-Verbandes in den Provinzialverein durch eine Neuorganisation vorbereiten sollte. Auf Reichsebene gelang es Hartmann mit dem Leipziger Verband, mit dem Mittel der "Cavete"-Liste"(13) wirksam die Kassen an der Nutzung des ihnen 1892 eingeräumten Rechtes zu hindern. Die meisten Ärzte folgten dem Ruf und schlossen mit so betroffenen Kassen keine Verträge ab. Ein wirksames Mittel, die wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen, war gefunden.(14)

Die Einigung zwischen dem Provinzialverein und dem Cartellverband, die hier im Einzelnen nicht dargestellt werden soll, erweiterte die politischen Handlungsmöglichkeiten der Ärzteschaft: Die von der schleswig-holsteinischen Ärztekammer auch 1903 wieder eingerichteten zwei Vertragskommissionen erstellten für die Ärzte verbindliche Richtlinien. Nicht die einzelnen Ärzte, die von den Krankenkassen gegeneinander ausgespielt werden konnten, sondern ärztliche Kommissionen sollten die Beziehungen der Ärzte zu den Krankenkassen regeln, wobei besonders die ungenügende Honorierung und die nicht bestehende freie Arztwahl im Vordergrund stehen sollten. Problematisch war dabei, dass die Richtlinien von den einzelnen Ärzten dann nicht beachtet wurden, wenn sie für sich Nachteile befürchteten. Um ein solches Verhalten möglichst zu verhindern, wurden vom Leipziger Verband "Schutz- und Trutzbündnisse" gebildet. Die beteiligten Ärzte mussten ein Revers unterzeichnen und sich ehrenwörtlich zu solidarischem Verhalten verpflichten. Der Druck der regionalen Ärztevereine auf die Ärzte zur Unterzeichnung solcher Revers war erheblich. War ein solcher "Ehrenwortschein" unterschrieben, konnte - so war die damals vorherrschende, aber rechtlich unzutreffende Meinung - der betreffende Arzt ehrengerichtlich verfolgt werden. In den preußischen Provinzen beteiligten sich etwa 30 bis 80 Prozent an der Aktion.(15) Ob es in Schleswig-Holstein diesbezüglich Ehrengerichtsverfahren gegeben hat, ist bisher noch nicht untersucht worden.

"Die Vorgeschichte von Kassenärztlicher Vereinigung und Ärztekammer ist eng verbunden. Beide waren deswegen bis weit in die Nachkriegszeit auch für die Ärzte kaum auseinander zu halten."

Die Zusammenfassung der Zweige der Sozialversicherung in einer Reichsversicherungsordnung vor dem Ersten Weltkrieg sah zur Enttäuschung der organisierten Ärzteschaft weder die Einführung der freien Arztwahl noch die Einzelleistungshonorierung noch den Abschluss von Kollektivverträgen vor. Ständig wurde seitens der Krankenkassen durch den Abschluss von Verträgen mit einzelnen Ärzten eine Art "Honorardumping" betrieben. Streiks drohten, Kassenverträge wurden gekündigt, der Leipziger Verband hatte bereits einen Streikfonds eingerichtet. Einen Tag vor Weihnachten 1913 gelang es der Reichsregierung gerade noch rechtzeitig vor dem Inkrafttreten der Reichsversicherungsordnung (RVO) am 1. Januar 1914, eine Einigung zwischen den Kontrahenten im sogenannten "Berliner Abkommen" herbeizuführen. Durch die Übergabe der Zulassungsautonomie der Kassen in paritätisch besetzte Vertrags- und Registerausschüsse wurde der erste Schritt zu einer Zusammenarbeit zwischen Kassen und Ärzten vollzogen, mit dem die freie Arztwahl und Kollektivverträge später möglich wurden. Mit dem Berliner Abkommen kam es zu einer entscheidenden Wende für die Ärzteschaft, mit der das Ringen um Selbstverwaltung und Berufsautonomie auch mithilfe des Staates einen vorläufigen Abschluss fand.(16)

Schon vorher, am 25. März 1913, erfolgte in Schleswig-Holstein die Gründung eines Zweckverbandes der kassenärztlichen Vereinigungen als Untergliederungen des Hartmannbundes. Dieser Termin kann als Gründungsdatum des Vorläufers unserer heutigen Kassenärztlichen Vereinigung angesehen werden. 1918/19 wurden seine Aufgaben mit den beiden Vertragskommissionen der Ärztekammer zunächst durch den Kieler niedergelassenen Arzt Sanitätsrat Dr. Mose, dann hauptamtlich durch Oberstabsarzt a. D. Dr. Karl Hüne (1871-1960) auf Betreiben des Kieler Sanitätsrats Dr. Julius Weisner im Kieler Ärztebüro koordiniert. Der ab 1923 als Provinzialverband Schleswig-Holstein des Hartmannbundes bezeichnete Verband blieb jedoch nach wie vor ein privater Verein.

Im Ergebnis gab es jedoch weiterhin ein kleinteilig funktionierendes Nebeneinander einer Vielzahl ärztlicher Strukturen, Abrechnungsstellen und regionaler gesetzlicher Krankenkassen, die ihrerseits auch noch in Orts-, Betriebs-, Innungs- und Landwirtschaftliche Krankenkassen sowie Ersatzkassen und besondere Kostenträger aufgeteilt waren. Die Abrechnung mit den gesetzlichen Krankenkassen erfolgte durch 21 auf Kreisebene bestehende Kassenärztliche Vereinigungen mit eigenen Verrechnungsstellen.(17)

Die Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation in Deutschland durch die Weltwirtschaftskrise ab 1929 führte zu einer auch den Beruf der Ärzte betreffenden Notverordnung des Reichspräsidenten Hindenburg. Am 8. Dezember 1931 wurden offiziell Kassenärztliche Vereinigungen und Spitzenverbände auf Landes- und Reichsebene geschaffen. Die Verordnung beruhte nach einer entsprechenden Beschlussfassung des Deutschen Ärztetages 1931 in Köln auf einer Einigung zwischen den Spitzenverbänden der Ärzteschaft und den gesetzlichen Krankenkassen. Im Wesentlichen wurde die Einführung einer Kopfpauschale, ein Regelbetrag für Arzneimittel, eine Regelung zur Eingrenzung eines Übermaßes an Krankschreibungen sowie zur Schaffung besserer Aussichten für den ärztlichen Nachwuchs eine Senkung der Verhältniszahl von Arzt zu Versicherten vereinbart. Die Abrechnungen mit den regionalen gesetzlichen Krankenkassen erfolgte zwar weiterhin durch die auf Kreisebene bestehenden Kassenärztlichen Vereinigungen,(18) nun aber im Rahmen von zwischen Spitzenverbänden und Ärzten abgeschlossenen Mantelverträgen.

Die Provinzstelle Schleswig-Holstein der KVD in Bad Segeberg

Im Hinblick auf die Ereignisse nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten war die Einigung 1931 zwischen Ärzteschaft und gesetzlichen Krankenkassen gerade noch rechtzeitig erfolgt. Es gab wegen der einvernehmlichen Regelung nach fünfzigjährigem Kampf für den "Reichskommissar der ärztlichen Spitzenverbände", den späteren "Reichsärzteführer" Dr. med. Gerhard Wagner keinen vernünftigen Anlass zu grundsätzlichen Änderungen. So kam es durch die Verordnung des Reichsarbeitsministers vom 2. August 1933 zu verkraftbaren neuen Vorschriften. Das war zum einen die Gründung einer Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands (KVD) als Körperschaft des öffentlichen Rechts,(19) die Zulassung von Ärzten zur Kassenpraxis allein durch die Ärzteschaft und die Verteilung der in einem Gesamthonorar an die KVD gezahlten Kopfpauschale unter den Ärzten nach einem den Leistungen entsprechenden Punktesystem.(20) Die Aufgaben und Rechte der bis dahin auf privatrechtlicher Grundlage bestehenden kassenärztlichen Vereinigungen wurden nunmehr von der KVD wahrgenommen. Aus Einrichtungen beruflicher Selbstverwaltung waren staatliche Aufsichts- und Kontrollorgane geworden.(21) In Schleswig-Holstein entstand aus dem Ärztlichen Provinzialverband des Hartmannbundes im August 1933 eine Provinzstelle Schleswig-Holstein der KVD. Amtsleiter wurde der Gauobmann des schleswig-holsteinischen Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes (NSDÄB) Dr. med. Hans Köhler (1878-1961), Neumünster. Für die im Lande niedergelassenen Ärzte änderte sich durch diese organisatorischen Veränderungen wenig, da die Abrechnungsstellen blieben und auch die Umstellung auf Bezirksstellen 1934 nicht zu nennenswerten Belastungen führte. Das Büro des bisherigen Provinzialverbandes wurde am 28. August 1933 aus Kiel nach Neumünster verlegt. In Kiel blieben in der Caprivistraße 24 noch für kurze Zeit die Ärztekammer, die Pensionskasse der Ärzte sowie die regional zuständige Bezirksstelle Kiel der Kassenärztlichen Vereinigung.(22)


Literatur beim Verfasser
Dr. Dr. phil. Karl-Werner Ratschko, Bad Segeberg

Zweiter Teil: September


Infos

- Nach 1945 wurde auf Veranlassung der britischen Militärregierung nur die Ärztekammer aktiv, da dringender Bedarf für ihre Tätigkeit bestand. Die Verwaltungsstelle der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands (KVD) wurde damals in die Ärztekammer eingegliedert.

- Bad Segeberg wurde zum Standort ärztlicher Organisationen: Neben Ärztekammer und KV siedelten sich hier auch die PVS, der Marburger Bund und die Ärztegenossenschaft Nord an.

- In Schleswig-Holstein kann der Cartell-Verband als Keimzelle der heutigen KVSH angesehen werden, auch wenn noch 40 Jahre bis zu ihrer Gründung durch eine Notverordnung des Reichspräsidenten Hindenburg am 8. Dezember 1931 vergehen sollten. Weitere Vereine schlossen sich in den Folgejahren dem Cartell-Verband an. Bezweckt wurde die Abwehr der Übergriffe der Krankenkassen.

- Die Zusammenfassung der Zweige der Sozialversicherung in einer Reichsversicherungsordnung vor dem Ersten Weltkrieg sah zur Enttäuschung der organisierten Ärzteschaft weder die Einführung der freien Arztwahl, die Einzelleistungshonorierung noch den Abschluss von Kollektivverträgen vor. Ständig wurde seitens der Krankenkassen durch den Abschluss von Verträgen mit einzelnen Ärzten eine Art "Honorardumping" betrieben. Streiks drohten, Kassenverträge wurden gekündigt, der Leipziger Verband hatte bereits einen Streikfonds eingerichtet.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 7-8/2019 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2019/201907/h19074a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
72. Jahrgang, Juli - August 2019, Seite 28 - 31
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. September 2019

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